Am Dienstag, 5. Juli, um 21 Uhr, ging es im ZDF-Magazin „Frontal 21“ um das Thema „Berlin ist Hauptstadt der ‚Hartz-IV-Aufstocker‘“. Für Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) war das ein Anlass, mal eine Liste zu erstellen: Wie sieht es denn tatsächlich aus mit „Aufstockern“ in Städten und Landkreisen?

„Aufstocker“ – das sind die Menschen, die trotz eines sozialpflichtigen Arbeitsplatzes noch einen Antrag beim Jobcenter stellen müssen, weil das verdiente Geld nicht reicht, um die täglichen Ausgaben zu sichern. Oder trotz ALG I, auch das gibt es, dass das normale Arbeitslosengeld noch aufgestockt werden muss um ALG II, damit überhaupt eine vernünftige Lebenssicherung gegeben ist. Das ist peinlich genug, zeigt aber ziemlich genau, in welchen Branchen und Regionen das Lohnniveau in den letzten Jahren besonders niedrig war.

Die Zahlen, die Paul M. Schröder zur Verfügung hat, stammen vom September 2015. Der Mindestlohn hat also schon ein Dreiviertel Jahr gewirkt. Andererseits ist es auch nur eine Momentbeschreibung. Denn wie Schröders Tabelle zeigt, ist vor allem der Osten betroffen von niedrig entlohnten Erwerbstätigkeiten. Und gerade dort hat der Mindestlohn ja eine Entwicklung bestärkt, die so langsam auch den Sockel der „Aufstocker“ abschmelzen lässt, weil nun einmal die prekär bezahlten Jobs zunehmend in direkter Konkurrenz zu besser bezahlten Jobangeboten stehen.

Aber so schnell geht es dann doch nicht, dass nicht im September 2015 noch sichtbar gewesen wäre, wo sich das Thema ballt. In Berlin natürlich. Auch in absoluten Zahlen: Hier wurden 60.658 erwerbstätige Leistungsberechtigte gezählt, die aufstocken mussten, fast ein Drittel der in ganz Ostdeutschland 194.793 Registrierten.

Schröder hat aber, um die Zahlen wirklich vergleichbar zu machen, mal nicht die Aufstocker-Quote auf die Leistungsberechtigten genommen, sondern den prozentualen Anteil der Aufstocker an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ausgerechnet.

Wenn er dabei auf eine Quote von 5,02 Prozent für Berlin kommt, bedeutet das, dass praktisch jeder 20. sv-pflichtige Job so niedrig entlohnt wurde, dass der Beschäftigte trotzdem noch ergänzend Leistungen beim Jobcenter beantragen musste.

Es wird dabei in Berlin nicht anders gewesen sein als in Sachsen: Vor allem viele Mini- und Midi-Jobber mussten noch extra ALG II beantragen, um über die Runden zu kommen. Die 5 Prozent erzählen also von einem recht klar eingrenzbaren prekären Lohnbereich, der in den Jahren davor noch viel größer war.

Dass gerade der Osten ab 2005 regelrecht zum Experimentierfeld für prekäre Jobmodelle geworden ist, haben wir in dieser Rubrik schon mehrmals beleuchtet.

Es ist also keine Überraschung, wenn die so berechnete Aufstockerquote an allen sv-pflichtig Beschäftigten im Osten doppelt so hoch ist wie im Westen: 3,23 Prozent im Osten, 1,60 Prozent im Westen. Unter den Bundesländern landet Sachsen nach den Berechnungen von Paul M. Schröder mit 2,68 Prozent sogar im Mittelfeld auf Rang 7. Im Osten ist das – hinter Thüringen mit 2,28 – sogar die zweitniedrigste Quote. Was auch mit dem starken Beschäftigungsaufbau in Sachsen seit 2010 zu tun hat: Die neuen Jobangebote, die da vor allem in den Großstädten entstanden sind, liegen in der Bezahlung meist deutlich überm Mindestlohnsatz. Unternehmen, die wirklich ernsthaft nach gutem Personal suchen, brauchen unter 10 oder 12 Euro die Stunde gar nicht erst anfangen zu werben.

Natürlich unterscheidet sich die Lage zwischen Landkreisen und Großstädten noch deutlich. In vielen sächsischen Landkreisen suchen die Unternehmen selbst dann vergeblich nach Fachkräften, wenn sie bessere Lohnbedingungen bieten. Die jungen Leute sind in die Großstädte abgewandert.

Leipzig taucht in Schröders Liste freilich noch ganz weit vorn auf, wenn es um die Aufstockerquote geht. Bei den Großstädten liegt es mit 8.217 Aufstockern und einer Quote von 3,85 Prozent gleich hinter Berlin auf Rang 2 – vor Bremen mit 3,51 und Dortmund mit 3,31 Prozent. Dresden landet in der Liste auf Rang 8 mit 5.959 Aufstockern und 2,82 Prozent.

Wenn man alle 400 Landkreise und Kreisfreien Städte nimmt, landet Leipzig immer noch auf Rang 15. Aber man sieht auch, dass eine ganze Reihe ostdeutscher Städte so ihre Schwierigkeiten haben mit den verfestigten Niedriglohn-Strukturen – Frankfurt/Oder führt zum Beispiel mit 5,08 Prozent die Gesamtliste an und auch Cottbus, Rostock, Erfurt und Halle haben höhere Prozentwerte als Leipzig.

Unübersehbar ist aber auch, dass Landkreise an der Spitze dieser Tabelle nicht auftauchen. Denn dasselbe, was in Sachsen längst passiert (und eigentlich seit 2005 unübersehbar ist) passiert in der ganzen Bundesrepublik: Die Arbeitsplätze der Gegenwart entstehen fast alle in den großen Städten bzw. in ihrem direkten Umfeld. Damit wandern nicht nur die Arbeitsplätze aus den ländlichen Regionen ab, sondern auch die Erwerbstätigen – manche von ihnen richtig, indem sie auch ihren Wohnsitz verlegen. Viele aber pendeln dann lieber oder ziehen in den Speckgürtel der großen Städte.

Die prekären Jobs sind natürlich auch fast ausschließlich in den Großstädten entstanden. Denn die meisten sind Dienstleistungsjobs, die nun einmal eine gewisse Kundschaft im Umfeld voraussetzen.

Es kann durchaus passieren, dass Berlin seinen Titel als „Aufstocker“-Hauptstadt bald abgeben kann. Nicht unbedingt, weil jetzt andere Städte (wie Bremen oder Offenbach) dran vorbeiziehen, sondern weil die Zahlen insgesamt sinken. Was natürlich viele Kämmerer sich jetzt schon seit Jahren dringend wünschen. Denn auch die „Aufstocker“-Problematik belastet die Sozialhaushalte der Kommunen.

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