Seit ein paar Jahren veröffentlichen das Amt für Statistik und Wahlen und das Referat für Migration und Integration ein kostenloses Faltblatt „Migrantinnen und Migranten in Leipzig“. Immer wieder aktualisiert. Immer wieder mit neuesten Daten. Im Grunde Nachrichten aus einer anderen Stadt. Einer, die nicht so bräsig selbstverliebt ist wie das offizielle politische Leipzig.

Eine Stadt, die in einer völlig anderen Welt liegt, vernetzt mit allen Regionen der Erde – und zwar auf vielfältige Weise. Eine moderne Transitstadt, die von tausenden Menschen als möglicher Hafen für ihre Träume betrachtet wird.

Würde das Amt für Statistik und Wahlen auch regelmäßige Wanderungsstatistiken veröffentlichen – gar als Animation – die üblichen Sofa-Leipziger würden ihre Stadt nicht wiedererkennen. Denn zwischen ihrer Vorstellung von einem ordentlichen und sicheren Leipzig und dem Leipzig der Realität klaffen Welten. Beide Bilder sind nicht in Deckung zu bringen.

Und das zeigt selbst das Faltblatt über die Migranten.

Es enthält wesentliche Angaben zu Leipzigs Einwohnern mit Migrationshintergrund (Stand 2016) und ist in allen Bürgerämtern sowie an der Informationstheke im Neuen Rathaus und im Referat für Migration und Integration erhältlich.

Wie das Amt für Statistik und Wahlen ermittelte, wohnten Ende 2016 in der Stadt Leipzig insgesamt 77.559 Personen mit Migrationshintergrund, das entsprach einem Bevölkerungsanteil von 13,4 Prozent. Wie bereits in den Vorjahren, hat sich auch der Anteil an der Gesamtbevölkerung weiter erhöht.

Etwa zwei Drittel aller Personen mit Migrationshintergrund sind Ausländer. Neben den ca. 52.000 Ausländern leben in Leipzig ca. 26.000 deutsche Einwohner mit einem Migrationshintergrund, z. B. Spätaussiedler, eingebürgerte Personen sowie deren Kinder.

Zwar hat sich die Sicht auch und gerade im Referat für Migration und Integration auf Menschen aus aller Welt in den vergangenen Jahren deutlich geändert. Aber selbst ein Begriff wie Integration zeigt, dass man das Thema nicht wirklich begriffen hat und von der falschen Warte her denkt. Als gäbe es eine gut organisierte deutsche Modellbevölkerung, in die sich jeder, der neu und fremd ist, „integrieren“ müsste.

Warum aber?

Es macht keinen Sinn. Nicht weil Teilhabe keinen Sinn macht, sondern weil die Stadt nicht einmal ein Modell hat, was eigentlich alles gebraucht wird, um in Leipzig ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen zu können. Was suchen Menschen eigentlich, wenn sie sich ausgerechnet das kleine Leipzig in Westsachsen aussuchen?

Eine Frage, die genauso für Schwaben, Bayern und Rheinländer gilt. Und nicht beantwortet wird – auch nicht auf Landesebene, wo man Menschen und Studierende wie Kontingente behandelt. Gern bevormundet und gern von einer verschwiemelten Leitkultur redet, ohne auch nur zu wissen, was ein Land oder eine Stadt für Zuwanderer eigentlich attraktiv macht.

Das Manko wird immer deutlicher. Auch und gerade da, wo auch die Migrantenstatistik ins Datenlose abtaucht.

Denn geredet wird immer nur über die (auch äußerlich) auffälligen Gruppen. Über all jene, die sich wie selbstverständlich in den Kosmos Leipzig einfügen, gibt es keine Schlagzeilen. Obwohl sie eindeutig die größten Gruppen von „Migranten“ stellen. Migranten auch einfach mal in Gänsefüßchen gesetzt, weil Migration, der „dauerhafte Wohnortwechsel“ von Menschen für die meisten Menschen das Normale ist. Es ist eine Grunddefinition unserer Zeit. Gerade junge Menschen verbringen heute ihr Leben nicht mehr für immer im kleinen Kaff hinterm Berg. Sie suchen nach ihrer Ausbildung den Ort, der ihnen die größten Chancen verspricht, ihre Vorstellungen vom Leben zu verwirklichen.

Darin unterscheiden sich junge Menschen in Bremen, Hannover oder Görlitz nicht die Bohne von jungen Leuten aus Alabama, Madrid oder Sewastopol.

Nur: Diese simple Erkenntnis findet sich in der Leipziger „Integrationspolitik“ nicht wieder. Selbst das scheinbar so weltoffene Leipzig tut so, als müssten sich die Menschen, die diese Stadt als Startpunkt für ihre Lebensgestaltung ausersehen haben, an etwas anpassen, was schon da ist, eine Art Gerüst, in das sie sich einzufügen haben. Obwohl sich die Stadt fortwährend verändert und schon lange nicht mehr das Mauerblümchen von 1990 ist.

Nur: Wer starre Regeln für „Integration“ aufstellt, stellt in Wirklichkeit Hürden für Integration auf. Der versucht wieder eine Kontrolle zu erlangen, die es aus reinen Ressourcengründen nicht geben kann.

Falsches Denken aber führt zu Ausgrenzung, Abgrenzung und Nichtfunktionieren aller Integrationsangebote. Dieses Denkproblem hat nicht nur die CDU. Es durchwächst den kompletten Verwaltungsapparat, den der Stadt genauso wie den des Landes. Ein Apparat, der mit bürokratischem Erstaunen feststellt, dass er für Bewerber mit Migrationshintergrund völlig unattraktiv ist.

Aber die Schizophrenität wird den Verwaltern und Sachwaltern nicht einmal bewusst: Wie will man Menschen zur „Integration“ zwingen in einen Apparat, der nach außen derart unattraktiv wirkt? Der niemanden verlockt, der auch nur ein bisschen Kreativität und unkonventionelles Denken mitbringt? Egal, ob er aus Syrien kommt oder aus Polen, aus Italien oder England.

Die Welt da draußen verändert sich permanent. Und die gut gebildeten Menschen ziehen nicht mehr in irgendwelche „Länder, wo Milch und Honig fließen“, sondern in Städte, die das Versprechen ausstrahlen, dass hier etwas möglich ist. Erstaunlich, dass Leipzig das noch ausstrahlt, wo so viele überbezahlte Leute in verantwortlichen Positionen alles tun, um Dinge unmöglich zu machen. Besessen von einem Kontrollzwang, der geradezu danach lechzt, „Wildwuchs“ zu verhindern.

Das ist nicht nur Leipzigs Problem. Aber es wird immer spürbarer. Und es gerät immer mehr in Widerspruch zu der Penetranz, mit der versucht wird, den Herbst 1989 mit einem Denkmal zu glorifizieren, während die Gegenwart von einer ähnlichen Wirklichkeitsverweigerung geprägt ist wie die stumpfen Jahre vor 1989.

Natürlich werden alle möglichen Leute froh sein in ein paar Jahren, dass so viele Menschen nach Leipzig kommen. Denn sie werden ganz einfach der Stadt und wohl auch dem Land Sachsen am Ende den Hintern retten. Einfach weil sie die aufklaffende Fachkräftelücke schließen helfen. Und das riesige Loch an nicht geborenen Kindern.

Migranten sind im Durchschnitt deutlich jünger als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund und zwar bei den Männern um 12 Jahre und bei den Frauen um 15,5 Jahre, teilt die Stadt zum neuen Faltblatt noch mit. In den Leipziger Kindertageseinrichtungen waren 2016 insgesamt 6.411 Kinder mit Migrationshintergrund angemeldet, ihre Betreuungsquote lag bei 47,6 Prozent, während diejenige bei Kindern ohne Migrationshintergrund 66,9 Prozent betrug.

Aber noch wichtiger ist die Erkenntnis, dass Leipzig längst „internationaler“ wird.

An den allgemein bildenden Schulen hatten im Schuljahr 2016/17 insgesamt 18 Prozent aller Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund, darunter an den Grundschulen 20,3 Prozent, an den Oberschulen 22 Prozent, an den Gymnasien 13,8 Prozent und an den Förderschulen 13,5 Prozent.

Das wird die Stadt verändern. Die Frage ist nur, ob es zu den üblichen – aus den bräsigen West-Bundesländern bekannten – Dauerkonflikten wird, oder ob diese Stadt es schafft, ihre Zuwanderer aus aller Welt wirklich zum Teil der Stadtgesellschaft werden zu lassen. Ohne Anprangerung und Gettoisierung, wie sie noch immer von dem einen oder anderen Medium betrieben wird. Und ohne die von rechtsaußen geschürte Angst vor Veränderung – der eigenen Veränderung nämlich. Denn wirklich attraktiv und wettbewerbsfähig sind nur noch Städte, die sich selbst immerfort verändern, täglich neu erfinden und auch jedem, der hier andockt, Chancen bietet, sich einzubringen.

Davon ist Leipzig noch meilenweit entfernt.

Das Faltblatt.

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