Ganz unbemerkt ist das Jubiläum ja nicht vorübergegangen: 10 Jahre "Hartz IV". Die Bundesagentur für Arbeit hat sich gelobt, aus Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden gab es saftige Kritik. Und die SPD gab sich nachdenklich. SPD-Chef Sigmar Gabriel und Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles machten sich Gedanken über das einstige Schröder-Projekt. Das mittlerweile so oft "novelliert" wurde, dass vom Ursprungsprojekt eigentlich nur noch die harten Bandagen übrig sind, vom "Fördern und Fordern" nur noch das "Fordern".

Oder um Gabriel und Nahles selbst zu zitieren in ihrer Analyse: “Diese unterschiedslose Behandlung von Lebensleistung war es, die die Gewerkschaften an der SPD verzweifeln ließ. War es doch der Wert der Arbeit, der beide Organisationen seit mehr als 140 Jahren verband. Hinzu kam: Der Missbrauch von Beschäftigungsanreizen, die als Brücke in reguläre Arbeit gedacht waren, hat zu einer dauerhaften Ausdehnung des Niedriglohnsektors geführt. Und beim Leitmotiv der Hartz-Reformen, dem ‘Fördern und Fordern’, hat das Fordern in den ersten Jahren deutlich besser geklappt als das Fördern.”

Und dazu passt nun eine neue Rechnung, die Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) sich zum Jahresbeginn mal vorgenommen hat. Denn dass das “Fördern” derart schlecht klappt, hat ja auch damit zu tun, dass sich alle Regierungen seit 2005 eifrig bemüht haben, am eigentlichen Förderbudget der Jobcenter zu kürzen und zu streichen.

Die Gelder, die vom Bund an die Jobcenter ausgereicht werden, stecken vor allem in zwei Töpfen: “Leistungen zur Eingliederung nach dem SGB II” und die “Verwaltungskosten für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende”. Im Fördertopf sind die “Leistungen zur Eingliederung nach dem SGB II”, 2004 noch “Eingliederungspauschalen ” genannt.

Schröder kommt dabei zu einer erstaunlichen Erkenntnis: Während die Bundesmittel für die Verwaltungsaufgaben praktisch noch immer dem 2004 veranschlagten Satz entsprechen, wurden die Eingliederungsmittel, mit denen Betroffenen tatsächlich wieder in eine vollwertige Beschäftigung gebracht werden sollen, drastisch eingedampft. Nach den Vorgaben der Ursprungs-Agenda hätten es 2014 noch immer 9,6 Milliarden Euro sein müssen, aber nach all den “Reformen der Reform” waren es nur noch 3,3 Milliarden.

“Auch wenn beim Vergleich der sich aus den ‘Eingliederungspauschalen’ (BMWA 2004) rechnerisch ergebenden nahezu 9,6 Milliarden Euro für ‘Eingliederungsleistungen’ mit den 3,305 Milliarden Euro noch die 60 Millionen Euro für die BEZ-Ausfinanzierung und die veranschlagten 538 Millionen Euro für Bundesprogramme berücksichtigt werden (und ggf. noch die erwartete Zuweisung von Ausgaberesten), bleibt eine Lücke von etwa 5,5 Milliarden Euro”, stellt Schröder fest. “Ganz anders stellt sich dies beim Bundesanteil an den ‘Verwaltungskosten’ dar. Die Zuweisung von 4,012 Milliarden Euro entspricht mit der erwarteten Zuweisung von Ausgaberesten nahezu exakt dem Betrag, der sich aufgrund der ‘Verwaltungskostenpauschale’ des BMWA (2004) ergeben würde – vor (!) den zu erwartenden erheblichen Umschichtungen …”

Denn weil die 4 Milliarden Euro für die Verwaltung nicht ausreichen, wird nun seit ein paar Jahren immer wieder kräftig umgeschichtet – Geld aus dem eigentlich für “Eingliederung” vorgesehenen Topf wird in den Topf “Verwaltung” geschoben. Was auch deshalb möglich ist, weil die meisten Eingliederungs- und Beschäftigungsprojekte mittlerweile eingedampft sind.

Der Vergleich für Sachsen: Nach den Festlegungen von 2004 müssten für Verwaltungsaufgaben 301 Millionen Euro für Verwaltungsaufgaben aus Bundesmitteln zur Verfügung stehen – real sind es nach der neuesten Verordnung 290,8 Millionen Euro, 84,8 Prozent der rechnerischen Verwaltungskosten. Die restlichen 15,2 Prozent tragen die Kommunen.

Für Eingliederungsleistungen würden nach der Regelung von 2004 immerhin 673,4 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Stehen sie aber nach all den Kürzungen schon längst nicht mehr. Übrig blieben 2014 noch 231,9 Millionen Euro. Die Mittel wurden also fast gedrittelt – und werden auch nicht komplett für Eingliederung ausgegeben, sondern in Teilen – siehe oben – für Verwaltungskosten umgeschichtet.

Auch die Leipziger Zahlen findet man im großen Tabellenwerk, das Paul M. Schröder ausgerechnet hat.

So stehen den rechnerischen 54,1 Millionen Euro, die nach der Regelung von 2004 für die Jobcenter-Verwaltung vom Bund zur Verfügung gestellt worden wären, für 2014 immerhin noch 52,2 Millionen Euro gegenüber. Dafür ist das rechnerische Budget für Eingliederungshilfen von 131,6 auf 45,3 Millionen Euro abgeschmolzen. Da bleibt eigentlich für sinnvolle Eingliederungsprogramme nichts übrig. Und die nächsten Herausforderungen sind eigentlich längst da. Gabriel und Nahles sprechen die Notwendige Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt an und die Herausforderungen einer zunehmend digitalisierten Arbeitswelt.

Zumindest lassen sie den Zweifel zu, ob die “Agenda 2010” tatsächlich allein verantwortlich ist für das Abschmelzen der Arbeitslosenzahlen von über 5 Millionen auf knapp 3 Millionen.

“Heute, zehn Jahr später, sind in Deutschland zwei Millionen Menschen weniger arbeitslos”, schreiben sie in ihrer Thesensammlung, die zuerst in der “Süddeutschen” erschien und auch auf der Website der SPD abrufbar ist. “Deutschland hat mit die geringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Es mag umstritten sein, wie stark genau die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu dieser dramatischen Verringerung der Arbeitslosigkeit beigetragen haben.”

Denn einen wichtigen Beitrag, so erkennen sie an, hat die rund zehn Jahre anhaltende extreme Zurückhaltung der Gewerkschaften in Tarifkonflikten beigetragen: “Nicht zu unterschätzen ist etwa auch die funktionierende Sozialpartnerschaft in Deutschland und die beschäftigungsorientierte Tarifpolitik der Industriegewerkschaften, die durch ‘interne Flexibilität’ das System der Flächentarifverträge abgesichert haben.”

Und sie erinnern daran, dass “Agenda 2010” eben mehr war als “Hartz IV” und dass auch hier wesentliche Bestandteile von späteren Regierungen demontiert wurden: “Umso wichtiger ist es, dass wir uns aller Facetten der Reformpolitik bewusst sind. Die Agenda 2010 umfasste nicht nur die Reformen am Arbeitsmarkt, sondern auch Milliarden-Investitionen in Kinderbetreuung, Ganztagsschulen, in Forschung und Entwicklung und in erneuerbare Energien.”

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