Als Leipzigs Statistiker im Frühjahr schon mal den Schnellbericht zur „Bürgerumfrage 2016“ vorstellten, bekamen sie von den anwesenden Journalisten den dezenten Hinweis, dass es zwar schön ist, wenn es regelmäßig eine Hitliste der Leipziger Zufriedenheit gibt. Aber bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass es auch eine Hitliste der Unzufriedenheiten gibt?

Also haben sie nun im Bericht zur Bürgerumfrage eine Grafik eingebaut, die beides zeigt – in Gelb und Gold die Zufriedenheit mit ausgewählten Zuständen – und in Blau die Unzufriedenheit. Was übrigens einen erstaunlichen Effekt hat, denn es korrigiert auch ein wenig die leidige Frage nach den „größten Problemen“ der Stadt, wo nun seit Jahren das Thema „Kriminalität und Sicherheit“ dominiert, ohne dass wirklich klar wird, in welchem Verhältnis es eigentlich zu den anderen „Problemen“ der Stadt steht. Ist es wirklich ein derart überragendes Thema, wie es die 48 Prozent der Nennungen bei den „größten Problemen“ vermuten lässt?

Die Antwort lautet ganz lapidar: Nein.

Statistik hat eine Menge mir Psychologie zu tun. Wenn man die Fragebogenausfüller schon mal dahin lenkt, ein Thema als „Problem“ zu sehen, verschieben sich die Gewichte. Dann sieht der Befragte nicht mehr das ganze Stadt-Bild, sondern fokussiert sich auf das „Problem“. Und kein anderes Thema ist von Natur aus so sehr schon ein „Problem“ an sich wie eben Kriminalität.

Aber eine Stadt „hat“ zwar ein paar Probleme, die sogar ganz elementar dazugehören, weil hier eine Menge Menschen auf engem Raum zusammenleben und entsprechende Konflikte entstehen. Aber damit sie funktioniert, müssen viele andere Dinge funktionieren. Manche davon sind leichter zu organisieren, andere sind teurer und aufwendiger.

Was dann, wenn man die Leipziger danach fragt, wie zufrieden sie mit unterschiedlichen Zuständen ihrer Stadt sind, dazu führt, dass sie mit dem Straßenzustand am unzufriedensten sind. Oder mal ganz frech gesagt: Gute Mobilität ist in einer Stadt noch wichtiger als Sicherheit.

Nicht viel. Aber es fällt auf, dass sich Kriminalität und Sicherheit bei dieser Ent-Emotionalisierung auf Rang 2 einreihen. Was mich in meiner Sicht bestätigt: Die Frage nach den „größten Problemen“ ist nicht nur einfältig, die Ergebnisse sagen auch nichts aus. Außer darüber, wie leicht Menschen mit bestimmten Themen auf die Palme gebracht werden können.

Wenn sie aber ihre Zufriedenheit mit den Zuständen ihrer Stadt ausloten sollen, dann rücken die Dinge wieder in ein reales Wertungsschema – dann geht es nicht um „Skandal“, sondern um eine Einschätzung, wie gut die Verantwortlichen ihr Aufgabenfeld bewältigen.

Und dann stellt sich auch schnell heraus, dass viele Themen, in denen nur wenige Leipziger „das größte Problem“ sehen, trotzdem ein hohes Potenzial an Unzufriedenheit erzeugen. Kindertagesstätten sehen zum Beispiel nur 15 Prozent der Leipziger als „größtes Problem“.

Aber bei der Unzufriedenheit taucht es sofort nach Straßenzustand und Kriminalität mit 45 Prozent Unzufriedenheit und 35 Prozent teils/teils-Wertungen auf. Auf einmal sieht hier keine Minderheit mehr ein sehr spezielles Problem, sondern ein Großteil der Stadtgesellschaft ist mit dem Zustand unzufrieden.

Die Frage, die sich regelrecht aufdrängt: Mit welcher Befragung macht man da dann Politik?

Das betrifft selbst so ein Thema wie Arbeitslosigkeit, bei den „größten Problemen“ mit 9 Prozent der Nennungen schon längst wieder unter „ferner liefen“ – Arbeitsmarkt boomt, alles prima. Thema erledigt, oder? Aber wirklich zufrieden mit dem Angebot an Arbeitsplätzen sind nur 41 Prozent der Befragten. 38 finden es so lala, 21 Prozent finden es grauenvoll. Womit wir wieder bei dieser für Leipzig typischen Marke von 20 Prozent sind – da, wo die Armut beginnt und die Leipziger wirklich in hundsmiserablen Einkommen feststecken.

Ein Schuh wird also wirklich erst draus, wenn man das ganze Bild hat und die Probleme nicht damit zutüncht, dass man ein völlig sinnfreies Ranking der „größten Probleme“ aufstellt. Die übrigens – auch das haben wir schon mehrfach besprochen – extrem von der persönlichen Betroffenheit und vom Alter der Befragten abhängen.

Während junge Leipziger sich vermehrt Sorgen über Wohnkosten, Schulen, Kitas und Fremdenfeindlichkeit machen und das Thema Sicherheit mit 31 Prozent der Nennungen nur knapp die Nase vorn hat, dominiert Sicherheit bei den Senioren mit satten 73 Prozent. Und wer weiß, wie das Segment der über 65-Jährigen in Leipzig wächst, der weiß, welche politische Macht das auch im Leipziger Gefüge ergibt und warum die CDU zur Ein-Thema-Partei geworden ist: Mit Sicherheit ködert man die Alten und hat seine Wahlergebnisse 30 plus x sicher.

Was aber die eigentlichen Probleme der Stadt nicht löst. Die bleiben bei so einem Denken immer liegen. Schulen und Kitas – wirklich zwei echte „größte Probleme“ – spielen aus Sicht der Senioren praktisch keine Rolle. Ihnen ist – nach der Sicherheit – vor allem Sauberkeit, Ordnung und Straßenzustand wichtig. Was nicht unwichtig ist, denn das äußere Erscheinungsbild einer Stadt prägt das Sicherheitsempfinden.

Aber wenn man die Stadt nur aus dieser Perspektive sieht, setzt man trotzdem die falschen Schwerpunkte, vernachlässigt zum Beispiel die so dringenden Zukunftsinvestitionen, die in Leipzig alle – wirklich durch die Bank – um fünf Jahre hinter den Erfordernissen der wachsenden Stadt hinterherkleckern, egal, ob Kitas, Schulen oder nun (sozialer) Wohnungsbau. Und – nicht zu vergessen, weil kaum auffällt, dass er in der Pipeline feststeckt: der zukunftsfähige ÖPNV. Scheinbar mit 11 Prozent der Nennungen unter den „Problemen“ ein ganz marginales Thema, nicht halb so wichtig wie Parkplätze (20 Prozent).

Aber wir erinnern uns an das Unzufriedenheitsthema „Straßenzustand“, der nie so allein im Raum schwebt. Denn auch Langsamfahrstrecken bei den LVB und zerfahrene Radwege sind ein schlechter Straßenzustand.

Man ahnt, wie sehr die Sache mit den „größten Problemen“ in die Irre führt. Und dass in der Liste zur „Zufriedenheit“ noch Vieles fehlt, um mal ein vollständiges Bild zu bekommen.

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