Das Argument, Deutschland brauche Zuwanderung, um seinen Fachkräftebedarf zu decken, ist bislang das einzige, das von Seiten der Wirtschaft unterstützt wird, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Die Zahlen dazu selbst stammen aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das der Bundesagentur für Arbeit angegliedert ist. 400.000 Menschen müssten jedes Jahr zuwandern, um das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland zu sichern.

Johann Fuchs und Alexander Kubis vom IAB versuchen im neuen Quartalsbericht zu erläutern, wie sie auf diese Zahlen kommen. Neu ist das alles nicht. Auch die bärbeißigsten Politiker wissen, dass Deutschland ein echtes Nachwuchsproblem hat: Seit Jahrzehnten werden zu wenige Kinder geboren. Eine Geburtenrate von 1,4 Kindern je Frau ist schlicht zu wenig. Dazu kommt, dass jetzt so langsam die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und frühen 1960er Jahre in Rente gehen, dem Arbeitsmarkt also noch mehr Arbeitskräfte entzogen werden.

Da würden auch Zuwanderungsraten von 200.000 oder 300.000 pro Jahr nicht reichen. Und selbst wenn die Erwerbstätigen in Deutschland jetzt wieder länger arbeiten – nicht nur übers 65. Lebensjahr hinaus, sondern auch über die 40-Stunden-Woche hinaus – reicht es nicht, um den Rückgang auszugleichen.

Möglich, dass neue Effizienzgewinne durch Computerisierung in vielen Branchen dafür sorgen, dass Arbeitskräfte frei werden. Aber wer die Skandalisierungen zu diesem Thema in den Medien liest, merkt, dass das eher als weitere Gefahr empfunden wird, nicht als Chance. Was auch damit zusammenhängt, dass die so wichtigen Einkommenssteuern trotzdem wegfallen und zur Sicherung des gesellschaftlichen Wohlstands fehlen. Nicht einmal die verstärkte Erwerbstätigkeit von Frauen würde das Dilemma lösen – eher sogar verschärfen, denn nach wie vor sind die meisten Arbeitsplätze nicht familienfreundlich. Die Geburtenraten sind ja nicht gefallen, weil junge Männer und Frauen auf einmal zu Egoisten geworden wären, die keine Kinder mehr wollen.

Selbst das Kinderkriegen hat mit dem wirtschaftlichen Umfeld zu tun. Und in den Keller gerauscht sind die Geburtenraten in der Bundesrepublik, weil eine von Gier besessene Wirtschaftsdenkart große Teile des Arbeitsmarktes regelrecht verheert hat. Vollwertige Arbeitsplätze wurden zu Hunderttausenden in prekäre Arbeitsverhältnisse verwandelt, in denen keine verantwortungsvollen Eltern eine ambitionierte Familienplanung angehen können.

Die schrillen Lieder von rechten Parteien in Sachen Familie machen erst recht deutlich, dass das schön gemalte Familienbild aus der Mottenkiste nichts mit der modernen Arbeitswelt zu tun hat.

Aber das ist ein Thema, mit dem sich das IAB nicht beschäftigt, von dem man schon seit geraumer Weile nicht mehr recht weiß, wessen Lied dieses Institut eigentlich singt. Bei der Bundesarbeitsagentur weiß man es ja auch nicht mehr. Das Lied der von Erwerbslosigkeit oder prekärer Beschäftigung Betroffenen jedenfalls nicht.

Aber wenn man nur ein wenig an der Oberfläche kratzt, zeigt sich, dass auch der Versuch, das Arbeitskräftedilemma über Zuwanderung lösen zu wollen, nur eine Nebelwand ist. Denn die Zuwanderung nutzt ja nichts, wenn sich die Arbeitsagenturen nicht in wirklich professionelle Qualifizierungs- und Vermittlungsinstitute verwandeln. Das sind sie nämlich nicht. Selbst das Besorgen eines neuen Arbeitsplatzes hat man wegdelegiert. Die Agentur, deren Chef wie ein Held gefeiert wird und der mit demselben bürokratischen Denken gerade beim Bundesamt für Migration scheitert, ist zu einem bürokratischen Monstrum geworden, das Erwerbslose als Züchtigungsmasse begreift, nicht als Potenzial, wie immer wieder behauptet wird.

Und deswegen gibt es auch keine professionalisierten Integrationsmodelle für alle Menschen, die nach Deutschland einwandern – egal, aus welcher Himmelsecke. Schon bei den simpelsten Integrationsangeboten stoßen diese Menschen auf einen Flickenteppich von Angeboten und überbordende Bürokratie und landen in endlosen Warte- und Genehmigungsschleifen.

Deswegen sind alle berechneten Zuwanderungszahlen eher ein Witz, gerade bei einer praktizierten Politik der Abgrenzung und Abschiebung.

Es wird also genau auf den Gebieten bürokratisch blockiert, wo die beiden IAB-Autoren mögliche Stellschrauben sehen, das Arbeitskräftepotenzial auch ohne 400.000 Zuwanderer im Jahr zu sichern. Denn wie bekommt man eine so deutlich erhöhte Geburtenrate von 1,86, wenn man nicht wirklich eine familienfreundliche Wirtschaftslandschaft hat? Und wie will man die Erwerbsquote von Ausländerinnen erhöhen, wenn man für sie kein professionelles Vermittlungsprogramm hat?

Was auf den Aspekt verweist, der heute die Angstmache der Rechtspopulisten befeuert: Was passiert denn, wenn die nach Deutschland Gekommenen sich dann gettoisieren, sich in sozialen Brennpunkten sammeln und sich dort hohe Arbeitslosigkeit dauerhaft manifestiert, eng gekoppelt mit schlechten Bildungschancen der Kinder?

Die Populisten würden sich des Problems am liebsten dadurch entledigen, indem sie alles abschieben, was ihnen fremd ist.

Aber dann produzieren sie genau das, was die IAB-Statistiker für den Fall ausrechnen, dass Deutschland keine Zuwanderung mehr hat: Dann bricht das Arbeitskräfteangebot schon ab 2020 zusammen und aus einem jetzt schon in einigen Branchen vermeldeten Arbeitskräftemangel wird eine Arbeitskräftekatastrophe.

Wobei Fuchs und Kubis betonen, dass eine Zuwanderungsrate mit einem positiven Saldo von 200.000 in den vergangenen Jahren immer der normale Durchschnitt für die Bundesrepublik war. Erst diese Zuwanderung – auch aus vielen EU-Ländern – hat überhaupt dafür gesorgt, dass der Arbeitsmarkt nicht ins Trudeln kam. Im Gegenteil: Die Zuwandernden haben selbst für das Entstehen hunderttausender neuer Arbeitsplätze gesorgt. Und für jungen Nachwuchs – auch und gerade im Dienstleistungsbereich.

Das wird gern vergessen, dass die alternde Bevölkerung in Deutschland deutlich mehr Dienstleistungen braucht. Und die kann eine schrumpfende jüngere Bevölkerung nicht noch zusätzlich leisten. Wenn wir unsere Alten nicht in andere Länder exportieren wollen, muss der Arbeitsmarkt der Bundesrepublik zwangsläufig geöffnet sein für Zuwanderung.

Und was in Leipziger Quartalsberichten nie fehlt, ist natürlich die Tatsache, dass Zuwanderung aus dem Ausland vor allem in die Großstädte hinein erfolgt, wo es nicht nur die besseren Integrationsangebote gibt, sondern auch die besseren Chancen auf einen Arbeitsplatz. Und auch der Leipziger Arbeitsmarkt ist hungrig.

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