Man kann sich ja schon richtig komisch vorkommen als Absolvent eines Schulsystems, in dem noch normale, anspruchsvolle Mathematik unterrichtet wurde. Auch wenn manche Leute behaupten, man brauche Mathematik im Leben nicht mehr, weil es ĂĽberall diese kleinen Rechenmaschinen gibt, ist das Gegenteil der Fall. Am Beispiel Griechenlands zeigt sich zudem, dass gerade Journalisten dringend eine gute mathematische Bildung brauchen.

Denn sonst begreifen sie nicht einmal ansatzweise, was da gerade getan und nicht getan wird – und fallen auf jede hingeschnöselte Meinungsmache der sogenannte Euro-Gruppe, der Gläubiger und diverser Bankspezialisten herein, die ihr Eigeninteresse allesamt schon lange ĂĽber das der Staaten und Völker gestellt haben. Sie definieren ihre Renditen und Dividenden als ĂĽber den Interessen der Gesellschaft stehend – sehr schön ausgefĂĽhrt erst jĂĽngst in dem von Matthias Weik und Marc Friedrich vorgelegten Buch “Der Crash ist die Lösung”. Ein Buch, das aus der Sicht zweier ausgewiesener Ă–konomen nichts anderes war als ein “Stinkefinger”, wie er nun dem griechischen Finanzminister vorgeworfen wurde, an all die selbsternannten Sachverwalter in Sachsens Staatsfinanzierung. Und ihr Fazit war simpel und eindeutig: Wenn die Euro-Gruppe (die sich frĂĽher mal Troika nannte – ein schönes russisches Wort ĂĽbrigens) so weitermacht wie bisher, dann gibt es nicht nur den griechischen Staatsbankrott, dann scheppert’s im ganzen Euro-Gebäude. Aber heftig.

Nun hat auch die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung in ganz ähnlicher Weise die Euro-Gruppen-Politik einer Generalkritik unterzogen. Jan Priewe, Professor im Ruhestand für Volkswirtschaftslehre, und Philipp Stachelsky, Journalist, haben den Beitrag verfasst, in dem sie die Fehler der Euro-Gruppe im Zusammenhang mit der Griechenland-Politik auflisten. Und nicht nur das. Sie widerlegen auch die mittlerweile wieder reihenweise von Deutschlands großen Medien behauptete Legende, Griechenland habe die ihm auferlegten Reformen nicht umgesetzt.

Das Gegenteil ist der Fall

Kein Land hat die auferlegten SparmaĂźnahmen so umfassend umgesetzt wie Griechenland. Ein Land wie die Bundesrepublik hätte sich so einen Sparkurs ganz bestimmt nicht aufzwingen lassen. “Die Staatsausgaben wurden (preisbereinigt) um 30 Prozent geschrumpft (2009-2013) – dies entspräche in Deutschland einer Streichung des kompletten Bundeshaushalts; die Einnahmequote stieg um sieben Prozentpunkte von 40 auf 47 Prozent des BIP – eine derartige Austeritätspolitik hat es in Europa bislang nicht gegeben, vermutlich auch weltweit nicht”, schreiben die beiden Autoren.

Und es hat gar nichts gebracht. Im Gegenteil: Es hat die griechischen Probleme sogar noch verschärft. Denn Griechenland ist keine Exportnation wie Deutschland, die durch das Senken der Herstellungskosten ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern kann.

Priewe und Stachelsky: “Erstens: Griechenland hat durch groĂźe Sparanstrengungen, weit größer als in Italien, einen kleinen positiven PrimärĂĽberschuss im Jahr 2014 erreicht – wenn jetzt weitere ca. vier Prozentpunkte bis 2016 erreicht werden sollen, geht dies nur durch weitere Sparexzesse oder durch starkes Wachstum des BIP – und das ist nicht in Sicht. Zweitens: Griechenland ist zu ca. 85 Prozent im Ausland verschuldet, Italien nur zu rund 30 Prozent. Griechenland wĂĽrde dann 4,5 Prozent seines Einkommens und seiner Produktion dem inländischen Kreislauf entziehen, also auch der Besteuerung. Dies bremst das Wachstum wie Bleisohlen unter Sprintschuhen.”

Das BIP wächst nur, wenn man investiert. Das lernt jeder Volkswirtschaftler im Grundstudium.  Aber auch die Bruttoanlageinvestitionen sind in Griechenland um 65 Prozent geschrumpft. Das heißt: Die griechische Wirtschaft regeneriert sich nicht mehr, sie fährt auf Verschleiß (da kann man gespannt sein, für welche Peanuts jetzt die verschlissenen Häfen und Flughäfen verscherbelt werden).

Die Troika-Experten haben dem Land tatsächlich die “Luft zum Atmen” genommen

Denn indem diese Leute jetzt auch noch die versprochenen Hilfsmilliarden zurĂĽckhalten, verschärfen sie die Lage weiter – auch wenn sie via Medien behaupten, die Tsipras-Regierung tue es. Wieviele LĂĽgen passen eigentlich auf diese Euro-Kuhaut?

Und statt auch nur zu registrieren, dass die aufgezwungenen Sparauflagen und die AbfĂĽhrungen an die Gläubiger dem Land permanent Geld entziehen, das dringend fĂĽr Wachstums-Investitionen gebraucht wĂĽrde, spielt man weiter den Schuldeneintreiber. Eine Analyse des Austeritätsprogramms nach IWF-Rezept ist bis heute nicht erfolgt. Man tut einfach so, als könne man das Land einfach immer weiter ausquetschen. Und hat damit in den letzten Jahren – und seit dem Wahlsieg der Syriza-Bewegung erst recht – das Land in die Bewegungslosigkeit manövriert. Es muss schon eine Menge Verzweiflung dahinter stecken, dass ein griechischer Premier ausgerechnet nach Moskau fährt, um Hilfe zu suchen.

“Die Austeritätsstrategie ist in Griechenland nicht nur gescheitert. Sie ist vielmehr der Hauptgrund fĂĽr die desaströse Entwicklung des Landes seit 2010”, stellen die beiden Autoren nun fest, nachdem sie sich BIP, Arbeitslosigkeit, LohnstĂĽckkosten und Staatsausgaben unter die Lupe vorgenommen haben. Alles im freien Fall begriffen. “Anstatt einen Heilungsprozess in Gang zu setzen, haben die Chefärzte von EU-Kommission, EZB und IWF den Gesundheitszustand eines bereits seit Jahrzehnten schwachen Patienten mittels eines historisch einmaligen Experiments drastisch verschlimmert.”

Und sie erwähnen etwas, was die Chefkassierer der Banken selten bis nie berĂĽcksichtigen: Wie es dem Schuldner geht, ist ihnen weidlich egal. “Zu Unrecht wird gesagt, die Gläubiger sitzen immer am längeren Hebel: denn wenn der Schuldner nur noch schuldendienstfähig ist, weil er in Massenarmut getrieben wird, steht viel Geld der Gläubiger im Feuer. Diese sollten der Kuh, die sie melken wollen, auch ausreichend Futter geben.”

Oder nicht ganz so blumig ausgedrĂĽckt: Wenn Griechenland nicht die Möglichkeiten eines echten Wachstumsprogramms bekommt, wird es seine Schulden nie und nimmer abbezahlen können, bestenfalls “bedienen”, wie das so schön heiĂźt, also die Zinsen fĂĽr die Kredite bezahlen, ohne dass auch nur ein Euro Schulden zurĂĽckgezahlt wird.

Eigentlich ein Feld fĂĽr simple Mathematik

Nur beherrscht das augenscheinlich in der so genannten Euro-Gruppe niemand mehr. Obwohl ein “Quasi-Schuldenschnitt” – also die Vertagung des eigentlichen Schuldenabbaus auf den Tag, an dem Griechenland wirtschaftlich wieder auf die Beine gekommen ist – eine Alternative wäre. Sogar eine in der EU vermittelbare. Das, was die Euro-Spezialisten derzeit machen – begleitet von einem unheimlichen (und wahrscheinlich auch teuren) medialen Begleitprogramm – ist eine Art Folter – ein langsames Rösten eines Landes, das sämtliche vom Munde abgesparten ĂśberschĂĽsse in den Zinsdienst steckt – und trotzdem nicht aus der Folter kommt.

Priewe und Stachelsky: “Eine weitere Politik der kleinen Schritte, wie sie die bisherige Rettungspolitik kennzeichnet, sollte abgelöst werden durch eine Konstruktion, die ĂĽber Jahre hinweg Bestand haben kann und Griechenland eine Perspektive aus der Krise bietet. Griechenland braucht eine realistische Wachstumskonzeption, und zwar sofort.”

Die Kurzanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Nachlesen.

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