Das Wahljahr geht zu Ende. Die Leipziger Statistiker haben auch endlich Zeit gefunden, die diversen Wahlen des Jahres 2014 auszuwerten und in einem Ergebnisband zu versammeln. Ein Thema, das ja mehr als die Hälfte der Leipziger überhaupt nicht interessiert. Sie sind einfach nicht hingegangen zur Wahl. Nicht am 25. Mai, nicht am 31. August und auch nicht am 12. Oktober.

Die Wahlbeteiligung lag jedes Mal unter 50 Prozent: im Mai bei 41,9 Prozent (Stadtratswahl) 42,6 Prozent (Europawahl), im August bei 44,3 Prozent und im Oktober (Neuwahl im WK 9) 28,9 Prozent. Für die Stadtratswahl stehen nun 40,8 Prozent in der Statistik.

Zwar schwankt die Wahlbeteiligung bei Stadtratswahlen seit 1999 um den Wert 40 Prozent. Aber das bedeutet nicht, dass es ein Wert ist, der nicht beunruhigen sollte. Woran das geringe Interesse der Wähler gerade an Kommunalwahlen liegt, darüber rätseln die Wahlforscher.

Als These könnte man vorsichtig anbieten: Es liegt am meinungsstärksten Medium, über das sich Bürger über Politik informieren. Das ist keine Zeitung, das ist auch (noch) nicht das Internet. Es ist das Fernsehen, das in Deutschland über eine rechnerische Meinungsmacht von 60 Prozent verfügt. Das hängt mit der Ausstattung der Haushalte mit Fernsehgeräten zusammen, aber auch mit der hohen Nutzungsdauer (vier bis sechs Stunden pro Tag je nach Haushalt) und natürlich den angebotenen Unterhaltungsformaten, die das Bild von Politik in Deutschland prägen. Und da die Fernsehsender fast ausschließlich Bundespolitik inszenieren und Landespolitik nur in kleinen Häppchen in Nischenprogrammen, empfinden auch immer mehr Wähler Landespolitik nicht mehr als wichtig oder interessant. Oder wissen erst gar nicht, wer dort welche Rolle spielt. Auf kommunaler Ebene spitzt sich das Ganze noch mehr zu.

Wie gesagt: Es ist eine These, die das Gefälle der Wahlbeteiligung zumindest erklären könnte. Ebenso auch die Tatsache, dass Bundespolitik auch die Wahlen in Ländern und Kommunen dominiert. Sehr zum Ärger vieler lokaler Akteure, die sich in vier Jahren Legislatur oft die Hacken abgerannt haben, richtig geschwitzt haben im Dienste der Wähler – und die dann doch nicht belohnt werden mit Stimmenzuwächsen. Oder gleich ganz ihr Mandat verlieren.

Dass vor allem Bundespolitik die lokalen Wahlen beeinflusst, hat vor allem die FDP in diesem Jahr erlebt, die bei allen drei Wahlen in den Bundesabwärtstrend der Gesamtpartei geriet und im Leipziger Stadtrat ihren Fraktionsstatus einbüßte.

Im Gegenzug zog die Alternative für Deutschland (AfD) in alle drei gewählten Parlamente ein. Und zumindest im Zusammenhang mit der Europawahl stellten sich Leipzigs Statistiker die Frage: Woher kamen eigentlich die Wähler der AfD? Sind die einfach von der FDP hinübergewechselt oder kamen sie aus dem Nichts? Hat die AfD gar neue Wähler mobilisiert, die sich vorher nicht im Parteienspektrum vertreten fanden?
Es ist komplexer. Gerade in Sachsen. Wahlforscher beobachten schon seit Jahren, dass hier die Parteienbindung der Wähler deutlich geringer ist als im Westen der Republik. Es ist viel normaler, dass viele Wähler sich bei jeder Wahl neu entscheiden, was dann auch 2009 für den rauschenden Wahlerfolg der FDP sorgte, der nun 2014 in landesweiten Katzenjammer mündete. Im Gegenzug zog die AfD auch in den Leipziger Stadtrat mit vier Abgeordneten ein.

Aber sie räumte nicht einfach die 12.200 Stimmen ab, die der FDP verloren gingen. Tatsächlich bekam sie aus der FDP-Wählerschaft nur rund 900 Stimmen. Tatsächlich wanderten die FDP-Wähler von 2009 eher zur CDU (3.100 Stimmen) und zur SPD (2.700 Stimmen) ab, 1.500 blieben ganz zu Hause. Aber selbst Linke und Grüne profitierten von abwandernden FDP-Stimmen.

Aber auch die Grünen können sich auf ihrer Stammwählerschaft nicht wirklich ausruhen – tatsächlich wanderten Grüne-Wähler recht zahlreich zur Linken (2.100 Stimmen) und zur SPD (1.700 Stimmen) ab. Selbst die Piraten jagten den Grünen 800 Stimmen ab. Dass trotzdem noch ein Ergebnis wie 2009 herauskam, verdanken die Grünen ihrer Fähigkeit, Nichtwähler zu mobilisieren: rund 3.000 waren es zur Europawahl.

Solche Verschiebungen gab es praktisch bei allen Parteien. Die CDU gewann selbst von der Linkspartei 2.100 Stimmen, die SPD dafür 2.300 bei der CDU.

Alles Zahlen, die im Grunde bestätigen, wie leicht sich viele Wähler von augenblicklichen Stimmungslagen, Themen und Berichterstattungen beeinflussen lassen.

Was im Grunde den Bogen schlägt zur AfD, deren Aufstieg vor allem durch mediale Wahrnehmung geprägt ist, eindeutig nicht von schon sichtbaren politischen Arbeitsergebnissen. Dabei scheint die Partei insbesondere Wähler angesprochen zu haben, die sich mit ihren Weltsichten vorher bei keiner Partei so recht zu Hause gefühlt zu haben scheinen. Mit 4.800 mobilisierte die AfD die meisten Nichtwähler von allen antretenden Parteien auf der Leipziger Europaliste, weitere 3.100 wanderten von der CDU zur AfD, von der Linkspartei kamen 1.500. Und – nicht zu vergessen: 3.100 sind Wähler, die seit 2009 nach Leipzig zugezogen sind.

Natürlich verändert der Zuzug aus dem Umland auch die Leipziger Wahlergebnisse. Die AfD sprach diese Leipziger Neu-Wähler deutlich stärker an als etwa die CDU mit 2.300 Stimmen als Gewinn. Selbst die Linke (2.500 Stimmen) und erst recht die SPD (3.900 Stimmen) konnten die Leipziger Zuzügler stärker für sich begeistern – was auch daran liegt, dass die Zuzügler in der Regel jünger sind und sich deren Wahlverhalten deutlich von den Älteren unterscheidet.

Das wird in einer Statistik zur Landtagswahl im August recht augenfällig. Denn während die CDU bei den über 35-Jährigen die Wahl eindeutig dominierte, ist das Bild bei den 18- bis 34-Jährigen ein völlig anderes. Dort begegnen sich praktisch vier Parteien auf Augenhöhe und die größere Attraktivität für die jüngeren Wählen strahlen augenscheinlich Linke und Grüne aus. Während die Linke auf 18,5 bis 21,1 Prozent in dieser Altersgruppe kam, lagen die Grünen bei 19,1 bis 19,2 Prozent. CDU und SPD rangelten eher um Platz 3. Und dann kam lange nichts. Und wer die AfD sucht, findet sie bei den jungen Leipzigern unter 24 Jahren noch deutlich hinter den Piraten (die in der Altersgruppe bis 24 Jahre über 5 Prozent der Stimmen bekamen), eher gleichauf mit FDP und NPD.

Die AfD spricht mit ihren Themen Frauen auch deutlich weniger an als Männer – was sie auch von der CDU unterscheidet, von Grünen und SPD erst recht. Ein wirklich junges oder gar modernes Weltbild vermittelt die AfD augenscheinlich nicht.

Was der AfD dann auch in den beiden Großstädten Dresden und Leipzig die schlechtesten Wahlergebnisse in Sachsen bescherte, während sie im Erzgebirge, in der Sächsischen Schweiz und im Raum Görlitz zweistellige Ergebnisse einfuhr.

Man kann die Ergebnisse auch so interpretieren, dass die Wahlerfolge der AfD zeigen, wie zerrissen die moderne sächsische Gesellschaft ist zwischen Gestern und Morgen, zwischen dem Wunsch, alles möge so bleiben wie es ist (der auch die Angst vor Veränderungen einschließt), und dem Wissen darum, dass sich alles ändern muss, damit Sachsen zukunftsfähig bleibt. Es ist im Grunde im Kleinen derselbe Konflikt, den auch das heutige Amerika austrägt mit seiner hochkochenden Teaparty-Bewegung, in der sich auch die Angst des sich bedroht fühlenden “Mittelstands” vor einer offenen und komplexeren Gesellschaft spiegelt.

Aber Ängste lähmen nicht nur Menschen, sondern auch Gesellschaften.

Pegida greift im Grunde genau diese Ängste auf – und hat genauso wenig Antworten darauf.

Was den Bogen wieder schließt, denn Lokal- und Landespolitik muss auf die ungelösten Konflikte Antworten finden, nicht nur als praktische Lösungen, sondern auch in der politischen Kommunikation. Darauf verlassen, dass die diversen TV-Kanäle die wichtigen politischen Themen transportieren oder gar verständlich machen, kann man sich nicht.

Man findet die Wahlanalyse auch auf der Website des Amtes für Statistik und Wahlen unter “Veröffentlichungen”.

http://statistik.leipzig.de

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