Wer zieht denn eigentlich nach Leipzig? Und warum? Sind es wirklich nur die jungen Single-Leute, die nach ihrem Schulabschluss in Wurzen, Jüterbog oder Grimma einfach die Sachen packen und in die Großstadt fliehen, weil selbst in Kleinstädten keine Zukunft mehr zu machen ist? Nein, stellt das Leipziger Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig im neuen Quartalsbericht schon mal trocken fest. Jetzt fliehen auch die jungen Familien in die große Stadt.

Das Wort Flucht benutzen die Statistiker natürlich nicht. Sie sprechen lieber ganz sachlich von Wanderungsgewinnen und Verschiebungen im “Zuwanderungspeak”. Letzteres ist die Spitze bei den jeweiligen Altersjahrgängen, die nach Leipzig ziehen. Über Jahre waren das vor allem die 18-, 19- und 20-Jährigen, die zu Ausbildung und Beruf nach Leipzig zogen. Vorwiegend aus den fünfeinhalb ostdeutschen Bundesländern. 58,4 Prozent Anteil hatten diese Bundesländer in den Jahren 2012 und 2013 an Leipzigs Wanderungsgewinn, ergab eine Befragung von Zuzüglern durch das Umweltforschungszentrum (UFZ). Diese Befragung ist im neuen Quartalsbericht etwas ausführlicher ausgewertet. Empfehlenswert für alle Bürgermeister aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg usw. Aber auch für die jeweiligen Ministerpräsidenten. Hier stehen die Fakten und Gründe, warum nun seit ungefähr zehn Jahren das große Packen und Umziehen im Gange ist, das die ländlichen Räume entvölkert und den Großstädten Bevölkerungsgewinne verschafft.

Wobei das Wort Großstadt vielleicht sogar falsch ist, denn nicht alle Großstädte profitieren von der Entwicklung. Auch nicht im Westen der Republik, wo es den selben Wanderungstrend gibt. Selbst Dresden hat dabei nicht einmal halb so viel Zuspruch wie die ja nun deutlich weniger gut gefütterte Stadt Leipzig, die aber augenscheinlich trotzdem eine wahrnehmbare Rolle als Metropole spielt, Mittelpunkt einer wahrnehmbar dynamischen Region. Da spielen neue Unternehmensansiedlungen eine Rolle, aber vor allem wirkt die kompakte und vielfältige Hochschullandschaft.

Die die noch amtierende sächsische Wissenschaftsministerin Sabine von Schorlemer so gern demontieren möchte.

Da die seltsame Politik der nun zu Ende gehenden schwarz-gelben Regierung in Dresden sachlich und fachlich nicht zu erklären ist, kann man sich nur wünschen, dass die entscheidenden Posten im neuen Kabinett mit Leuten besetzt werden, die wissen, was sie tun. Und die es vor allem für ihr Land tun und nicht für obskure Visionen von “Effizienz”. Das Wort setzen wir hier einfach in Gänsefüßchen, wo es hingehört. Demnächst in einer Mußestunde werden wir uns die Lebenslügen des Neoliberalismus, zu denen die heilige Fahne “Effizienz” gehört, einmal etwas ausführlicher vornehmen.

Die Interpretationsmuster des Neoliberalismus blenden immer eins aus, weil es in seine schönen strammen Gleichungen einfach nicht hineinpasst: das simple menschliche Leben mit seinen Bedürfnissen, Hoffnungen, Ansprüchen. Aus diesem Denksystem ist einfach nicht zu begreifen, dass junge Menschen nicht nur eine gute Bildung und einen hohen Abschluss anstreben, sondern auch eine Umgebung suchen, in der sie ihre Vorstellungen und Träume verwirklichen können. Wie jüngst erst eine Studie des Thünen-Instituts, an der sich auch die Stadt Grimma beteiligte, sehr klar herausgearbeitet hat.Normalerweise gibt es hunderte Studien zu jungen Leuten in Deutschland, die all das längst benannt haben, was die jungen Leute sich wünschen vom Leben. Politiker könnten das durchaus wissen. Aber im neuen Quartalsbericht können sie es noch einmal nachlesen. Die UFZ-Forscher haben nämlich die Leipziger Zuzügler gefragt, warum sie nun ausgerechnet nach Leipzig ziehen.

Die Hitliste geht genau so: Studienplatz, Arbeitsstelle, Partnerschaft, attraktive Stadt. Bei den Zweitgründen tauchen noch ein paar Dinge in der höheren Wertung auf, die dem Bild eine noch bessere Kontur geben: preiswert wohnen können, Pendeln vermeiden, bessere Wohnung. Wobei man hier anmerken muss: Die Befragten konnten aus einer Liste auswählen, die ihnen die UFZ-Forscher vorgegeben haben. Da kreuzt man in der Regel an, was da steht. Manches stand nicht da – wie etwa das bessere Angebot an Kliniken, Ärzten, Einkaufsmöglichkeiten, ÖPNV, Kultur. Jeder weiß das. Denkt man sich so.

Aber die UFZ-Befrager haben sich nicht auf die reinen Ausbildungs-Zuzügler konzentriert, sondern querbeet gefragt und auch die Altersdaten erfasst. Und da taucht die Tatsache auf, die für das Amt für Statistik und Wahlen so wichtig war, dass sie diese schon in den Kurzinformationen vorn im Quartalsbericht betont haben: Der “Zuwanderungspeak” hat sich verschoben von den Anfang 20-Jährigen zu den 24-Jährigen. Das heißt: Es kommen zwar immer noch Tausende junger Leute zur Ausbildung nach Leipzig, aber es kommen mittlerweile noch viel mehr, die mit ihrer Ausbildung zumeist schon fertig sind. Sie haben in der Regel einen Berufsabschluss und kommen der Arbeit wegen nach Leipzig. Denn auch wenn Leipzig nach wie vor – statistisch betrachtet – eine Niedriglohnstadt ist, entstehen hier trotzdem jedes Jahr ein paar Tausend neue Arbeitsstellen.

Die Zahl der sozialversichungspflichtig Beschäftigten in Leipzig stieg von 228.527 im Dezember 2012 auf 236.004 im Dezember 2013. Die Stadt hat also unübersehbar eine Motorfunktion übernommen, auch wenn ihr die nötigen Investitionsmittel dafür seit Jahren vorenthalten werden. Allein 500 Millionen Euro in den letzten fünf Jahren, wenn man nur die vorenthaltenen Mittel bei “Kosten der Unterkunft”, ÖPNV, Kita- und Schulinvestitionen betrachtet. Was natürlich die Frage aufwirft: Wie verkraftet das eine Stadt mit eh schon knappem Haushalt? Wo puffert sie diese Fehlbeträge weg?

Die Antwort lautet wahrscheinlich: Gar nicht. Auch wenn wir sie diesmal nicht mal versuchen können zu beantworten, weil das Finanzdezernat seit September 2013 keine aktuellen Zahlen zu den Stadtfinanzen zugeliefert hat. Die Seite im Quartalsbericht ist voller kleiner Auslassungspunkte.

Und damit eigentlich voller Fragezeichen. Denn Oberbürgermeister Burkhard Jung hat in seinem OB-Wahlkampf alles darauf gesetzt, dass die Steuereinnahmen der Stadt so kräftig ansteigen, dass sie die zurückgehenden Finanzzuweisungen insbesondere des Bundes ausgleichen. Was aber, wenn genau das nicht geschieht und die in Leipzig erwirtschafteten Steuern nicht adäquat wieder in den Stadthaushalt zurückfließen?

Dann rutscht eine eigentlich prosperierende Stadt ganz zwangsläufig in die roten Zahlen. Der in Leipzig erwirtschaftete Überschuss wird anderswo verbraten und die Kommunalpolitik kommt immer öfter in Zwangslagen, in denen dringend notwendige Investitionen nicht mehr möglich sind.

Auch so kann man eine Stadt, die eine wichtige Stabilisierungsfunktion für ganz Mitteldeutschland einnimmt, auf die feine leise Art demolieren. Dabei ist noch jede Menge Puffer in dieser Stadt zum Wachsen.

Mehr dazu morgen an dieser Stelle.

Der Statistische Quartalsbericht II / 2014 ist im Internet unter http://statistik.leipzig.de unter “Veröffentlichungen” einzusehen. Er kann zudem für sieben Euro (bei Versand zuzüglich Versandkosten) im Amt für Statistik und Wahlen erworben werden.

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