Ein Grundproblem der EU ist: Sie kann nicht funktionieren, wenn die Regierungen aus ihrem nationalen Kleinklein nicht herauskommen. Wolfgang Münchau predigt es ja in seiner Kolumne auf "Spiegel Online" Woche für Woche - und niemanden interessiert's. In Deutschland regiert weiter ein schwäbischer Sparminister, der zutiefst davon überzeugt ist, dass man Länder zur Diät prügeln müsste. Ein kleines "Ja, aber" kommt jetzt von der FES.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist ja so eine Art Spaßveranstaltung der SPD, die sie sich gönnt, um diese ganzen störenden Nachdenkereien über das Mögliche und das Notwendige auszulagern. In nette Diskussionsrunden in den Abendstunden und in ebenso nette Veröffentlichungen, in denen auch mal nicht so linienförmige Wissenschaftler Vorschläge machen dürfen, wie zum Beispiel die EU aus der gemeinschaftlich eingebrockten Euro-Suppe wieder herauskommt.

Der schlimme Weg ist der, den Bernd Lucke so gern mit seiner AfD gegangen wäre: Raus aus dem Euro, jedes Land macht wieder seine eigene Finanzpolitik. Wie früher. Welche Kräfte ein gestandener Ökonom damit entfesselt, das hat Bernd Lucke wohl bis heute nicht erfasst. Denn für die meisten Mitglieder der immer weiter nach rechts gedrifteten Partei bedeutet der Rückfall in die eigene Währung auch wieder den Rückfall in einen überwunden geglaubten Nationalismus. Bis zur Ausgrenzung und Abwertung anderer Nationen ist es da ja sichtlich nicht weit.

Aber Ökonomen vermögen eher nur selten zu erfassen, wohin sie ihre ökonomischen Theorien aus dem Zahlenlabor führen. Sie beachten selten bis nie, dass Ökonomie in der Realität nicht unter Laborbedingungen stattfindet, sondern das Leben, Denken und Fühlen der Menschen direkt berührt. Und wenn die anfangen, Angst um ihren Job, ihr Erspartes und die Stabilität ihres Landes zu bekommen, dann beginnen sie nicht rational zu agieren, wie es sich Bernd Lucke oder (mit einer anderen Wirtschaftstheorie) die FDP gedacht haben, sondern dann handeln sie irrational.

Sie haben Angst und sie beginnen, sich nach uralten gesellschaftlichen Grundmustern zu verhalten.

Natürlich macht jetzt Achim Truger, Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Makroökonomie und Wirtschaftspolitik, an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin, keinen Vorschlag, wie Euro und EU gerettet werden könnten. Das steht nicht in seiner Macht. Zumindest nicht, so lange Wolfgang Schäuble europäischer Finanzminister ist. Dazu hat ihn zwar keiner ernannt, aber die Macht ist ihm ganz folgerichtig zugefallen, denn von der Einführung des Euro hat seit 2000 vor allem ein Land profitiert: die Bundesrepublik Deutschland.

Der Euro ist zwar so etwas wie eine Gemeinschaftswährung, doch er bildet nicht die völlig unterschiedliche Leistungsstärke der Mitgliedsländer ab. Er erzeugt eher ein Gemisch aus der schwachen Wirtschaftsleistung der einen und der starken Wirtschaftsleistung der anderen. Und weil er das alles mixt, ist er nicht “so stark wie die Mark”, wie es auch Wolfgang Münch wieder zitiert, aber auch nicht so schwach wie Drachme oder Lira. Er ist irgendwo dazwischen. Was für Länder wie Griechenland und Italien heißt: Er ist eigentlich zu teuer. Sie können ihre Produkte mit dem teuren Euro nur unter erschwerten Bedingungen auf dem Weltmarkt absetzen. Ihr Export erhält einen Dämpfer, am Ende rutscht ihre Exportbilanz ins Negative.

Anders in Deutschland: Der vergleichsweise schwache Euro macht deutsche Exporte billiger. Die Bundesrepublik erwirtschaftet einen rekordverdächtigen Exportüberschuss nach dem anderen und kann damit ihren Haushalt sichern. Mit Betonung auf sichern. Denn eine “schwarze” Null ist für einen Exportweltmeister wie Deutschland eigentlich eine Schande. Mit so einem Exportüberschuss müssten auch Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet und der Schuldenberg vorangegangener Jahre abgebaut werden.

Das passiert aber nicht. Das liegt zum Teil an einem Steuersystem, das vor allem Arbeitseinkommen besonders hoch belastet (und Erwerbstätige damit zu Zahlemann & Söhne für die Gesellschaft macht) und Vermögen und Finanzgewinne weitgehend verschont.

Was auch dazu führt, dass das Geld in den Staatskassen auch in Deutschland eigentlich nicht mehr ausreicht, um in die Zukunft zu investieren.

Die öffentlichen Bruttoinvestitionen waren in Deutschland schon vor der Finanzkrise viel zu niedrig – schon damals meldeten vor allem die westlichen Bundesländer, dass die öffentlichen Infrastrukturen zu zermürben begannen, weil viel zu wenig investiert wurde. Die Quote ist nicht gestiegen. Denn all die Jahre haben deutsche Finanzminister absolute Sparsamkeit gepredigt und versucht, alle Investitionen aus dem laufenden Haushalt zu decken, wohl wissend, dass das nicht reicht.

“Allerdings ist die Situation auch in Deutschland alles andere als zufriedenstellend: Seit über zehn Jahren dümpeln die öffentlichen Nettoinvestitionen (Bruttoinvestitionen abzüglich Abschreibungen) um die Nulllinie herum, d.h. der öffentliche Kapitalstock stagniert oder verfällt sogar, was sich mittlerweile etwa in einsturzgefährdeten Brücken und Turnhallen recht konkret bemerkbar macht”, schreibt Truger.

Truger lobt zwar in einem Nebensatz Großbritannien: Aber genau dort hat diese Sparphilosophie bei öffentlichen Infrastrukturen ja in den 1980er Jahren ihren Ausgang genommen. Da ist Vieles mittlerweile derart heruntergewirtschaftet, dass gegengesteuert werden muss, wenn die Dinge nicht endgültig ihren Geist aufgeben sollen.

Für Länder wie Griechenland, Spanien, Irland bescheinigt Truger eine erstaunlich hohe öffentliche Investitionsquote – bis zum Ausbruch der Finanzkrise. Diese Länder haben tatsächlich kräftig investiert, weil ihnen der Euro eine Kreditfähigkeit gab, die sie mit Drachme, Lira usw. nie hatten. Bekanntlich mit heftigem Erwachen und jenem Moment, als die “Troika” einflog und den Regierungen dort schlechtes Wirtschaften attestierte.

Das ist ein eigenes Thema, das aber dazu gehört. Denn ein  Rezept der “Troika” (die ja bekanntlich gern ihren Namen wechselt, weil einer peinlicher ist als der andere) ist ja nun einmal, die Staatsausgaben sofort radikal zu kürzen – nicht nur die für die staatlichen Pflichtausgaben von Renten bis Beamtengehalt, sondern auch die für Investitionen. Das Ergebnis ist nicht nur, dass der Staat (oder die Kommunen) nichts Neues mehr baut, auch wenn man es eigentlich brauchen würde, sondern es ist auch der Beginn des systematischen Verschleißes von öffentlichen Infrastrukturen.

Die Ostdeutschen wissen ja, was das bedeutet: Nicht nur Brücken werden mürbe, Wasserleitungen und Kraftwerke verrotten, auch Schulen, Kindertagesstätten, Museen, Wohngebäude und Theater beginnen so langsam kaputtzugehen. Der Zahn der Zeit nagt. Und wenn nicht jedes Jahr 4 bis 5 Prozent der Dinge erneuert werden, rutschen die ganze Stadt oder das ganze Land binnen weniger Jahre in eine sichtbare Abwärtsspirale. Am Ende steht ein “Investitionsstau”, der aus den laufenden Einnahmen nicht mehr abgebaut werden kann.

Und wer sich die Kurven zu den Bruttoinvestitionen, die Truger gezeichnet hat, anschaut, der sieht, dass selbst Griechenland in seiner heftigsten “Verschwendungsphase” gerade einmal die normale Reinvestitionsrate erreicht hat. Die meisten EU-Länder liegen deutlich drunter. Die deutsche Reinvestitonsrate von 2 bis 2,5 Prozent (brutto) bedeutet, dass die Finanzminister im Land augenscheinlich darauf vertrauen, dass Straßen, Brücken, Schulen und Rathäuser 40 bis 50 Jahre halten, bis wieder saniert werden muss.

Aber das ist nur das halbe Bild. Denn in einigen Jahren floss die Hälfte der deutschen Investitionsmittel nur in Neubau – es wurden also neue Infrastrukturen gebaut (wie Autobahnen oder Flughäfen), während für die Sanierung der alten Strukturen kein Geld da war.

Ein Grund für diese Fehlgewichtung, so schätzt Truger ein, ist das  falsche Denken in deutschen Finanzministerien, wo man sich ja bekanntlich seit Jahren feiert dafür, dass man sich “nicht neu verschuldet”.

Die schlichte Wahrheit ist: Man verschuldet sich trotzdem. Denn alle unterlassenen Investitionen in die öffentlichen Infrastrukturen sind in die Zukunft verschobene Schulden. So wie die heruntergewirtschafteten Infrastrukturen der DDR die Schulden für die 1990 neu geschaffene Bundesrepublik waren. Schätzungen für das Leipzig der frühen 1990er Jahre gehen von einem “Investitionsstau” (Schulden!) von 4 bis über 5 Milliarden Euro aus. Wahrscheinlich waren es sogar mehr. Aktuell wird die Last der überfälligen Erneuerungen allein für die Stadt auf über 2 Milliarden Euro geschätzt. Und in Leipzig wissen die Verantwortlichen alle, dass sie das alles irgendwann bezahlen müssen.

Und sie wissen auch eins: Sie dürfen das Wort Neuverschuldung nicht mal denken. Ein völlig von Geldsangst besessener Landtag hat das Neuverschuldungsverbot ja sogar in die Verfassung geschrieben, ganz so, als würden die versammelten Abgeordneten von ihren Nachfolgern nichts anderes mehr erwarten als eine tolldreiste Verschwendungssucht verbunden mit fiskalischer Unverantwortlichkeit.

Man hinterlässt den Enkeln zwar Schulden, denn unterlassene Infrastrukturinvestitionen sind nun einmal Schulden, sagt ihnen aber auch gleichzeitig, dass man sie für unberechenbar und unverantwortlich in Gelddingen hält.

Die Frage ist eigentlich nur noch: In welcher Form sollen die Enkel eigentlich für die Geldpolitik der aktuellen Generation bezahlen? Mit kaputten Infrastrukturen oder doch lieber in Geld?

Und so benennt Truger etwas, was derzeit unter den deutschen Meinungs-Ökonomen fast wie eine Nestbeschmutzung wirkt: Er fordert, die Nettostrukturinvestitionen nicht mehr als Schulden zu betrachten, sondern als das, was sie sind: Investitionen in Zukunft. Das war sogar mal Konsens unter Ökonomen, bis die neoliberalen Steuerkürzer und die schwäbischen Sparminister die Deutungshoheit über europäische Finanzen übernommen haben (und nicht mal nur über die eigenen, sondern auch die der anderen, der Griechen zum Beispiel). “Dabei verstoßen Schuldenbremse wie Fiskalpakt gegen einen jahrzehntelang weithin akzeptierten finanzwissenschaftlichen Grundsatz: die Goldene Regel, dass nämlich die öffentlichen Nettoinvestitionen durch Kredite finanziert werden sollen. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wollte in seiner Blaupause für die Schuldenbremse die Nettoinvestitionen ausnehmen”, schreibt Truger.

Denn in Wirklichkeit sind alle politisch verordneten “Schuldenbremsen” nur faule Ausreden dafür, dass man auf politischer Ebene nicht wirklich klären will, was notwendige Investitionen in öffentliche Infrastrukturen sind – und was nicht. Denn die “Schuldenbremsen” verhindern ja nicht, dass mit dem Geld allerhand Blödsinn subventioniert wird – von unwirtschaftlichen Flughäfen über überflüssige Binnenhäfen bis hin zu pleitierenden Landesbanken. Wenn man freilich alles auf die Einhaltung von “Schuldenbremsen” reduziert, dann gibt es auf einmal keinen Verantwortlichen mehr, wenn es darum geht, die Frage zu klären, woher das Geld für Schulen, Kitas, Straßen, Brücken, S-Bahnen und Straßenbahnen kommen soll.

Dann hat man genau den Effekt, der jetzt das schöne Land Sachsen bezaubert: Alle zeigen irgendwo ins Blaue hinter sich. Sie selbst können ja nichts dafür, dass das Geld nicht reicht. Und das in einer Situation, in der Sachsen nicht mal Kredite aufnehmen müsste, um mehr Geld in öffentliche Infrastrukturen zu investieren.

Dass es in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal usw. noch eine Spur schärfer aussieht, bringt Achim Truger zumindest zu der Anregung, mit Infrastrukturinvestitionen auch in Europa anders umzugehen. Aber das Umdenken beginnt wahrscheinlich erst, wenn auch wieder Finanzminister gewählt werden, die wissen, wie teuer das alles wird, wenn ein Kontinent nicht mehr verlässlich in seine Infrastrukturen investiert. Quasi Finanzminister, die auch fähig sind, in europäischen Dimensionen zu denken. Vielleicht sollte man das in die Stellenanzeige mit hineinschreiben.

Der Beitrag von Achim Truger “Reform der EU-Finanzpolitik. Die Goldene Regel für öffentliche Investitionen”.

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