Es ist so eine Meldung aus dem sächsischen Kultusministerium, die eher verwirrt, als Klarheit bringt. Auch wenn sie in dieser Form verblüfft, weil man so viel Einsicht aus der sächsischen Regierung lange nicht gehört hat: „Schülerzahlen steigen in Sachsen deutlicher als erwartet“, meldete das Kultusministerium am Freitag, 22. April.

Dass die Meldung in dieser Form überhaupt kam, hat mit der jüngsten Bevölkerungsvorausschätzung des Statistischen Landesamtes zu tun, die am 19. April veröffentlicht wurde und aussah, als wäre ein Wunder passiert. Zum ersten Mal wurde offiziell zur Kenntnis genommen, dass Sachsen seit zwei Jahren nicht mehr schrumpft, dass die Geburtenzahlen höher ausfallen als noch 2011 und 2013 prognostiziert, und dass eine Stadt wie Leipzig das Zeug zur 600.000 haben könnte.

Tags drauf stellten ja bekanntlich die Leipziger Statistiker fest, was sie von der Landesprognose halten: nicht viel. Zumindest, was die Leipziger Zahlen betrifft.

Denn auch die neue Landesprognose leidet darunter, dass sie den eigentlichen Haupttrend der demografischen Entwicklung komplett ignoriert: nämlich dass das sächsische Wachstum nur das Wachstum der Großstädte ist. Der Rest des Landes schrumpft weiter oder profitiert, wenn er direkt angebunden ist, vom Wachstum der Großstädte.

Deswegen ist es natürlich völlig sinnfrei, wenn das Kultusministerium jetzt ein imaginäres Wachstum der Schülerzahlen auf Landesebene feiert, auch wenn es die Schülervorausberechnung direkt beim Landesamt für Statistik in Auftrag gegeben hat.

Das hat versucht, den Trend in zwei Varianten zu erfassen: In einer Minimalvariante (untere Variante), die von einer moderaten Zuwanderung ausgeht, steigt die Zahl der Schüler im nächsten Schuljahr auf rund 396.600. Das sind 6.700 Schüler mehr als das Statistische Landesamt im Jahr 2010 noch vorausberechnet hatte. Bis zum Schuljahr 2019/2020 steigt die Schülerzahl auf 412.000. Die ältere Prognose ging noch von 393.200 Schülern aus. Damit werden im Schuljahr 2019/2020 bis zu rund 18.800 Schüler mehr erwartet als bisher angenommen.

In einer Maximalvariante (obere Variante), die von einer deutlich höheren Zuwanderung ausgeht, fallen die Schülerzahlen noch höher aus. Danach steigen die Schülerzahlen zum Schuljahr 2016/2017 auf 404.600. Im Schuljahr 2019/2020 geht diese Prognose von 436.900 Schülern aus. Das sind 43.700 Schüler mehr als noch vor sechs Jahren vorausgesagt.

Beide Varianten gehen auch in den darauffolgenden Jahren von steigenden Schülerzahlen aus. Der unteren Variante zufolge nehmen die Schülerzahlen bis zum Schuljahr 2026/2027 auf 429.200 zu. Danach sinkt die Zahl der Schüler wieder. In der oberen Variante wird der Höhepunkt bei den Schülerzahlen mit 456.500 Schülern ein Jahr später erwartet. Danach nehmen auch in dieser Vorausberechnung die Schülerzahlen wieder ab.

Zumindest bei der Planung für die Lehrer will das Kultusministerium die Zahlen jetzt berücksichtigen: Auf Grundlage der neuen Schülerzahlvorausberechnung soll das Lehrerpersonalentwicklungskonzept 2020 erstellt werden.

Doch das Problem ist: Der Zuwachs an Schülern wird fast ausschließlich in den Großstädten erfolgen. Da und dort werden sich in den ländlichen Räumen einige Schulstandorte stabilisieren – andere werden weiter mit Mindestschülerzahlen kämpfen.

Aber in Städten wie Leipzig wird die Schülerzahl rasant wachsen. Klar hat das was mit den wachsenden Geburtenzahlen zu tun. Aber die konzentrieren sich in Dresden und Leipzig. In Leipzig ist die Geburtenzahl von 2005 bis 2015 von 4.300 auf 6.600 gestiegen. Das allein sind schon mehr als 2.000 Kinder mehr im Jahr. Die neue Bevölkerungsvorausschätzung für Leipzig geht von 7.500 Geburten pro Jahrgang in den nächsten Jahren aus. Allein das sorgt dafür, dass Leipzig in den nächsten Jahren mindestens 20 neue Schulen brauchen wird. Und entsprechend mehr Lehrer.

Schon seit 2011 steigt die Leipziger Schülerzahl jedes Jahr um rund 2.000. Das sind vier Schulen, die pro Jahr eigentlich neu eröffnen müssten.

Dabei sorgen die in Sachsen angekommenen Flüchtlinge natürlich auch für einen Sondereffekt. Aus dem Blog des Kultusministeriums zitiert: „Die zweite Ursache sind die nicht vorhersehbaren Flüchtlingsströme. Damit stieg vor allem in den letzten zwei Jahren die Zahl der Schüler in Vorbereitungsklassen. So sind die Statistiker 2010 noch von rund 800 Schülern pro Jahr in Vorbereitungsklassen an Grund- und Oberschulen ausgegangen. Aktuell sind es jedoch rund 5.900 Schüler an Grund- und Oberschulen, sowie knapp 2.300 Schüler an berufsbildenden Schulen.“

Dass die Leute, die den Blog pflegen, nicht viel nachdenken über das, was sie da schreiben, zeigt die Formel „nicht vorhersehbare Flüchtlingsströme“. Damit hat man mal wieder ein Frame aus dem rechtspopulistischen Sprachgebrauch übernommen. Völlig sinnloserweise. Denn 41.000 Flüchtlinge in Sachsen sind kein „Strom“. Dass es trotzdem als Überforderung empfunden wurde, hat mit einer katastrophalen Bürokratie zu tun, die – wie hier zu lesen ist – auch völlig unfähig ist, absehbare Entwicklungen „vorherzusehen“. So erst entstand die ganze Aufgeregtheit in der zweiten Jahreshälfte 2015, obwohl sich die Entwicklung seit über einem Jahr abgezeichnet hatte. Man hätte sich vorbereiten können.

Aber dazu müsste man aus einer Politik der Wunschvorstellungen herauskommen und wieder den Blick für reale Entwicklungen finden.

Und dazu gehört auch, dass sich in Sachsen die Gewichte immer stärker verschieben hin zu einem Wachstum der Metropolkerne – die durchaus das Zeug hätten, auch echte Metropolen zu werden und damit auch die Gesamtregion wieder mitzunehmen.

Die Schülerzahlen in ganz Sachsen steigen übrigens schon seit 2010. 2009 gingen nur 301.252 Schüler in Sachsens allgemeinbildende Schulen. Ein Jahr später waren es schon 8.000 mehr, 2013 waren es schon 335.866 und noch immer weigerte sich die sächsische Regierung, bei der Lehrereinstellung die Weichen umzulegen. Als das endlich 2015 passierte, gingen schon wieder 351.700 Kinder und Jugendliche in die sächsischen Schulen. (Die Zahl ist niedriger als die 389.000 aus der Prognose, weil hier die Berufsschulen nicht enthalten sind.)

Das Kultusministerium hätte überhaupt keine Extraprognose bestellen müssen, um mitzukriegen, dass die Entwicklung seit 2010 eine andere war. Bis 2012 hat man die Zahl der Lehrer immer weiter abgebaut. Erst seit 2013 steigt deren Zahl wieder, wenn auch viel zu langsam, um die aufgerissenen Lücken zu stopfen.

In eigener Sache

Jetzt bis 13. Mai (23:59 Uhr) für 49,50 Euro im Jahr die L-IZ.de & die LEIPZIGER ZEITUNG zusammen abonnieren, Prämien, wie zB. T-Shirts von den „Hooligans Gegen Satzbau“, Schwarwels neues Karikaturenbuch & den Film „Leipzig von oben“ oder den Krimi „Trauma“ aus dem fhl Verlag abstauben. Einige Argumente, um Unterstützer von lokalem Journalismus zu werden, gibt es hier.

Überzeugt? Dann hier lang zu einem Abo …

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar