Die nicht ganz unwichtige Frage für Leipzig lautet: Schafft es die Stadt, die Strukturen aufzubauen, die sie als 700.000-Einwohner-Metropole braucht? Oder schafft sie es nicht? Das ist kein Automatismus. Auch das explosive Wachstum der Gegenwart kann verebben, wenn die Widerstände zu groß werden. Und zwei Widerstände sind jetzt schon spürbar: Die zunehmende Enge auf dem Wohnungsmarkt und die Grenzen des ÖPNV.

Eins hängt mit dem anderen zusammen. Denn es sind die Arbeitsplätze, die in Leipzig entstehen, die tausende, vor allem junge Menschen, dazu bringen, entweder nach Leipzig zu pendeln oder sich hier ganz eine Wohnung zu suchen. Denn die meisten Leipziger Arbeitsplätze befinden sich nicht außerhalb der Stadt in abgelegenen Gewerbegebieten, sondern im Herzen der Stadt. In aller Stille haben sich all die vor 15 und 20 Jahren hingeklotzten Bürogebäude gefüllt mit Unternehmen, die selten bis nie genannt werden, wenn über Leipziger Wirtschaft geredet wird.

Auch in Leipzig werden die Hauptumsätze nicht in der Industrie erbracht, auch wenn die großen Industrieleuchttürme mit Porsche und BMW im Norden bitter nötig sind, um die Lokomotive überhaupt zum Dampfen zu bringen.

Denn erst solche großen Produzenten erzeugen in ihrem Umfeld ein Netz von Dutzenden mittleren und kleinen Zulieferern und Dienstleistern, initiieren damit nicht nur weitere Arbeitsplätze, sondern auch Forschung und Entwicklung. Und weiter folgend wieder Dienstleistungsunternehmen, die so gern als „wirtschaftsnah“ beschrieben werden.

Bei den Zahlen zum Brutto-Inlands-Produkt hängen die Statistiker immer heftig hinterher. Aber mal auf die Zahlen von 2012 geschaut, werden wenigstens die Verhältnisse deutlicher:  Die Industrie trug mit 1,5 Milliarden Euro zur Wertschöpfung in Leipzig bei, die insgesamt bei 15,5 Milliarden Euro lag. Die Dienstleistung – ohne Handel, Gastgewerbe und Verkehr, die in Leipzig gern genannt werden, wenn es um die „Zugpferde“ geht – brachte insgesamt 8 Milliarden Euro bei.

Dazu gehören neben den vielen Callcentern, die es in Leipzig gibt, auch solche ganz speziellen Firmen wie zum Beispiel die Rohde & Schwarz Cybersecurity, deren Leipziger Niederlassung im Mai ins City-Hochhaus zog, wo ja auch ein anderer so gänzlich untypischer Vertreter der Leipziger Wirtschaftslandschaft sitzt – die Energiebörse eex. Nur lässt sich all das, was in diesem vor allem wissens- und informatikgetriebenen Teil der Wirtschaft passiert, nicht so schön bebildern wie eine moderne Auto-Fließstrecke, ein startender Frachtflieger oder eindrucksvolle Trucks. Man sieht immer nur Menschen in Büros vor Bildschirmen sitzen.

Aber genau das ist die eigentliche Leipziger Wirtschaftszukunft. Und ihr kommt entgegen, dass an mehreren Hochschulen und Universitäten in Leipzig die nötigen klugen Köpfe dafür ausgebildet werden.

Deswegen ist es durchaus bemerkenswert, dass Heidrun Schellbach im neuen Quartalsbericht davon berichten kann, dass wieder so viele Studierende in Leipzig immatrikuliert sind wie zuletzt 2013. Und den Hauptzuwachs gab es an der Universität Leipzig, die besonders gebeutelt wurde von den Kürzungsvorgaben beim Lehrpersonal. Diese Umstrukturierungen sind noch nicht zu Ende und auch noch nicht ausgestanden. Aber gerade diese jungen Leute bilden einen Kern jenes wachsenden Leipzig, das bislang auch immer experimentier- und gründerfreudig war. Die Großstädte in Deutschland wachsen nun einmal auch deshalb, weil sie gut ausgebildeten Hochschulabsolventen Jobs und Zukunft bieten können. Da hilft alles Wehklagen um die verlassenen ländlichen Regionen nichts: Noch hat niemand ein Rezept gefunden, gut ausgebildete Menschen, die auf einen hohen Input an Informationen, Kontakten und Kultur angewiesen sind, eine echte Alternative in kleineren Städten zu bieten.

Da helfen auch keine Breitbandleitungen in jedem Dorf. Das haben zumindest die Pragmatiker schon begriffen – die Politiker noch nicht. Selbst moderne Produktion braucht die logistische Anbindung, die gute ÖPNV-Erschließung und den direkten Kontakt mit Kollegen. Das ist auch im viel gepriesenen Silicon Valley nicht anders. Nur fahren augenscheinlich immer wieder die falschen Leute hin, um sich das anzuschauen.

Apropos ÖPNV: Wissen wir darüber etwas?

Über die S-Bahn-Nutzung wissen wir wenig. Die Bahn meldet leider keine regelmäßigen Zahlen, obwohl das in diesem Fall wahrscheinlich Zahlen einer Erfolgsgeschichte wären. Die S-Bahn funktioniert und hat mit großer Wahrscheinlichkeit ab Dezember 2013 einen Teil des Leipziger ÖPNV-Bedarfs aufgefangen.

Das führte bei den Leipziger Verkehrsbetrieben (LVB) zu einem 2014 recht deutlichen Rückgang der Passagierzahlen von 142 Millionen auf 136 Millionen, hat also das bestehende Bus- und Straßenbahn-Netz erst einmal entlastet. Für 2015 melden die LVB nun wieder einen Anstieg der Passagierzahlen auf 138,2 Millionen, einen Anstieg um 1,4 Prozent, während die Leipziger Einwohnerzahl um 2,9 Prozent anstieg. Den Effekt konnte man auch schon in den Vorjahren beobachten: Der ÖPNV wächst nicht so schnell mit wie die Bevölkerung.

Da könnte man vermuten, die Leute fahren dann eben alle mit dem Auto. Steigen denn nicht die Pendlerzahlen deutlich?

Aber augenscheinlich spiegelt sich das nicht unbedingt auch in drastisch steigenden Pkw-Zahlen. Vielleicht, weil sich hier der dritte Widerstand fürs Stadtwachstum zeigt: Wo Parkplätze fehlen, wird der Erwerb eines Pkw zum Risiko.

Natürlich wuchs der Pkw-Bestand trotzdem, wie Andrea Schultz in einem eigenen Beitrag ausführt – von 193.719 privaten Pkw auf 197.130. Immerhin ein Plus von 1,7 Prozent.

Aber das bedeutet trotzdem, dass der durchschnittliche Pkw-Besitz weiter sank. 2012 war der Rekordstand von 385 Pkw auf 1.000 Einwohner ereicht, 2014 sank er erstmals auf 384 und 2015 auf 381. Der Pkw ist also nicht unbedingt das Verkehrsmittel der Wahl. Und wüssten wir nicht aus früheren Untersuchungen, dass die jungen Leute dann lieber das Fahrrad nehmen, als die zumeist sehr ungünstig fahrenden und nicht gerade billigen Fahrzeuge der LVB zu nutzen, würden wir natürlich ins Grübeln kommen.

Aber selbst diese Entwicklungen zeigen, dass Leipzig sich auch in Mobilitätsfragen gründlich ändern muss. In Integrationsfragen sowieso.

Dazu kommen wir im nächsten Beitrag.

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