Nun wird einiges klarer. Wenn Politiker noch lamentieren und handeln wie die Pferdehändler und glauben, sie könnten wichtige Entscheidungen einfach in eine Billigpackung verwandeln, handeln die Bürger. Müssen sie auch. Sie haben überhaupt keine Zeit, auf die von Ignoranz blockierter Politiker zu warten. Sie packen ihre Sachen und gestalten ihr Leben. Der neue Quartalsbericht zeigt, was da 2016 in Leipzig passiert ist.

Denn eigentlich war die Nachricht ja positiv: Leipzig ist 2016 wieder um 11.684 Einwohner gewachsen. Andere Großstädte hätten über so eine Zahl gejubelt. Noch immer ist Leipzig die am stärksten wachsende Stadt weit und breit.

Wieder gab es (für Nach-Wende-Jahre) einen neuen Geburtenrekord mit 6.873 Neugeborenen. Weil nur 6.005 Leipziger starben, sorgte allein das schon für ein Bevölkerungswachstum von 868.

Dazu kam die Zuwanderung: 40.053 Menschen zogen nach Leipzig, 26.859 zogen fort. Das macht nach Adam Ries ein Wanderungsplus von 13.193.

Hoppla, sagt da der kleine Mathematiker: Warum war dann der Gesamtzuwachs deutlich niedriger?

Das liegt daran, so betont Ruth Schmidt, die Leiterin des Amtes für Statistik und Wahlen, dass 2016 wieder einmal das Einwohnermelderegister gründlich bereinigt werden musste. Über 2.400 Einwohner mussten aus dem Melderegister gestrichen werden, weil sie schlicht nicht mehr hier wohnen. Solche Melde-Fehler schleichen sich immer wieder ein, weil augenscheinlich viele Menschen vergessen, sich abzumelden, wenn sie umziehen. Und es waren nicht die Ausländer, die diesmal für diese Registerbereinigung hauptverantwortlich waren, betonen die Statistiker. Die Schusseligen stammen augenscheinlich fast alle aus heimischen Gefilden.

Was einen wieder daran erinnert, dass das ach so moderne Deutschland bis heute keine zentrale Einwohnerregistratur hat –– wie die Schweiz zum Beispiel. Es genügt nicht, sich beim Umziehen bei einem Amt zu melden oder das Ganze gar elektronisch abzuwickeln. Man muss zu einem Dutzend Ämtern latschen. Dass dazu viele Leute keine Lust haben, ist nur zu verständlich. Erst recht in einem Zeitalter, in dem eine elektronische Datenverwaltung diese ganzen zeitfressenden Behördenakte ersparen könnte.

Das Ergebnis sind dann freilich auch Bevölkerungszahlen, die eher Wahrscheinlichkeitsrechnungen sind, die sich nicht automatisch fortschreiben und die immer wieder mit ebenso grobmaschigen Instrumenten wie dem „Zensus“ irgendwie korrigiert werden müssen.

Eigentlich müssten wir konsequent schreiben: Mutmaßlich lebten Ende 2016 so ungefähr 579.000 Menschen in Leipzig.

Aber nehmen wir die Zahlen, wie sie sind. Die Zahlen aus dem Leipziger Melderegister sind noch allemal belastbarer als die Zahlen, die das Landesamt für Statistik herausgibt – auch wenn es derzeit gar keine herausgibt. Ursache sei eine Software-Umstellung, teilt das Landesamt mit: „Die derzeitige Verzögerung ergibt sich aufgrund zwei grundlegender Neuerungen. Zum einen werden die Bevölkerungsstatistiken auf ein neues technisches Aufbereitungsverfahren umgestellt. Zum anderen ändert sich für die Wanderungsstatistik der Standard der Datenlieferung von den Meldebehörden an die Statistikämter. In beiden Bereichen gibt es Verzögerungen bei der Softwareerstellung.“

Da möchte man gar nicht erst fragen, wer da bei der Vorbereitung der neuen Aufbereitungsprozesse getrieft und gepennt hat.

Aber warum ist nun das Leipziger Wachstum binnen Jahresfrist von über 16.000 auf knapp 11.684 zusammengeschnurzelt? War es wirklich nur die Registerbereinigung? Ist es der Rückgang der Flüchtlingszahlen, die in Leipzig angekommen sind?

Immerhin machen sich ja Leipzigs Statistiker große Gedanken. Im seit Mittwoch, 15. März, vorliegenden „Quartalsbericht IV/2016“ beschäftigt sich ein ganzer Beitrag mit der „Evaluierung der Bevölkerungsvorausschätzung 2016“. Diese Prognose hatte ja für Leipzig enorme Wachstumszahlen bis 2030 vorausgesagt mit 680.000 Einwohnern im Minimal-Fall, 780.000 in der Maximalvariante und dem Mittelwert, der seitdem Druck auf die Politik ausübt: 720.000 Einwohner.

Aber die Prognose hatte für 2016 auch 584.100 Einwohner vorausgesagt. Geworden sind es aber nur 579.530.

Da müssen in der Vorausberechnung also irgendwie Fehler gemacht worden sein, vermutet Ruth Schmidt. Wenn Leipzig so wächst wie 2016, dann beschreitet die Stadt bis 2030 nicht mal die Minimalvariante. Dann wird es keine 720.000 Einwohner geben, auch keine 700.000.

Aber wer den Quartalsbericht durchblättert, der sieht nicht nur die Registerbereinigung als Grund für den Rückgang. Denn dass die Bevölkerungszahl langsamer wuchs, hat vor allem mit den verstärkten Wegzügen zu tun.

2015 kamen auf 40.963 Zuzüge noch 24.294 Wegzüge. Was dann einen Saldo von 16.669 ergab. Allein durch Zuzüge hat Leipzig 2015 noch 16.669 Einwohner dazugewonnen.

2016 aber kamen auf 40.052 Zuzüge dann schon 26.859 Wegzüge. Der Saldo schmolz also auf 13.193 zusammen.

Allein bei der Zuwanderung hat Leipzig also über 3.000 mögliche Einwohner eingebüßt. Und zwar die meisten an Gebiete im Freistaat Sachsen. Ein Novum, auf das Ruth Schmidt sogar hinwies: Seit Jahren hatte Leipzig mit den anderen sächsischen Regionen immer einen positiven Wanderungssaldo. 2016 ist er erstmals ins negative gekippt. Aber nicht, weil die Leute ins Vogtland oder die Lausitz gezogen wären, sondern weil sie in die beiden angrenzenden Landkreise gezogen sind. In Städte wie Markkleeberg, Borna, Markranstädt. Die Suburbanisierung ist im Gange.

Und die Vermutung liegt nahe, dass sie direkt mit der Leipziger Wohnungspolitik zusammenhängt: Immer mehr Wohnungssuchende finden in Leipzig keine passende Wohnung mehr. In vielen wichtigen Segmenten fehlt es – bei Single-Wohnungen genauso wie bei Wohnungen für Familien. Die verdruckste Wohnungsförderungspolitik des Freistaats macht sich augenscheinlich mit sofortiger Wirkung in der Leipziger Wanderungsstatistik bemerkbar. Wohnungssuchende, die in der von Knappheit dominierten Wohnungslandschaft Leipzigs kein passendes Angebot mehr finden, ziehen (wieder) ins Umland und lassen dort die Bevölkerungszahl steigen.

Was für die Landkreise nicht abträglich ist. „Sie sind die Gewinner“, sagt Ruth Schmidt. „Sie ziehen zwangsläufig mit uns mit.“

Dass der Wohnungsmarkt in Leipzig trotz minimaler Leerstände noch so entspannt aussieht, hat also nur damit zu tun, dass in den Nachbarkreisen noch gut erreichbarer Wohnraum verfügbar ist.

Wenn Leipzig also keine 700.000 Einwohner erreicht, liegt das nicht an der fehlenden Zuwanderung, sondern am nicht existenten bezahlbaren Wohnraum für junge Leipziger. Die fahren dann – wenn sie es gut gewählt haben – mit der S-Bahn zur Arbeit nach Leipzig. Oder sie verstopfen mit dem Auto die Straßen im Arbeitsverkehr.

Dass dahinter irgendeine durchdachte Politik steht, kann uns eigentlich niemand erzählen. Es ist eher eine unprofessionelle chaotische Politik. Die verantwortlichen Politiker haben nur das Glück, dass die betroffenen Menschen selbstständig Lösungen für das Dilemma suchen. Auch wenn es manchmal ziemlich grenzwertige sind.

Mit Arbeit in Leipzig machen wir im nächsten Teil der Serie zum neuen Quartalsbericht weiter.

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