Es ist ein Beitrag im neuen Quartalsbericht, den man zwingend erwarten musste, auch als Korrektiv der immer neuen Lobgesänge auf den wirtschaftlichen Aufschwung in der Stadt Leipzig: „Leben mit wenig Einkommen - eine vergleichende Gruppenanalyse“. Denn Leipzig hat zwar seit 2014 nicht mehr den inoffiziellen Titel „Armutshauptstadt“. Aber der Blick ins Detail zeigt, dass die Stadt nicht ansatzweise aus dem Schneider ist.

Denn die jahrelange Niedriglohnpolitik zeitigt Folgen. Das versuchen zwar die beiden Autoren des Beitrags – Falk Abel und Andrea Schultz – ein wenig zu relativieren, indem sie betonen, dass die 24,1 Prozent Armutsgefährdungsquote von 2014 sich auf das bundesdeutsche Einkommensniveau bezieht und die Lebenserhaltungskosten in Leipzig ja doch noch irgendwie niedriger seien als in westdeutschen Großstädten. Aber mit maximal 900 Euro wird auch 2014 kein Leipziger problemlos über den Monat gekommen sein. Das geht nur mit radikalem Verzicht, erst recht, wenn die Einkommen tatsächlich noch drunter lagen.

Ein Faktor, warum die Quote in Leipzig höher ist als anderswo, ist natürlich der hohe Anteil von jungen Menschen in Ausbildung und Studium. 41 Prozent der 18- bis 24-Jährigen hatten 2014 ein Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle.

Bei einer nachhaltigen Einkommenssteigerung in den folgenden Lebensabschnitten müsste die Armutsgefährdung dort aber mindestens auf das Niveau der Arbeitslosigkeit von 8 bis 10 Prozent absinken. Das tat sie aber 2014 eindeutig nicht.

Im Gegenteil. Prekäre Beschäftigung war damals auch für weite Teile der Beschäftigten in Leipzig der Normalzustand. Selbst bei den 25- bis 34-Jährigen lag der Anteil der Betroffenen mit wenig Einkommen bei 21 Prozent, sank bei den 35- bis 54-Jährigen nur auf 15 Prozent ab und stieg bei den 55- bis 64-Jährigen wieder auf 21 Prozent an.

Was im Grunde alles sagt, was da in den nächsten Jahren auf Leipzig zukommt. Denn hier findet man dann auch die Gruppe der älteren Arbeitsuchenden, die schon ab den 1990er Jahren eine nur noch aus Flicken bestehende Arbeitskarriere hinter sich hatten und die oft schon vorzeitig in den prekären Ruhestand geschickt werden oder sich noch weit über das Renteneintrittsalter hinaus mit diversen Jobs versuchen, über Wasser zu halten.

Es ist kein Zufall, dass Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, jetzt mit dem Buch „Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird“ an die Öffentlichkeit gegangen ist und die „Soziale Marktwirtschaft“ gleich mal für tot erklärt hat. Denn die Bundesrepublik verteilt zwar so viel Geld in den Sozialetats um wie kein anderes Land weit und breit – es kommt nur nicht bei den wirklich Bedürftigen an.

Oder um einmal Michael Sauga aus seinem Kommentar auf „Spiegel Online“ zu zitieren: „Es gehört inzwischen zur Routine in den großen Volksparteien, darüber Klage zu führen, dass die Unterschicht nicht mehr wählen geht oder ihre Stimme den Populisten von Linkspartei oder AfD gibt. Von Bildungsmängeln wird dann gern geredet und sozialer Deklassierung. Dass es auch etwas mit ihrer eigenen Politik zu tun haben könnte, kommt Christ- wie Sozialdemokraten dagegen seltener in den Sinn.“

Und Fratzscher bringt es mit Zahlen, was da jährlich umgeschichtet wird und dem Wahlvolk als soziale Wohltat angepriesen wird. Doch gerade bei der Rente wird endgültig klar, dass diese Gelder bei den wirklich Bedürftigen nicht mehr ankommen, denn von Ehegattensplitting, Mütterrente oder Riesterrente haben sie alle nichts. Die „sozialen“ Geldpakete sind zwar Milliarden schwer – aber sie kommen den geringen Einkommen, wie sie Abel und Schultz nennen, nicht zugute.

Das Ergebnis: Jeder neue Rentnerjahrgang weist immer höhere Anteile von Personen auf, die nur noch eine Rente unterhalb des „Hartz IV“-Niveaus bekommen.

Oder die beiden Autoren des Beitrags zitiert: „Schon heute sind ‚junge‘ Rentner/innen in einer schlechteren Einkommenssituation als ‚ältere‘ Ruheständler – vor allem wegen Brüchen in der Erwerbsbiografie nach 1990.“

Aber das Grauen fängt nicht erst mit 66 Jahren an. Denn tatsächlich rutschen auch Leipziger, die knapp über der sogenannten Armutsgefährdungsschwelle leben, immer wieder in finanzielle Nöte. Wer unter den scheinbar so auskömmlichen 900 Euro liegt, der lebt tatsächlich permanent in Angst, was in der Frage deutlich wird, ob die Betroffenen ihre Miete auch noch bei einer Mieterhöhung von 20 Prozent zahlen könnten. Das sagten zwar schon 59 Prozent aller befragten Leipziger, dass sie das nicht mehr könnten – was schon eine Menge sagt über die tatsächlich enge Einkommenssituation der meisten Leipziger (und 59 Prozent sind nun mal die meisten), aber bei Erwerbstätigen mit wenig Einkommen sind das gleich mal 88 Prozent, bei Arbeitslosen 86 Prozent, bei Rentnern 79 Prozent.

Und das sind nur die Befürchtungen. Denn in der Realität versuchen augenscheinlich die Meisten, sich auch noch die letzte Rechnung vom Munde abzusparen. Was nicht immer ausreicht. 13 Prozent der Erwerbstätigen mit wenig Einkommen haben Mietzahlungsrückstände, 20 Prozent hängen mit der Energierechnung hinterher. Bei Arbeitslosen sind es 21 bzw. 34 Prozent.

Da kann man einwenden: Es ist das Jahr 2014, das Jahr vor Einführung des Mindestlohns. Ob der auch in dieser Gruppe der Armutsgefährdungen für eine Entspannung der Situation gesorgt hat, wird man erst in künftigen Erhebungen sehen.

Aber einen Aspekt zeigt der Beitrag im Quartalsbericht, den man bisher kaum so gesehen hat. Denn „wenig Einkommen“ – also die genannten 900 Euro pro Nase – bedeutet eben auch, dass sich viele Menschen ihren Wunsch nach Familiengründung und Kindern nicht mehr erfüllen. Und das erst recht, wenn die Eltern versuchen, trotzdem irgendwie durch ihrer eigenen Hände Arbeit die Existenz zu sichern. Das tatsächlich perfide Ergebnis ist, dass Kinder in Familien, wo die Eltern nur „wenig Einkommen“ erzielen, mit höherer Wahrscheinlichkeit in prekären Einkommensverhältnissen aufwachsen als Kinder in Arbeitslosen-Haushalten.

Auch das ein Ergebnis der Niedriglohnpolitik und des staatlichen Drucks auf die niedrigen Einkommen in den letzten Jahren.

Wirklich wundern, dass immer mehr Menschen aus diesen niedrigen Einkommensgruppen von der Politik der etablierten Parteien nichts mehr halten, muss man sich da nicht. Erstaunlicherweise haben trotzdem 57 Prozent der erwerbstätigen Menschen mit wenig  Einkommen in Leipzig eine positive Zukunftssicht. Vielleicht mit der nie erlöschenden Hoffnung, dass es ja doch mal aufwärts geht.

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Und es wird noch schlimmer. Alle die, die per Gesetz in die vorgezogene Altersrente mit teils heftigen Abschlägen gezwungen werden vom Jobcenter, all die, die in den letzten 26 Jahren diverse Brüche im Erwerbslebenslauf haben, die werden in die Grundsicherung abgeschoben und kommen da nie mehr raus. Für alle die ist der Mindestlohn ohne Bedeutung für die Rente. Selbst wer noch 15 Jahre bis zur Rente hat und die unter Mindestlohn durchziehen muss, wird ein Fall für die Grundsicherung. Schöne soziale Absicherung

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