Es ist schon skurril mit dieser SPD: Der Parteichef wettert über die Griechen, unterstützt aber vorbehaltlos die grimmige Austeritätspolitik von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. Und im Februar erst hat die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung dem schottischen Politikwissenschaftler Mark Blyth den Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik verliehen für sein Buch "Wie Europa sich kaputtspart: Die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik".

Dieser Tage hat die Friedrich-Ebert-Stiftung auch die Reden herumgeschickt, mit denen Blyth – der als erster Publizist überhaupt den 2015 erstmals verliehenen Preis bekam – gewürdigt wurde. Auch der mittlerweile durch einige abfällige Aussagen zur griechischen Verhandlungsmentalität aufgefallene Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, erscheint in der Rednerliste.

Tatsächlich hätte man sich gerade von Schulz Verständnis für das Dilemma der Griechen erwartet und offenherzige Mahnungen an die von Austerität besessenen Verhandlungsführer der Troika (die so ja nicht mehr heißen will), der griechischen Regierung bessere, sinnvollere Vorschläge zu machen. Denn kein Land der Euro-Zone hat unter Austeritätsvorgaben so gelitten wie Griechenland.

Im Februar in seiner Rede zu Blyth sagte Schulz noch: “In den vergangenen Jahren hat der Glaube die europäische Wirtschaftspolitik bestimmt, man müsse nur die Staatsausgaben kürzen, dann würden die Schulden schon sinken, und Wachstum und Investoren kämen automatisch zurück. In der Eurozone hat also so etwas wie ein wirtschaftswissenschaftlicher Großversuch stattgefunden, für den nun bedauerlicherweise viele Menschen mit ihren Lebenschancen bezahlen müssen. – Trotz drastischer Verringerungen des strukturellen Defizits und Kürzungen bei den Ausgaben ist die Staatsverschuldung dennoch gestiegen. In Griechenland steht die Verschuldung heute bei 180 Prozent der Wirtschaftsleistung – 2010 waren es noch 150 Prozent. Portugal heute: 130 Prozent – 2010: 95 Prozent. Und Spanien, das 2008 noch Überschüsse im Staatshaushalt vorzuweisen hatte – und damals besser als Deutschland dastand –, hat heute eine Verschuldungsquote von 100 Prozent. Warum? Weil Spanien seine Sparkassen stabilisieren musste. – Noch schlimmer aber ist: Die Krisenländer stecken heute in einem veritablen Teufelskreis fest …”

Sage keiner, wichtige Politiker wüssten nicht, was da passiert ist unter dem – falschen – Label “Finanzkrise”. Selbst Schulz nennt es sinnvollerweise eine Bankenkrise, denn es sind die Milliarden, mit denen Europas Staaten die Banken gerettet haben, die aus der “Finanzkrise” ab 2010 eine Staatsschuldenkrise gemacht haben. Und auf der Streichliste der Troika für Griechenland stehen immer wieder große Kürzungen für die Staatsausgaben.

Martin Schulz im Februar: “Machen wir uns nichts vor: Reiche Menschen brauchen keinen starken Staat. Reiche Menschen können für Bildung, Gesundheitsversorgung und Sicherheit bezahlen. Es sind die normalen Bürger_innen, die einen starken Staat brauchen, der sie vor Lebensrisiken schützt.” Doch genau die wurden – gerade in den südlichen Ländern – zu Millionen in die Armut getrieben.

Die Rede ist lesenswert

Und am Ende fragt man sich wirklich, warum die europäische Sozialdemokratie nicht mit mehr Rückgrat für all die Dinge eintritt, die sie in solchen Reden benennt. Wie weit die jetzige Politik der selbstgerechten Banker und Buchhalter führt, hat Schulz sehr klar benannt – im Februar: “Ich erlebe, wie die Zentrifugalkräfte der Krise uns in Europa in den letzten Jahren auseinander trieben – anstatt uns enger aneinander zu binden. Alle sehen sich als Opfer. Nationale Egoismen sind gewachsen. Und auch das Misstrauen gegenüber den Nachbarn. – Es hat sich ein selbstgerechter Ton eingeschlichen, ökonomische Fragen werden moralisiert: Schulden vor allem als Schuld gesehen; leichtfertig wird von Schlendrian und Schlamperei gesprochen, andere vor allem  belehrt.”

Wie gesagt: Alles im Februar.

Peter Bofinger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, war Mitglied der Jury, die durchaus unter echten Schwergewichten zu wählen hatte.

Auch Thomas Pikettys Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ stand zur Auswahl.

“Mark Blyths Buch müsste zur Pflichtlektüre für die europäischen Wirtschaftspolitiker_innen werden und ganz besonders natürlich für alle deutschen Regierungsmitglieder”, sagte Bofinger in seiner Laudatio. Es hat nichts geholfen. Denn an der Griechenlandpolitik der deutschen Regierung hat sich ja nichts geändert. “Denn nach wie vor steht das Thema Austerität ganz oben auf der wirtschaftspolitischen Agenda des Euroraums. Und nach wie vor scheint
man gerade in Berlin zu glauben, fiskalische Sparmaßen seien tatsächlich in jeder wirtschaftlichen Situation sinnvoll und zielführend, wobei im Zweifel mehr sparen immer besser sei als weniger sparen. Ganz nach dem Motto: Viel hilft viel. – Ganz konkret lässt sich die Relevanz des Themas Austerität an der aktuellen Situation Griechenlands beschreiben. Das Land ist eindeutig einer Überdosis an Austerität zum Opfer gefallen. Die Troika hat von Anfang an die negativen Wachstumseffekte ihrer Therapie völlig unterschätzt.”

Hat die Mahnung etwas geholfen?

Gar nicht. Tatsächlich steckt hinter Austeritätspolitik wieder etwas ganz anderes: Ein gigantischer Umverteilungsbahnhof aus der Staatskasse der zum Sparen verdonnerten Länder in die Kassen der Gläubiger.

Bofinger zitierte den entscheidenden Satz bei Blyth: „Alles in allem ist die Austerität also aus drei Gründen eine gefährliche Idee: Sie funktioniert nicht in der Praxis; sie lässt die Armen für die Fehler der Reichen bezahlen; sie basiert darauf, dass der Fehlschluss von den Teilen auf das Ganze kein Problem darstellt.“

Bofingers Analyse dazu ist geradezu entlarvend: “Wenn man aber zutreffend die Krise als eine Krise des Marktes sieht, läuft eine solche Therapie in der Tat darauf hinaus, dass man die Armen für die Fehler der Reichen bezahlen lässt. Die Perversion des Denkens wird dabei auch darin deutlich, dass die Vertreter der ‘wachstumsfreundlichen Konsolidierung’ sehr stark auf die disziplinierenden Effekte des Marktes setzen. Marktdisziplin läuft dabei jedoch darauf hinaus, dass Märkte, die massive Fehler gemacht haben und deshalb von Staaten mit hohen Defiziten gerettet werden mussten, nun zu Richtern über die sie rettenden Staaten gemacht werden.”

Sein Fazit: “Die Krise in Griechenland zeigt, wohin es führt, wenn eine völlig überzogene Austeritätspolitik betrieben wird. Der ökonomische und politische Schaden ist immens.”

Und Mark Blyth dann selbst in seiner Dankesrede: “Austerität als Wirtschaftspolitik ist etwas, das einfach nicht funktioniert. In den Fällen, in denen es so aussah, als ob es funktioniere, waren in Wirklichkeit andere Kräfte am Werke, in der Regel die Abwertung einer unabhängigen Währung bei gleichzeitiger Expansion eines weit größeren Handelspartners, wodurch das Exportgeschäft kurzfristig angekurbelt wurde. Zusammen mit der Exportexpansion fanden zwar Haushaltskürzungen statt, doch waren es nicht diese Kürzungen, die den Ausschlag gaben, sondern die Zunahme an Exporten.”

Und er sagte, was Menschen sehen können, die die griechische Tragödie nüchtern betrachten und nicht mit der wilden Wut einiger deutscher Stimmungsmedien: “Zurzeit dreht sich alles um Griechenland und die Möglichkeit eines Kreditausfalls oder Grexit. Dies ist eine für alle Seiten aussichtslose Position. Die Griechen können angesichts der Tatsache, dass die eingeleitete Politik, die ihr Wachstum unterstützen sollte, zum Zusammenbruch fast eines Drittels ihrer Wirtschaft geführt hat, ihre Schulden nicht zurückzahlen. Die Jungen und Begabten haben das Land verlassen, und zurück bleiben Rentner_innen und öffentlicher Dienst.”

Die Folgen der Strukturreform

Und er benannte, was augenscheinlich auch viele Sozialdemokraten noch nicht begriffen haben: Dass mit der Anwendung der IWF-Kriterien in Griechenland eine Politik nach Europa überschwappte, die schon auf ärmeren Kontinenten zu katastrophalen Folgen geführt hat: “Früher sprach man von ‘strukturellen Anpassungen’ statt von ‘Strukturreform’ – ein Konzept, das europäische Linke wie wir als absurd, lächerlich, verrückten Neoliberalismus etc. verurteilten. Und doch lassen wir eine solche Politik, trotz des Schadens, den sie in den Entwicklungsländern angerichtet hat, anscheinend gerne auf unsere europäischen Partner los.”

Und dann führte er – ganz Wissenschaftler – auch eine der Lebenslügen der heutigen deutschen SPD vor: die Behauptung, Deutschland wäre durch “Hartz IV” wieder wettbewerbsfähig geworden. “Diese Geschichte wird gern erzählt, doch ist sie leider falsch”, sagte er. “Christian Dustmann vom University College London und seine Mitarbeiter haben diese Frage eingehend untersucht und sind zu dem Schluss gekommen, dass die größere Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in Wirklichkeit auf drei miteinander zusammenhängenden Phänomenen zehn Jahre vor der Hartz-Reform zurückzuführen ist. – Erstens: die Wiedervereinigung. Dadurch, dass plötzlich zehn Millionen zusätzliche Arbeiter_innen auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind, wird ein massiver Lohndruck nach unten ausgeübt, der sich um 1994 zu zeigen beginnt. Zweitens: Die Auslagerung deutscher Automobilzulieferer in die ehemaligen Ostblockstaaten macht den Export noch wettbewerbsfähiger. Dieses Phänomen beginnt sich etwa zur gleichen Zeit bemerkbar zu machen. – Drittens: Zum gleichen Zeitpunkt erkennen die deutschen Gewerkschaften, dass Globalisierung östlich der Elbe beginnt und hören einfach damit auf, Lohnerhöhungen zu fordern. – Das Ergebnis dieser drei Phänomene in Kombination ist ein Druck auf die Löhne seit fast 20 Jahren, der durch die Transfers des Sozialsystems maskiert wird. So entsteht Wettbewerbsfähigkeit.”

Das haben noch nicht einmal die Ostdeutschen begriffen, wie sehr sie seit 1990 zum neuen deutschen Wirtschaftswunder beigetragen haben. Stattdessen müssen sie sich von den Profiteuren dieser Entwicklung die “Kosten des Soli” unter die Nase reiben lassen, als hätten sie mit ihrer billigen Arbeitskraft nicht schon genug zur Profitabilität der deutschen Wirtschaft beigetragen.

Blyth: “Kein anderes Land hat nebenan ein Ostdeutschland, das zu einem Druck auf die Lohnkosten beiträgt, und selbst wenn alle trotzdem zu diesem Mittel greifen würden, würde dadurch nur der aggregierte Verbrauch gesenkt, was eine allgemeine Verarmung zur Folge hätte.”

Und selbst zur völlig blödsinnigen Gläubigerpolitik gegenüber Griechenland findet er noch deutlichere Worte: “Dies ist jedoch schon unter einfachen wohlfahrtsökonomischen Gesichtspunkten Unsinn. Wenn der Preis für den Druck auf den Schuldner ist, dass dieser in der Schuldknechtschaft verbleibt, oder wenn die Verluste für die Gläubiger niedriger sind als die Kosten für eine Bedienung des Kredits bis in alle Ewigkeit, dann ist ein Kreditausfall wirtschaftlich effizient, wenn nicht gar eine moralische Pflicht. – Es ist schon eine große Ironie, dass die europäischen Sozialdemokraten sich heute einerseits zu Recht Sorgen wegen des Investorenschutzes im geplanten Transatlantischen Freihandelsabkommen mit den USA machen und andererseits ohne zu zögern die Durchsetzung eines ebensolchen Gläubigerschutzes gegenüber ihren europäischen Partnern verlangen.”

Tja, gute Frage: Wofür stehen die Sozialdemokraten heute eigentlich noch? Blyths Mahnung am 23. Februar: “Ich hoffe, mein Buch erinnert die SPD daran, dass ihr Daseinszweck darin besteht, mehr als die einfache Durchsetzung eines Gläubigerparadieses in Europa zu erreichen.”

Aber irgendwie ist die Mahnung nicht durchgedrungen.

Mark Blyth “Wie Europa sich kaputtspart“, Dietz Verlag, 26 Euro

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