Da warnen wir mit großem Mund vor der Vergreisung einer Welt, in der die Menschen zunehmend an Zivilisationskrankheiten leiden. Meinen wir das ernst? Natürlich. Leipzig ist nicht ohne Grund ein Zentrum der Erforschung von Zivilisationskrankheiten in Deutschland. Dazu gehört auch das mehr oder weniger krankhafte Übergewicht. Der neue Quartalsbericht enthält auch die Zahlen zur Adipositas. Halten Sie sich fest. Den Doppelwhopper jetzt vorsichtig ablegen, die Brause abstellen, noch schnell drei Kniebeugen, eine Runde um den Schreibtisch.

Die Botschaft: Leipzig wird immer fetter.

Es wäre ja schön, wenn man melden könnte: All die Präventionsprogramme, über die immer geredet wird, greifen. Die Leipziger treiben mehr Sport, kaufen bewusster ein, verzichten auf Fleisch, Zucker und Fett, essen dafür mehr Obst und Gemüse und reduzieren vor allem die vielen sitzenden Tätigkeiten.

Tun sie aber nicht.

Das aus den Bürgerumfragen 2013, 2015 und 2016 ablesbare Ergebnis: Der Anteil der Übergewichtigen in allen Altersgruppen steigt. Außer bei den ganz Alten, den 65- bis 85-Jährigen. Was aber nicht mit einem gesünderen Leben der ganz Alten zu tun hat, sondern wohl eher damit, dass übergewichtige Menschen früher sterben und die Leichtgewichtigen hingegen immer älter werden und damit auch in dieser Altersgruppe ein stärkeres Gewicht bekommen. Rein rechnerisch.

Denn die Mehrheit in dieser Altersgruppe bilden eindeutig die Übergewichtigen mit 64 Prozent. Ein wenig den Fokus verändert auf die Rentner und Pensionäre insgesamt: Dort sind 67 Prozent übergewichtig, schleppen also einfach zu viel Lebendgewicht mit sich.

Und da wächst was nach. Denn aufgefüllt wird diese Gruppe ja durch die 50- bis 64-Jährigen, wo binnen dieser wenigen Jahre (2013 bis 2016) der Anteil der Übergewichtigen von 61 auf 68 Prozent gestiegen ist. Und das trotz aller Forschungs- und Begleitprogramme der Uni Leipzig.

Da läuft etwas gewaltig falsch.

Ist es bei den 35- bis 49-Jährigen anders?

Nicht die Bohne. Aber hier wird sichtbar, wie die Leipziger schon in frühen Jahren anfangen, die Fettberge anzusparen, die ihnen im Alter immer mehr zur Last werden. Der Anteil der Übergewichtigen stieg in dieser Altersgruppe von 43 auf 46 Prozent. Der Vergleich mit den 18- bis 34-Jährigen zeigt: Wirklich veranlagt dazu sind die wenigsten. Die meisten Menschen starten mit Normalgewicht und könnten das mit einer gesunden Lebensweise auch im Alter halten.

Aber diese Verführungen! Unsere Konsumwelt umgibt die Menschen mit lauter Angeboten, die sie einerseits von zahlreichen Bewegungen und Tätigkeiten „entlasten“, andererseits regelrecht immobil machen und mit immobilen Tätigkeiten auch noch davon abhalten, ihr Leben aktiv zu leben. Und immobil ist an dieser Stelle genauso körperlich gemeint wie geistig. Denn unsere Unterhaltungswelt ist auf den geistig immobilen Nutzer angelegt, den reinen Konsumenten, der sich immer mehr Spiele und Serien und Shows reinzieht, die ihn allesamt davon abhalten, sich geistig um ein Verständnis der Welt und des eigenen Lebens zu bemühen.

Die äußerliche Gewichtzunahme erzählt von dieser hochbrisanten Mischung, die unser Gesundheitssystem schon früh mit enormen Kosten belastet, denn Übergewicht hat direkte Folgen auf Blutkreislauf, Diabetes, Gelenkkrankheiten. Mittlerweile vermutet man auch, dass Krebs dadurch befördert wird. Jüngst erst meldeten Leipziger Forscher: „Adipositas lässt unser Gehirn schneller altern“.

Die Folgen sind also komplex. Werden aber von der Politik selten auch so komplex begriffen.

Alles Veranlagung?

Adipositas ist das wirklich krankhafte Übergewicht, das die Übergewichtigen in Behandlung zwingt. Davon sind insgesamt 14 Prozent aller Leipziger betroffen, Rentner und Pensionäre zu 19 Prozent, die 50- bis 64-Jährigen aber zu 22 Prozent. Bei dieser Altersgruppe steht zumindest zu vermuten, dass hier die vielen gebrochenen Erwerbsbiografien seit 1990 eine Rolle spielen.

Die neoliberalen Arbeitsmarktreformer haben es bis heute nicht begriffen, dass Arbeitslosigkeit Menschen krank macht. Sie landen nicht freiwillig beim Amt, sondern leiden (auch psychisch) unter dieser Tretmühle. Und sie trinken mehr als die anderen. Und sie stopfen sich aus Frust billiges und schlechtes Essen rein. Bis 2015 stieg der Anteil der Adipösen unter den Erwerbslosen in Leipzig auf 26 Prozent.

Seit 2016 kommen sie nun vermehrt wieder in Arbeit. Der Arbeitsmarkt ist schlichtweg hungrig. Das Ergebnis: Der Wert sank sofort auf 17 Prozent. Arbeit hält fit. Sie sorgt zumindest dafür, dass Menschen wieder einen Sinn und eine Struktur im Leben haben und wieder mehr in Bewegung sind.

Natürlich schreiben Ines Benkert und Falk Abel so einen Beitrag für den Leipziger Quartalsbericht nicht, um dem zuständigen Bürgermeister zu signalisieren: Es hat alles keinen Zweck.

Zweck hat es wohl. Nur sind die Möglichkeiten der Stadt begrenzt, in die Leben der Menschen einzugreifen. Das beginnt leider schon früh. Denn 7 Prozent adipöser Menschen zwischen 18 und 34 Jahren – das ist auch nicht „naturgemäß“, selbst dann nicht, wenn Kinder eine genetische Veranlagung zum Übergewicht haben. Denn auch da kann man gegensteuern und Lebensweise, Ernährung und Freizeit verändern.

Ein Teil unserer Kinder wächst aber schon unter Verhältnissen auf, die sie fürs Leben krank machen.

Das wird bei jeder Schuleingangsuntersuchung sichtbar. 2016 waren 3,6 Prozent der untersuchten Kinder schon adipös, weitere 4,9 Prozent waren übergewichtig.

Der Wert ist seit 2005, als er deutlich höher lag (4,3 Prozent und 6,1 Prozent) zwar gefallen, möglicherweise, weil deutlich mehr Kinder eine Kindergartenbetreuung bekommen und dadurch nicht nur zu mehr sozialer Interaktion, sondern auch zu mehr Bewegung gebracht wurden. Aber auch der 2016er Wert ist zu hoch und erzählt davon, dass viele Kinder nach wie vor ihre Freizeit ruhiggestellt vor dem Fernseher und diversen technischen Unterhaltungsgeräten verbringen, wo sie sich viel zu wenig bewegen (was auch Folgen für die Motorik und den Orientierungssinn hat), sondern auch noch falsch ernährt werden – mit Fastfood und zuckerhaltigen Getränken.

Und das betrifft augenscheinlich nicht nur die 8 Prozent der Kinder, die bei der Untersuchung auffällig werden. Denn in diesem frühen Alter werden auch Gewohnheiten geprägt, die sich im erwachsenen Leben erst richtig durchsetzen. Nur wird es für viele Kinder noch nicht in krankhafter Form sichtbar. Junge Menschen suchen immer noch auch einen Ausgleich.

Aber fast punktgenau mit dem 37. Lebensjahr, wenn die meisten Menschen auch innerlich ihre Jugend beenden, schlägt die Keule zu. Dann hören augenscheinlich Viele auf, sich zu bemühen, und das lässt die Übergewichtsraten der Leipziger sprunghaft ansteigen von 35 auf 50 Prozent. Bis zum Rentenalter steigt der Wert dann bis auf 70 Prozent an.

Die Adipositasrate folgt mit Verzögerung. Sie steigt ab dem 44. Lebensjahr steil an und bleibt bis zum 69. Lebensjahr mit über 20 Prozent auf hohem Niveau. Und dann: Dann scheinen die Übergewichtigen einfach zu sterben, viel früher als die Leichtgewichte, die dann tatsächlich die Zahl der Hochbetagten ausmachen.

Natürlich weist der Beitrag auch auf die vielen Hilfsangebote und Selbsthilfegruppen in der Stadt hin. Aber ehrlich?

Solange unsere Konsumgesellschaft den immobilen, geistig anspruchslosen Bürger bevorzugt, umhätschelt und einlullt, solange wird sich nichts ändern. Und das hat Folgen für unsere Gesellschaft, die geistig spürbar immobiler geworden ist. Was will man mit lauter Erwachsenen anfangen, die stöhnen, wenn sie sich auf einen Stuhl fallen lassen, immerfort irgendwelches Zeug in sich hineinstopfen und bei anspruchsvolleren Fragen immer nur „Häh!?“ antworten?

Und wer nun glaubt, man müsse auch in diesem Fall in die üblichen Problemviertel schauen, der irrt. Die eigentlichen Problemzonen Leipzigs sind die Speckgürtel am Rand der Stadt: Lausen-Grünau mit einem Anteil von 73 Prozent übergewichtiger und adipöser Menschen, Plaußig-Portitz (ja, das ist der Ortsteil mit dem größten Autozuwachs) mit 68 Prozent, Engelsdorf und Großzschocher mit 67 und Wiederitzsch mit 66.

Der Leipziger Durchschnitt liegt bei 50 Prozent. Und die fittesten Leipziger leben augenscheinlich in Lindenau (wo die Ãœbergewichtsrate nur bei 30 Prozent liegt) und in Connewitz (33 Prozent).

Was kann man tun?

Alle Leute in der Bekanntschaft überreden, den verdammten Fernseher auf den Schrott zu schmeißen und dafür eine Lauf- oder Wandergruppe zu gründen und loszumarschieren, die Welt wieder mit eigenen Augen kennenzulernen. Auf geht’s!

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Es gibt 4 Kommentare

Gemüse teurer als Bratwurst? Nö. Der 5-kg-Kartoffelsack kostet 2,50€. Der Kopf Wirsing 1,50€. Salatgurke 0,70€. Kilo Rhabarber €0,99. 3-kg-Sack Äpfel 2€. Großer Bund Petersilie beim Araber 1€. Alles nicht teuer und ernährt mich und meine Familie über mehrere Tage.

Was hatte der Ex-Bundesbanker zur Ernährung eines Hartz4-Empfängers gesagt? Für eine Bratwurst reicht es immer…
Gemüse ist aber deutlich teurer als die Bratwurst. Und am billigsten ist immer noch das Fleisch aus der Massentierhaltung. Wie sollen sich diejenigen, die auf Transferleistungen angewiesen sind, gesund ernähren? Es ist schlicht nicht möglich.

Dann scheint es auch den ganzen Schönheits-, Fitness- und Jugendwahn nicht zu geben. Wenn alle vor der Glotze hängen und sich trotzdem vollfressen? Oder es gibt doch den “mündigen” Verbraucher, der sich durch so etwas nicht “blenden” läßt? Eher nicht. Der Geist ist willig…

Für die Kinder sind Eltern Vorbilder. Hierdurch wird erzogen.
Wenn hinzu tritt, daß die Eltern nicht wissen, daß sich spätestens mit 38 Jahren der Stoffwechsel umstellt, wird es für die Kinder normal, daß man als Erwachsener dick wird. Denn die essen unbekümmert weiter, als würde es diese Stoffwechselumstellung nicht geben. Unsere Körper befinden sich, übrigens ebenso wie Teile des Gehirn, noch im Steinzeit-Modus. Was nicht nur dem Stoffwechsel, sondern tatsächlich auch die Bewegung betrifft. Die der Körper braucht, die ihm aber verwehrt wird.
Aber erklär das einem, der mit 38 gerade Vater geworden ist….

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