Konservative Politiker von CSU bis SPD überbieten sich ja gerade in hysterischen Verlautbarungen zur Flüchtlingsdebatte. Mit den Zahlen überbieten sie sich sogar gegenseitig, um dann ziemlich unisono zu fordern: "Frau Merkel, schließen Sie die Mauer." Frei nach US-Präsident Ronald Reagan: "Miss Merkel, close this Wall!" Überforderte Politiker gleichen sich weltweit, egal, welcher Partei sie angehören.

Ach ja – und die Flüchtlingspolitik. Pardon: die nicht existierende Flüchtlingspolitik. Die EU hat keine. Deutschland hat auch keine. Im Gegenteil. Seit der Dublin-II-Verordnung von 2003 haben sich insbesondere die deutschen Regierungen verschanzt hinter dem scheinbaren Schutz, den diese Drittstaaten-Regelung beinhaltet: Asylsuchende sollen sich danach in dem Land registrieren lassen, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben. Alle anderen Wege in die EU sind – zumindest nach diesem trockenen Schriftstück – illegal. Und weil man dann alles tat, um alle legalen Möglichkeiten, europäischen Boden zu erreichen, zu schließen und unmöglich zu machen, wurde Einwanderung also per definitionem komplett illegal. Zumindest, wenn man es als Flüchtling versuchte.

Das war scheinheilig und ignorant. Das ging von der Voraussetzung aus, man könnte alle Staaten jenseits der EU-Grenzen dazu verpflichten, riesige Auffanglager für Flüchtlinge zu bauen (die Idee geistert ja als genialer Vorschlag wieder durch das Repertoire der überforderten Politiker) und sie dort über Jahre versorgen. Womöglich, bis die fluchtauslösenden Kriege, Dürren, Katastrophen, Terrorbewegungen von allein aufhören. Denn gleichzeitig mit der Abschottung durch Dublin II hat die EU auch praktisch alle Bemühungen eingestellt, in den Konflikten dieser Welt irgendeine verantwortliche Rolle zu spielen, um sie zu lösen oder zu bereinigen.

Während man die Handelsbeziehungen mit zutiefst korrupten Regimen, die zum Teil verantwortlich sind für die Massenfluchten, weiter aufrechterhielt. Mit den Ergebnissen, die seit 2015 für alle sichtbar sind: Hunderttausende Menschen halten es auch in den trostlosen Flüchtlingscamps im Nahen Osten, in Nordafrika und in der Türkei nicht mehr aus, sondern riskieren ihr Leben bei der Überfahrt übers keineswegs friedliche Mittelmeer. Sie versuchen, in Italien und Griechenland europäischen Boden zu erreichen. Und von dort brechen sie wieder auf, weil auch die dortigen Auffanglager völlig überfüllt und unterversorgt sind.

Und statt sich der Realität zu stellen und wirklich eine europäische Flüchtlingspolitik und eine gemeinsame Außenpolitik, die ihren Namen verdient, auf die Beine zu stellen, erweisen sich die europäischen Hardliner-Politiker als genau das, was sie sind: Versager vor den ersten echten Problemen, denen sie in ihrer bislang friedlichen Amtszeit begegnen. Sie greifen zur nationalen Keule, bauen wieder Zäune, Mauern und Kontrollen.

Was sie aber nicht hinbekommen, ist der Aufbau eines ordentlichen Versorgungssystems. Selbst die Registrierung passiert national-bürokratisch.

Und am Ende schwirren Zahlen durch den Raum, von denen niemand mehr weiß, was sie eigentlich bedeuten.

Das trifft auch auf die Zahlen zu, die seit der Klausurtagung der CSU-Bundestagsgruppe in Kreuth am 8. Januar durch die Presse wabern. Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat sich damit beschäftigt. Ist zwar nicht sein Leib- und Magenthema. Aber da der hauptamtliche Chef der Bundesarbeitsagentur,  Frank-Jürgen Weise, ehrenamtlich auch noch das Bundesamt  für Migration und Flüchtlinge (BAMF) leitet, ist er dem emsigen Manager auch mal in dieses Arbeits- und Zahlenfeld gefolgt. Und fasste sich nach den Meldungen zum 8. Januar an den Kopf: Geht das also auch hier weiter mit der ganzen Zahlenakrobatik, die kein Mensch mehr durchschauen kann?

Augenscheinlich ja.

“Am 8. Januar 2016 war der Leiter des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) und hauptamtliche Vorsitzende des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, im oberbayerischen Wildbad Kreuth Gast der 40. Klausurtagung der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag. Dort äußerte sich der Leiter des BAMF  u.a. auch zum Stand der Bearbeitung von Asylanträgen: ‘Wir haben 360.000 gestellte Anträge, die noch nicht bearbeitet sind. Wir rechnen damit, dass Menschen registriert sind, aber noch nicht ihren Antrag gestellt haben. Bestimmt auch 300.000.’ (Bayernkurier) Daraus wurden dann in ungezählten Presseberichten ‘660.000 nicht bearbeitete Asylanträge’ (oder ähnlich).”

Er hat dann wieder das gemacht, was die meisten Journalisten (und wohl auch Politiker) nicht machen oder nicht schaffen: Er hat in die amtliche Statistik des EASY-Systems geschaut (EASY steht für “Erstverteilung von Asylbegehrenden”).

Immerhin schwebt ja die ganze Zeit die Zahl im Raum, die auch Innenminister Thomas de Maizière gern benutzt, um die Bürger zu erschrecken: über 1 Million Flüchtlinge (oder so ähnlich) allein im Jahr 2015. Je größer solche Zahlen sind, umso besser lassen sie sich verwenden, um die Bürger zu erschrecken und am Ende genau die Panik zu erzeugen, die derzeit augenscheinlich auch CDU und SPD erfasst hat. Motto: “Wir schaffen das nicht!”

Schon der erste Blick ins EASY zeigt, dass in den 1,33 Millionen im EASY erfassten Personen auch noch die nicht geschafften Überhänge aus den Jahren 2013 und 2014 stecken. Das BAMF war schon mit den wesentlich geringeren Flüchtlingszahlen von 2013 und 2014 nicht zu Ende gekommen. Und viel zu spät hat man 2015 begonnen, das BAMF aufzustocken. Das vergisst sich ziemlich schnell in der Hektik der Nachrichten: dass die Bundesrepublik sich das Chaos selbst organisiert hat. Man hat erst dafür gesorgt, dass sich die ganze Sache aufstaute und sich dann im Sommer scheinbar als gewaltiges Naturereignis entpuppte. Was es nicht war.

Seitdem sind ja die Statements der überforderten Politiker regelrecht ins Hysterische abgekippt.

Obwohl die Sache mit der Bearbeitung seit dem Sommer tatsächlich schneller geworden ist. Das von Angela Merkel angeordnete vereinfachte Verfahren für Flüchtlinge aus Syrien hat dazu geführt, dass zum Jahresende von den für 2013, 2014 und 2015 aufgelaufenen 679.483 Erstanträgen auf Asyl tatsächlich 411.637 positiv entschieden wurden.

Eigentlich sind das die für die Bundesrepublik entscheidenden Zahlen: 679.483 Menschen haben einen Erstantrag auf Asyl gestellt, 411.637 wurden positiv beschieden.

Und was ist mit dem Rest von den insgesamt 1,33 Millionen? Kommen die noch? Sind die da? Kommen noch mehr?

Was sich beim BAMF noch staute zum Jahresende, das waren die 267.846 Anträge, zu denen noch keine Entscheidung getroffen war. Falls die alle noch positiv beschieden werden sollten, hat die Bundesrepublik also bis Ende 2015 insgesamt 679.483 Menschen aufgenommen. Nicht mehr. Schon gar keine Million.

Aber Schröder fragt natürlich zu Recht: Was ist mit dem Rest? Hat Frank-Jürgen Weise Recht mit seiner Aussage, dass da “bestimmt 300.000“  Menschen, sind, die „registriert  sind, aber noch nicht ihren Antrag gestellt haben”?

Rein rechnerisch sind es sogar mehr, nämlich nach Schröders Rechnung 651.087.

Aber schon Frank-Jürgen Weise hatte ja angedeutet, dass sich diese Zahl bei genauer Analyse deutlich reduziert. Dazu zitiert er eine Aussage von Weise vom 29. Dezember 2015 aus den “Nürnberger Nachrichten”: “Laut EASY-Erfassungssystem werden es Ende dieses Jahres knapp über eine Million sein. Von denen gehen aber nach unserer Analyse etwa 20 Prozent aus Deutschland wieder weg, zum Beispiel nach Schweden, Finnland oder in die Niederlande.“

20 Prozent? Das waren rund 260.000 Menschen, die gar nicht in Deutschland bleiben wollten, sondern weitergereist sind, nachdem sie registriert wurden, nach “Schweden, Finnland oder in die Niederlande”. Die sind also nicht mehr da. Womit man in die Nähe der von Weise genannten “über 300.000” kommt. Für Paul M. Schröder gibt es dafür einige Erklärungsansätze: “Mögliche  Erklärungen  für  den rechnerisch verbleibenden Teil des ‘EASY-Schwunds’ von weit über 100.000 im EASY-System erfassten Asylbegehrenden: Doppelzählungen und der Verzicht auf das Stellen eines Asylantrags beim BAMF z.B. wegen sehr geringer Aussichten auf eine positive Entscheidung des BAMF.” Man bekommt also so eine Art Grauzone zwischen 300.000 bis etwa 400.000 Menschen, von denen man nicht weiß, ob sie irgendwo einen zweiten Antrag gestellt haben oder gar keinen. Völlig offen ist auch, ob diese Menschen schon wieder ausgereist sind, untergetaucht oder mittlerweile mit dem nächsten Flugzeug abgeschoben in Staaten, die nur verzweifelte Politiker als “sichere Herkunftsländer” bezeichnen würden.

Kleines Fazit:
Wir haben also für das Jahr 2015 genau 1.091.894 Menschen, die im EASY erstmals registriert wurden. Rund 200.000 sind mit hoher Wahrscheinlichkeit nur durchgereist, um in den skandinavischen Ländern Asyl zu finden. Nicht einmal die Hälfte (476.649) hat 2015 auch einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Bleiben rund 300.000 Menschen, von denen die Statistik nicht sagen kann, ob sie noch in irgendwelchen Schlangen stehen, nur doppelt registriert wurden oder schon längst wieder außer Landes sind. Was wirklich bleibt von diesem Jahr, wird man wohl erst in ein paar Jahren erfahren. Nur eines scheint ziemlich sicher: 2015 sind nicht mal annähernd 1 Million Menschen nach Deutschland gekommen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es am Ende vielleicht 700.000 bis 800.000 sein werden. Wenn denn mal die bürokratische Erfassung endlich hinterher kommt. Und die nüchterne Arbeit wieder Raum bekommt statt dieser schrillen Musik der Hysteriker.

Die BIAJ-Analyse.

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Es gibt 4 Kommentare

Junger Freund, Statistik dient als eigenständige Disziplin in der Mathematik zum Sammeln und Analysieren von Informationen. Ein Bereich von enormer Bedeutung und Reichweite. Selbst Straftaten wie Unterschlagungen lassen sich damit feststellen.

Es werden keine Spuren gesucht, sondern Daten analysiert, verarbeitet und, wie gegenwärtig in der Asylpolitik Deutschlands, geschönt, verschwiegen und missbraucht.

Mit ihren “einfachen Klick” ist da kein Blumentopf zu gewinnen. So viel Zeit und Sachlichkeit muss schon sein.

MfG

Lieber Klaus, es ist eine statistische Spurensuche. Klicken Sie einfach auf den Link zur BIAJ-Analyse am Ende des Textes. Oder ist Ihnen Zahlensalat (1,5 Millionen! Nein, wohl 2!) lieber?

Ihr M.F.

Ein guter Artikel. Ich kenne Mitarbeiter des BAMFs, Chaos ist da fast schon eine harmlose Beschreibung.
Und dieses panische “die Helfer ziehen sich schon zurück” kann auch nur von Leuten kommen, die keinen einzigen kennen. Die meisten Helfer sind Bundesweit gut vernetzt, und von keiner Stelle war bis jetzt zu hören, dass ihnen die Helfer ausgehen, eher im Gegenteil. Es gibt teilweise Wartelisten, so groß ist der Andrang der Hilfsbereiten trotz all der Panikmache immer noch.
Panik und Angst sind etwas für Menschen, die keine Ahnung von dem Thema haben. Bei den Menschen, die seit über einem Jahr mitten im Geschehen stecken, ist davon nichts zu sehen. Wenn man von der Angst vor rechten Übergriffen mal absieht.

Der Umgang mit Zahlen / Geld / Tabellen / Statistiken u.s.w. war mein Job. Vieles davon versuche ich in meiner Serien auf möglichst leicht verständliche Art und Weise in der L-IZ weiter zu geben. Überwiegend mit Erfolg. In der Zwischenzeit sogar mit erheblichen Erfolg. Nicht immer wird mir das gedankt. Aber Kleingeister gibt es überall und war mit kalkuliert.

Bei diesen Darlegungen habe ich aber Probleme. Was soll hier ausgedrückt werden? Welche Ansichten werden hier vertreten? Handelt es sich um eine neutrale Betrachtung der Zahlenangaben zu den Asylbewerbern aus den verschiedensten Quellen oder wird hier eine politische Aussage zur Asylpolitik getroffen? Oder ist gewollt, dass das jeder so auslegen kann / soll wie er möchte?

Das kommt mir hier etwas zu kurz. Wesentlich zu kurz.
Besonders in der gegenwärtige Situation, wo der Unmut der Bürgerinnen und Bürger der gesamten Bundesrepublik über die Asylpolitik der Bundeskanzlerin sich zum Orkan entwickelt. Selbst die Medien mit Rang und Namen sind gezwungen mehrere Rollen rückwärts zu machen, um nicht aufgefressen zu werden. Manchen würde es nicht schaden. Besonders manchen Chefredakteuren und sonstigen leitenden Mitarbeitern wie beispielsweise bei der LVZ, wo das Maß längst voll ist. Eine Schande für Leipzig.

Selbst die Politiker der FDP trauen sich wieder mit die Windräder zu bewegen. Sie treten kräftig, nach unten und oben. Wie gewohnt. Auch sie werden in alle Landtage einziehen. Unverdient!

Es werden 2016 / 2017 nach den Wahlen Parteien nicht mehr in den Landtagen vertreten sein, die es längst schon ahnen (u.a. die Grünen). Das ist so, wenn man seinen führenden Personen den Bogen zu weit spannen lässt. Edelmut tut selten gut!

Die Karten werden vollkommen neu gemischt werden, was der Wille des Volkes sein wird. Ohne wenn und aber! Deutschland, Wunderland? Nein!

Am einfachsten hat es die AfD. Sie hat es sich in allen Bundesländern im Liegestuhl bequem gemacht und beobachtet das Geschehen bei Radeberger Bier, Sekt und Kaviarschnittchen. Der Einzug in die Landtage von Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Berlin sowie Mecklenburg-Vorpommern steht 2016 so fest, wie das Amen in der Kirche. Unglaublich! Fast alle andere Parteien und Medien machen Wahlkampf für die AfD. Selbst Einzelpersonen, wie in Leipzig die Herren Wolff und Kasek sowie der Leuchtturm der Linken, Frau Nagel, sind feste Größe im Wahlprogramm der AfD. Eine Vergütung erhalten sie dafür natürlich nicht.
Hat es so etwas jemals gegeben? Die einzige Unbekannte bei der AfD wird sein, ob jeweils die 20,0 % Marke geknackt wird und um wie viel %. Fast Unglaublich. Fast!

Ich bin guter Hoffnung, dass meine “Freien Wähler” in Deutschland schlau sind und weniger auf der Asyl-Welle mitreiten. Sie haben es verdient auch ein bzw. mehrere Stück vom Kuchen zu bekommen. Meine Unterstützung läuft für sie auf Hochtouren.

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