Gäbe es in Sachsen so etwas wie einen Demografieminister oder eine Demografieministerin, dann würde dieser Job einer voller Schweißausbrüche sein. Oder voller Hosianna-Erlebnisse, wenn dieser Ministerposten auch zu echten Entscheidungen führen dürfte. Aber Sachsens Regierung weigert sich bis heute, die drängendste Aufgabe im Land auch mit Geld und Personal zu untersetzen. Ergebnis ist eine schleichende Katastrophe.

So wie auch mit den neuesten April-Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung aus dem Statistischen Landesamt wieder sichtbar geworden. Selbst die ersten vier Monate des Jahres zeigen, wie die Landkreise ihre Zukunft verlieren, weil alles, was Kopf und Beine hat, in die Großstädte verschwindet. Die Gründe dafür sind eigentlich alle klar. Wir haben oft genug darüber berichtet. Wer eine Familie gründen will, wer seine Ausbildung in ein erfülltes Berufsleben umsetzen will, wer eine funktionierende Firma aus der Taufe heben will oder auch nur einen funktionierenden Alltag bewältigen will, braucht Mindeststandards in den vorhandenen Infrastrukturen – möglichst im eigenen Wohnort, möglichst zu Fuß erreichbar und – wenn Not ist – in wenigen Minuten vor Ort als Rettungswagen oder Polizeistreife.

Alle diese Standards lassen sich definieren. Es gibt Spielräume, innerhalb derer die Sache noch einigermaßen funktioniert. Aber es gibt klare Grenzen: Ab dann beginnt eine bislang stabile Gesellschaft zu rutschen. Nicht nur durch Abwanderung. Es lösen sich auch regelrechte Kettenreaktionen aus: Buslinien werden eingestellt, weil die Fahrgäste rar werden, Arztpraxen werden nicht wieder besetzt, weil die Zahl der möglichen Patienten nicht ausreicht, kleine Läden machen dicht, weil der Umsatz nicht mehr ausreicht, und der Freistaat selbst spielt das Spiel mit und verschärft die Entwicklung, wenn er Schulen die Mitwirkung entzieht, Polizeistationen schließt, Verwaltungen in einer entfernteren Mittelstadt zusammenzieht.

Das aktuelle Allheilmittel, mit dem Sachsens Regierung glaubt, das Dilemma lösen zu können, ist die Devise “Breitband für alle”. Als wenn das Internet nun die Probleme der entleerten Provinz lösen könnte. Kann es natürlich nicht.

Und die, die fortgehen, das sind die jungen Leute, die nicht mal dran denken, dass ihr gepackter Umzugswagen “Demografie” sein könnte. Sie ziehen der Ausbildung und dem neuen Arbeitsplatz hinterher oder lösen einfach ein, was sich in Ausbildung und Studium ganz beiläufig ergeben hat, auch wenn sie gern wieder “nach Hause” zurückgekehrt wären. Wir nennen es den “Metropoleneffekt”, der sich in Sachsen und allen anderen mitteldeutschen Ländchen auf die gleiche Weise bemerkbar macht, weil keine einzige der drei Landesregierungen überhaupt mal nachgedacht hat über die notwendigen Strukturen. Was kann (junge) Menschen eigentlich auch in Dörfern, Klein- und Mittelstädten zurückhalten? Was brauchen sie, damit Zukunftsplanungen dort überhaupt denkbar sind?

Die Antwort aus allen drei Hauptstädten: Schweigen. Weiß man nicht. Ist wohl Neuland.

Man pumpt zwar mit allerlei Gießkannenprojekten eine Menge Geld in die Provinzen, wohl hoffend, dass die Bürgermeister vor Ort schon wissen, was sie damit anfangen. Das wissen die natürlich gut: Sie stopfen die Löcher in ihren Haushalten. Denn mit den Einwohnern sind ja auch die Steuereinnahmen abgewandert. Dafür sind sie allesamt auf überdimensionierten Gewerbeparks, Abwasseranlagen, geplanten Wohngebieten und entleerten Einkaufsparks sitzen geblieben, die alle irgendwie unterhalten werden sollen.

Man sieht: Demografie ist eigentlich was für Rechner, für Leute, die in Mathematik wirklich aufgepasst haben.

Und was passiert, wenn man sich eigentlich gar keine Gedanken über die notwendigen Schritte macht?

Das hier:

Die sächsischen Landkreise verloren allein in den ersten vier Monaten des Jahres 5.322 Einwohner.

Die drei sächsischen Großstädte Dresden, Leipzig und Chemnitz gewannen in diesen vier Monaten 4.087 Einwohner hinzu.

Da kommt zwar noch ein Minus bei raus, weil die Sterbefälle in den vier Monaten die Zahl der Geburten deutlich überstiegen und sich die Zuwanderungen nach Sachsen erst so ab der Mitte des Jahres wirklich in der Statistik auswirken. Aber die Bewegung ist unübersehbar. Da muss man nicht mal eine Computeranimation anfertigen, um das zu sehen.

Wie sieht es rund um Leipzig aus?

Man kann auch den Zoom benutzen und den Regierungsbezirk Leipzig herausfiltern, wo die Stadt Leipzig wächst und wächst und wächst: allein von Dezember 2014 bis April 2015 von amtlichen 544.479 auf amtliche 547.263 Einwohner, während der Landkreis Leipzig ein bisschen schrumpfte (um 340 Einwohner) und der Landkreis Nordsachsen auch ein bisschen (um 253).

Wer genauer hinsieht, merkt, dass die Region Westsachsen sich damit auch vom Rest Sachsens abhebt: Sie wächst nämlich sogar in der Summe und hat im April 2015 sogar wieder die magische 1-Million-Grenze überschritten: 1.001.359 Einwohner waren es amtlich genau. Im Dezember waren es noch 999.168 gewesen. Die Gewichte innerhalb Sachsens verschieben sich also ebenfalls – von Osten nach Westen.

Und die beiden Landkreise im Windschatten Leipzigs stabilisieren sich. Nicht in Gänze, denn am deutlichsten profitieren ja nun wirklich die Städte im direkten Speckgürtel der Stadt, während die peripheren Bereiche weiter Verluste einfahren. Und eindeutig zieht das Leipziger Bevölkerungswachstum die ganze Region mit.

Was man eigentlich verstärken könnte, wenn man die tragenden Strukturen aufwerten würde.

Aber wie gesagt: Es gibt keinen Demografieminister in Sachsen. Die Sache läuft also weiter eher chaotisch ab, die Politik latscht der Entwicklung hinterher, weiß aber nicht, was sie draus machen könnte. Das nennt man dann wohl Chancen versieben.

Dresden übrigens, das im März noch ein kleines Minus hatte, wuchs dann per April doch wieder um 310 Einwohner, Chemnitz brachte es auf 993.

Die amtlichen Bevölkerungszahlen für Sachsen im April 2015.

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