Am Dienstag, 14. April, versuchte die Sächsische Arbeitsagentur, das Thema Sanktionen in den sächsischen Jobcentern zu thematisieren. Diesmal unter dem Aspekt: "97 Prozent der in den Jobcentern gemeldeten Frauen und Männer verhalten sich richtig". Aber werfen die 3,4 Prozent sanktionierten "Leistungsbezieher" ein schlechtes Licht auf die "braven", oder ist es nicht doch die Jobcenter-Politik, die mit Sanktionen Menschen erst kriminalisiert?

Denn zehn Jahre “Hartz IV” bedeuten eben auch zehn Jahre Umdeutung von selbstverständlichen Dingen. Und zu den selbstverständlichen Dingen gehörte einmal, dass Menschen in der Bundesrepublik Deutschland eine Grundsicherung zum Lebensunterhalt zusteht. Und auch das Arbeitslosengeld II (ALG II), das ja bei Sanktionen gekürzt wird, genügt oft nicht einmal dem Lebensminimum.

Und was die sächsische Arbeitsagentur nun meldet, ist tatsächlich ein neuer negativer Rekord: Im vergangenen Jahr haben die sächsischen Jobcenter insgesamt 73.300 Sanktionen ausgesprochen.

Eine Zahl, die die Arbeitsagentur Sachsen so interpretiert: “Die durchschnittliche Sanktionsquote lag bei 3,4 Prozent und beweist, dass sich der Großteil der hilfebedürftigen Frauen und Männer an ihre Pflichten und Vereinbarungen gehalten haben.”

Die Sanktionen konzentrieren sich auf eine kleine Gruppe von Betroffenen: “Im Jahr 2014 wurde insgesamt 29.400 Menschen das Arbeitslosengeld II wegen Pflichtverletzungen gemindert”, so die Arbeitsagentur. Ohne Bedauern.

„Rund 97 Prozent der in den Jobcentern gemeldeten Frauen und Männer verhalten sich richtig, wollen arbeiten und bemühen sich um Arbeit. Mit einer Sanktionsquote von 3,4 Prozent gibt es bei etwa drei von einhundert Hilfebedürftigen eine Leistungskürzung“, sagte Dr. Klaus Schuberth, Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit (BA), anlässlich der am Montag neu veröffentlichten Jahresstatistik.

Um welche Lappalien es sich bei den insgesamt ausgesprochenen 73.281 Sanktionen gegenüber erwerbsfähigen Leistungsberechtigten handelte, wird bei der Hitliste der “Delikte” deutlich: Die häufigsten Gründe für Leistungskürzungen waren nicht eingehaltene Termine beim Jobcenter (77,1 Prozent oder 56.469), Ablehnung der Aufnahme einer Bildungsmaßnahme, Ausbildung oder Arbeit (12,3 Prozent oder 9.008) und auch das Versäumnis, vereinbarte Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung umzusetzen (7,8 Prozent oder 5.703).

„Die Jobcenter wollen möglichst viele Menschen in reguläre und dauerhafte Arbeit bringen um damit ein eigenbestimmtes Leben zu ermöglichen. Dafür ist eine intensive Beratung und auf die individuelle Problemlage abgestimmte Unterstützung erforderlich. Das geht aber nur, wenn die Jobcenterkunden gemeinsam mit ihren Vermittlern an einem Strang ziehen. So sind die Chancen am größten, eine Arbeit oder Ausbildung zu erhalten“, meint Schuberth.

Es muss schon ein seltsames Verhältnis zu den Jobcenterkunden sein, wenn man die Betroffenen, die aus unterschiedlichen Gründen (und diese Gründe werden hier eben nicht mal statistisch erfasst) die Kooperation verweigern, mit Sanktionen belegt. Glauben die Verwalter tatsächlich, Kooperationen erzwingen zu können, indem sie Menschen, die das Spiel nicht mitspielen wollen, mit Geldentzug bestrafen?

Die Sanktionsquote lag 2014 bei 3,4 Prozent. Das bedeutet: Im Jahr 2014 wurden durchschnittlich bei 3,4 Prozent der jahresdurchschnittlich 291.600 erwerbsfähigen Arbeitslosengeld-II-Bezieher die Leistungen der Grundsicherung wegen einer Pflichtverletzung gekürzt.

Wie bereits in den Vorjahren am häufigsten bei Jugendlichen unter 25 Jahren (Sanktionsquote: 6,1 Prozent). Bei den Älteren hingegen lag die Sanktionsquote mit 0,8 Prozent auf vergleichsweise geringem Niveau.

Im Jahr 2013 lag die durchschnittliche Sanktionsquote noch bei 3,3 Prozent, teilt die Arbeitsagentur mit. Sie ist also gestiegen. Die Zahl der Sanktionen konzentriert sich immer mehr auf eine kleine Gruppe Betroffener. Und die Zahl der Sanktionen nimmt zu.

Das erinnert doch fatal an das Milgram-Experiment von 1961.

Die Versuchsanordnung mal kurz nach Wikipedia zitiert: “Der Versuch bestand darin, dass ein ‘Lehrer’ – die eigentliche Versuchsperson – einem ‘Schüler’ (ein Schauspieler) bei Fehlern in der Zusammensetzung von Wortpaaren jeweils einen elektrischen Schlag versetzte. Ein Versuchsleiter (ebenso ein Schauspieler) gab dazu Anweisungen. Die Intensität des elektrischen Schlages sollte nach jedem Fehler erhöht werden.”

Es ist schon verblüffend, so eine Versuchsanordnung im Jahr 2015 in Deutschland als praktiziertes Experiment an echten Menschen nicht nur zu sehen. Und dann Begründungen zu lesen, die den Motivationen der “Lehrer” aus dem Milgram-Experiment verblüffend ähneln: “Der Anstieg der Sanktionsquote um 0,1 Prozentpunkte ist vor allem auf die gestiegene Zahl der nicht eingehaltenen Termine im Jobcenter zurückzuführen. Im Vergleich zum Vorjahr sind die Leistungskürzungen aus diesem Grund um über 2.700 gestiegen”, so die Arbeitsagentur Sachsen.

Man hat also wieder die Zahl der Stromstöße verstärkt.

Und das tut man nun seit Jahren: Von 45.706 Sanktionen im Jahr 2009 stieg die Zahl auf 71.586 im Jahr 2013. Und statt zu reagieren und herausbekommen zu wollen, warum eine bestimmte Kundengruppe nur noch mit Angst, Flucht und Verweigerung auf die Sanktionen reagiert, erhöht man die Stromdosis.

Da hilft auch das Loblied auf die Braven nicht, das Schuberth singt: “Leider sind Frauen und Männer aus der Grundsicherung häufig vielen Vorurteilen ausgesetzt. Um das zu ändern und um zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten für sie zu schaffen, werben Arbeitsagenturen mit den Partnern aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik für die Einstellung dieser Menschen. Denn Fakt ist, Hartz-IV-Empfänger sind vielfach gut qualifiziert und motiviert. Hier lohnt sich bei der Personalauswahl der ‘zweite Blick’! Dazu gibt es die gemeinsame Initiative, Einstellungssache – Jobs für Sachsen.”

Und dass die sächsischen Jobcentermitarbeiter die Zahl der Stromstöße sogar drastisch erhöht haben, steckt dann noch in diesem Teil der Mitteilung: “Im Jahr 2014 wurden gegenüber 29.443 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten neue Sanktionen ausgesprochen und deshalb der Regelbedarf wegen einer Pflichtverletzung gemindert. Damit ist die Zahl der Menschen, deren Leistungen ganz oder teilweise gekürzt wurden, im Vergleich zum Vorjahr um rund 4.100 gesunken. Die durchschnittliche Höhe der Leistungskürzung lag vergangenes Jahr in Sachsen bei 107 Euro. Das entsprach 19,8 Prozent des durchschnittlichen Leistungsanspruchs.”

Was in der Folge heißt: Eine schrumpfende Zahl von “Leistungsbeziehern” wird immer öfter sanktioniert. Und die Verantwortlichen stellen sich nicht einmal die Frage, wie die Betroffenen dann die gekürzten Leistungsansprüche von 107 Euro verkraften. Oder wo sie sich stattdessen Ersatz holen.

Leipzig liegt mit einer Sanktionsquote von 5 Prozent übrigens an der Spitze aller Jobcenter in Sachsen. Was ins Gewicht fällt, denn mit rund 53.000 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten hat Leipzig sowieso schon den größten Anteil an den sächsischen Leistungsberechtigten. Und die Zahl sinkt nicht wirklich, egal, ob die Leute sanktioniert werden oder nicht. Die Braven durchlaufen dafür ganze Serien von Schein-Integrationen.

Von den 53.000 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten stehen übrigens gar nicht alle dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Nur rund 21.000 gelten als arbeitslos. Was die hohe Zahl von rund 2.700 Sanktionierten allein im Bereich des Jobcenters Leipzig erst recht in ein Zwielicht rückt.

Aber augenscheinlich will niemand in Jobcentern und Kommunen wissen, warum diese Menschen lieber sanktioniert werden, als sich den Mühlen der Jobcenter zu fügen.

Und so lange das so ist, kann man dieses Sanktionssystem nur als ein staatlich sanktioniertes Milgramsches Experiment bezeichnen.

Die sächsische Arbeitsagentur glaubt nun, den Sanktionierten damit helfen zu können, dass man sie vor Meldeversäumnissen zu bewahren versucht.

Der Tipp der sächsischen Arbeitsagentur

Die Mitarbeiter in den Jobcentern sind bemüht, ihre Kunden vor Meldeversäumnissen zu bewahren, zum Beispiel durch Erinnerungsanrufe. Zusätzlich bieten die Jobcenter auch eine kostenlose SMS-Terminerinnerung an. Kunden, die es wünschen, erhalten vor ihrem Termin im Jobcenter eine automatische Benachrichtigung per SMS.

Kostenfreier SMS-Dienst der Bundesagentur für Arbeit

Der SMS-Service der Bundesagentur für Arbeit soll die arbeitsuchenden Menschen an Termine erinnern und dadurch ungeplante Terminausfälle vermeiden. 24 Stunden vor jedem Termin erhalten interessierte Kunden eine SMS mit Datum, Uhrzeit und Ort des Termins.
Mit dem kostenfreien SMS-Service besteht die Möglichkeit, Kunden nicht nur schriftlich, sondern auch auf Wunsch zusätzlich per SMS an den bevorstehenden Termin in der Agentur für Arbeit oder im gemeinsam betriebenen Jobcenter zu erinnern.

Den SMS-Service bieten alle elf sächsischen Arbeitsagenturen sowie die gemeinsamen Jobcenter (Jobcenter Chemnitz, Jobcenter Leipzig, Jobcenter Dresden, Jobcenter Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, Jobcenter Mittelsachsen, Jobcenter Zwickau, Jobcenter Vogtland, Jobcenter Nordsachsen) an.

Beantragt werden kann dieser Service ganz einfach, per Telefon über die Servicerufnummer der Bundesagentur für Arbeit (0800 4 5555 00) oder über die Hotline des örtlichen Jobcenters.

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Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstehenden.

Sachsens Jobcenter haben auch 2014 die Eingliederungsmittel nicht ausgeschöpft…

http://www.l-iz.de/politik/kassensturz/2015/04/sachsens-jobcenter-haben-auch-2014-die-eingliederungsmittel-nicht-ausgeschoepft-83492

In ganz Sachsen sanken im März die Arbeitslosenzahlen – nur in Leipzig stiegen sie.

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Leipziger Februar-Aufschwung: Langzeitarbeitslose und Jugendliche haben nichts davon

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