Man glaubt es oft nicht, womit sich die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung so alles beschäftigt, wenn man die SPD in der offiziellen Politik agieren sieht. Als wären beide in völlig verschiedenen Welten unterwegs. Und was die Forscher als sinnvoll und notwendig erkennen, muss die Lebenswirklichkeit der SPD noch lange nicht erreichen. Etwa die Frage: Wie kann man wieder eine größere Einkommensgerechtigkeit in Deutschland schaffen?

Das ist nicht nur eine soziale oder solidarische Frage, sondern auch eine wirtschaftliche. Denn niedrige Einkommen senken nicht nur die Kaufkraft, sie bestimmen auch, ob manche Menschengruppen überhaupt noch ihre Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe, Bildung oder gar beruflichen Aufstieg nutzen können. Es ist ja kein Zufall, dass die Attentäter von Paris aus den abgehängten Vorstädten von Brüssel und Paris stammen. Der moderne Terrorismus kann in Westeuropa auf ein gewaltiges Potenzial frustrierter, bildungsferner und arbeitsloser junger Menschen zurückgreifen, die in ihren Gesellschaften keine Chance auf Anerkennung und ein stabiles Lebensmodell mehr finden.

Aber über die Probleme der europäischen Jugendarbeitslosigkeit und der abgehängten Banlieues wurde ja auch schon vor den Pariser Anschlägen diskutiert, ohne dass sich die verantwortlichen Politiker bemüßigt fühlten, die Sache tatsächlich ernsthaft anzugehen – und sei es mit der Entwicklung möglicher Lösungsansätze dafür, wie man die Desintegration dieser Menschen verhindern und sie am Wohlstand der Gesellschaft wieder teilhaben lassen kann.

Für die Wirtschaftswissenschaftler auch in Deutschland bedeutete das 2013 erschienene Buch “Le Capital au XXIe siècle” des Pariser Ökonomen Thomas Piketty eine Art Achtungszeichen. Zumindest für jene, die sich noch intensiv mit Sozial- und Makroökonomie beschäftigen. Von den anderen haben ja einige schon medial abgewinkt, weil das Buch nun einmal nicht auf den schmalen Ansätzen der heute gepflegten Wirtschaftsstatistik beruht, sondern wieder Faktoren einführt, von denen man in den vergangenen Jahren glaubte, einfach mal mit mathematischer Cleverness aus der Wissenschaft hinauskomplimentiert zu haben.

Eine deutliche Ausnahme bislang: die USA, eigentlich jahrzehntelang der Hort des gepflegten Neoliberalismus. Aber dass die magere, rein betriebswirtschaftliche Betrachtung der Märkte irgendetwas Wesentliches übersieht, ist gerade dortigen Ökonomen mittlerweile recht klar. Und während sich deutsche Lehrstuhlinhaber geradezu echauffierten über den Bezug auf Karl Marx und sein “Kapital”, nahmen es die US-Amerikaner wesentlich gelassener und offener auf. Auch weil man in den USA die zunehmende Schere zwischen extrem steigenden Spitzeneinkommen, zunehmend prekären Einkommen bei den Armen und einem ökonomisch unter Druck geratenen Mittelstand viel deutlicher sah.

Und das ist auch der Punkt, an dem Till van Treeck, Professor für Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen, mit seinem Beitrag für die Friedrich-Ebert-Stiftung in die Debatte einsteigt.

“Vor dem Hintergrund der lebhaften internationalen Debatte um die wirtschaftlichen (und politischen) Folgen der Einkommens- und Vermögensungleichheit ist das geringe Interesse vieler Makroökonom_innen in Deutschland an Verteilungsfragen erstaunlich. So behauptete der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 2014/15 mit dem Titel ‘Mehr Vertrauen in Marktprozesse’, die Entwicklung der Einkommensungleichheit sei hierzulande unauffällig, und es bestehe lediglich ein Wahrnehmungsproblem in der Gesellschaft, welche die tatsächliche Ungleichheit überschätze. Die Thesen von Thomas Piketty werden mit wenigen Sätzen abgefertigt, Pikettys Überlegungen seien ‘aus ökonomischer Sicht nicht haltbar’.”

Dieser erwähnte Sachverständigenrat, das sind die sogenannten Wirtschaftsweisen: derzeit vier Ökonomie-Professoren und eine Ökonomin. Der berät die Bundesregierung. Und er tut es – das von van Treeck verwendete Zitat belegt es ja recht deutlich – von einer extrem marktkonformen, heißt: neoliberalen Position aus. So extrem (oder sollte man besser exzentrisch schreiben?), dass ein Prof. Dr. Peter Bofinger immer mal wieder seine Unstimmigkeiten mit dem Gesamtgremium via Presse artikulieren muss.

Und weil sogar so ein zentral beratendes Gremium sichtlich neben der Spur ist, ist es natürlich auch nicht verwunderlich, dass in der Bundesrepublik die Diskussion über die Einkommensungleichheit meistens schnell abgewürgt wird. Oft mit Verweis auf den doch erstaunlich niedrigen Gini-Koeffizienten, der doch eigentlich zeigen soll, wie stark die Ungleichverteilung der Einkommen ist.

Das zeigt er aber nicht. Darauf geht auch Till van Treeck kurz ein: Die statistischen Erhebungen erfassen in Deutschland die höchsten Einkommen so gut wie gar nicht. Das hat auch mit dem Steuersystem zu tun, das zwar sämtliche Einnahmen aus Arbeit erfasst. Aber die hohen Einkommen werden nicht mit Arbeit erzielt, sondern über Unternehmensbeteiligungen, Finanzanlagen und – immer öfter – auch über Erbe.

Hohe Einkommen werden in Deutschland fast ausschließlich pauschal besteuert, Kapitaleinkommen werden in weiten Teilen verschont. Und so können die Inhaber der großen Vermögen ihr Vermögen fast ungehemmt vermehren, ohne dem Staat auch nur ansatzweise Einblick geben zu müssen.

Und zumindest das zeigen die Statistiken: An den seit 2000 massiv gestiegenen Unternehmensgewinnen haben die Lohnbeschäftigten kaum partizipiert. Da wurden – so van Treeck – die “explodierenden Gewinne in hohem Maße einbehalten. Die damit einhergehende schwache Entwicklung der Lohn- bzw. Haushaltseinkommen (und die im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern geringeren Möglichkeiten zu kreditfinanziertem Konsum) werden von vielen Ökonom_innen als eine Ursache für die schwache binnenwirtschaftliche Entwicklung und die hohe Exportabhängigkeit der deutschen Volkswirtschaft ausgemacht.”

Der Konsum litt also unter dieser – auch von den Gewerkschaften unterstützten – “Lohnzurückhaltung”. Und nicht nur der, denn damit sank auch die Nachfrage nach Importprodukten, was dann wieder die Handelsbilanz all jener Länder schwächte, für die Deutschland ein wichtiger Exportmarkt ist.

Und all die Menschen, die in der Bundesrepublik seit 2000 nicht nur auf Lohnzuwächse verzichteten, sondern oft genug auch gezwungen waren, in prekären Arbeitsverhältnissen zu arbeiten, haben für diesen “Deal” logischerweise gleich mehrfach bezahlt. Hier zitiert van Treeck ein paar Kollegen aus der Makroökonomik, die zum Beispiel diese Folgen beschreiben: “Wenn relativ einkommensschwache Personen nicht in der Lage sind, eine gute Ausbildung und Gesundheitsversorgung zu finanzieren, reduzieren sich durch die Zunahme von Einkommensungleichheit insbesondere in der unteren Hälfte der Verteilung die Investitionen in Humankapital mit negativen Wirkungen auf das Produktivitätswachstum.”

Und auch im politischen Gefüge hat dieses finanzielle Schwächen ganzer Bevölkerungsgruppen Folgen: “Ökonomische Ungleichheit kann zu politischer Instabilität führen, und die damit verbundene Unsicherheit für die Marktteilnehmer_innen kann mit geringeren Investitionen und Produktivitätseinbußen verbunden sein.”

Aber das Absinken der Innovationen ist ja in der Bundesrepublik schon jetzt zu beobachten. Die mit dem Produktionszuwachs erwirtschafteten Gewinne fließen in viel zu geringem Maße auch wieder in Innovation und Forschung. Was natürlich auch wieder ein Risiko für die Wettbewerbsfähigkeit des Landes ist.

Und da läuft augenscheinlich auch die Diskussion um die Erbschaftssteuer in der deutschen Wirtschaft falsch – als wenn so eine Besteuerung schon eine Art Enteignung wäre.

Dabei geht es um ganz andere Dinge. Zum Beispiel um die Frage: Gehört das erwirtschafte Geld nicht schleunigst zurück in die Innovationskreisläufe der Gesellschaft?

Oder wieder van Treeck zitiert: “Deswegen sollten die Abgeltungssteuer abgeschafft und Kapital- und Arbeitseinkommen gleich besteuert werden. Auch die Forderung nach einer Vermögensteuer bzw. einer stärkeren Besteuerung von Erbschaften kann nicht immer wieder mit dem Hinweis auf verfassungsrechtliche Probleme und mit der unerwünschten Belastung von Betriebsvermögen im deutschen Mittelstand abgewehrt werden. Denn die volkswirtschaftliche Funktion des Unternehmenssektors einschließlich des Mittelstandes besteht nicht darin, Finanzvermögen anzuhäufen und über Generationen hinweg steuerlich privilegiert zu vererben. Vielmehr spricht einiges dafür, dass hierdurch die Binnennachfrage geschwächt und die Vermögensungleichheit verschärft werden.”

Piketty hat da also schon die richtige Frage gestellt. Vielleicht sollten sich die Genossen das Buch mal gegenseitig zu Weihnachten schenken und dann über die Feiertage einfach mal lesen. Denn eines ist Fakt: Die sogenannten Wirtschaftsweisen sind derzeit keine gute Orientierung für die wirtschaftliche Zukunft des Landes.

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