Bei manchen Meldungen im Medienwald fragt man sich schon: Können die Leute nicht rechnen? Haben die allesamt Mathematik in der 7. Klasse abgewählt? Oder reicht es schon, ihnen irgendwelche scheinbar großen Zahlen vor die Nase zu setzen und schon glauben sie, dass das eine schlagende Schlagzeile wert wäre? So geschehen am 9. März z. B. bei „Spiegel“ und anderswo.

Der „Spiegel“ meldete mit breiter Brust „Trotz Homeoffice-Trend – Lockerungen bringen Staus schnell zurück“. Und bezog sich dabei auf eine Auswertung des Verkehrsdatenanbieters Inrix, der zuvor die Pressemitteilung veröffentlicht hatte „INRIX Traffic Scorecard: Fahrten in deutsche Innenstädte gehen während der Pandemie um 40 % zurück“.Auch mit einer Hitliste der jeweils „staureichsten“ Städte und Straßen in Deutschland, wo dann doch recht überraschend auch Leipzig auftauchte auf Platz 5 der „staureichsten“ deutschen Städte.

Auch andere Medien wie die LVZ griffen die Meldung auf, als wäre gerade Saure-Gurken-Zeit und man müsste nach jeder auch noch so seltsamen Nachricht greifen.

Und in Leipzig reagierte umgehend die FDP, die die Nachricht sichtlich auch nicht genauer unter die Lupe nahm.

Die FDP-Wortmeldung:

„Leipzig wächst seit Jahren, nur die Infrastruktur wächst nicht mit“, stellt der FDP-Bundestagskandidat Peter Jess fest. „Angesichts dieser Entwicklung überrascht es mich nicht, dass Leipzig laut Verkehrsinformationsanbieter Inrix mittlerweile auf Platz 5 der Stau-Städte liegt. Man muss nur mal einen Blick auf die Stadtkarte werfen, um zu sehen, wo unsere Probleme liegen. Die dicht besiedelten Viertel liegen in der Stadt, die großen Arbeitgeber unserer Region dagegen am Stadtrand. Wer zum Feierabend nicht 45 Minuten auf den Bus warten will, nimmt das Auto. Aufgrund der Streckenverhältnisse ist das Fahrrad häufig auch keine Alternativ“, fasst der stellvertretende Kreisvorsitzende auch aus eigener Erfahrung die Herausforderung für viele Leipziger zusammen.

Mit Verwunderung reagierte Jess auf die jüngsten Vorschläge aus dem Stadtrat, mehr Radwege zu bauen und in der ganzen Stadt Tempo 30 einzuführen: „Ich dachte, man möchte Staus verhindern und nicht mehr produzieren? Weitere Radwege auf wichtigen Verbindungsstraßen verschärfen die bereits angespannte Situation. Die Georg-Schumann-Straße beispielsweise ist jetzt schon so eng, dass sich Autofahrer und Straßenbahnen eine Fahrspur teilen. Mit Tempo 30 und einer zusätzlichen Radspur ist da niemandem geholfen.“

„Wir brauchen ein ganzheitliches Verkehrskonzept mit Angeboten statt Verboten“, fordert der liberale Bundestagskandidat. „Der Verkehr muss schnell durch die Stadt kommen – grüne Wellen und Tempo 50 machen das möglich. Damit Radfahrer sicher ans Ziel kommen, sollten Nebenstraßen zu Radstraßen umgewandelt werden. Zusätzlich brauchen wir attraktive Carsharing-Angebote und mehr Park and Ride-Stationen. Und natürlich sind auch die Leipziger Verkehrsbetriebe in der Verantwortung.“

Wie sollte man die Zahlen lesen?

Die FDP hat die Sache mit dem Tempo-30-Pilotversuch in Leipzig sowieso sofort in den falschen Hals bekommen. Denn nichts davon ist Beschlusslage. Die Stadt will sich erst einmal beim Bundesverkehrsministerium darum bemühen, dass so ein Feldversuch möglich wird. Das selbstverständlichste aller Dinge: Wenn man wissen will, ob ein Tempolimit wirklich die Verbesserungen bringt, die man sich davon verspricht, muss man es in einem Pilotversuch in der Praxis ausprobieren.

Aber wie ist das mit diesem schrecklichen 5. Platz?

Im ersten Schritt: nicht nachvollziehbar. Denn INRIX verrät nicht einmal, wie genau man dort auf die Werte kommt. In der Erläuterung des in Kirkland (Washington) ansässigen Unternehmens heißt es nur seltsam ungenau: „INRIX analysierte anonymisierte Daten aus verschiedensten Quellen wie zum Beispiel Datensätze aus Telefonen, Fahrzeugen und Städten, die diese präzisen Berechnungen ermöglichen. Die in der 2020 Global Scorecard verwendeten Daten zeigen das Verkehrsaufkommen der untersuchten Straßenabschnitte über den gesamten Tagesverlauf hinweg – Daten, auf die sich bereits Millionen Nutzer der INRIX-basierten Verkehrsdienste weltweit verlassen.“

Also haben wir wieder so einen großen amerikanischen Datensammler vor uns, ohne dass der auch nur durchgucken lässt, welche Daten er da augenscheinlich aus Telefonen, elektronisch vernetzten Fahrzeugen und städtischen Datensätzen erhebt. Leipzig selbst führt zum Beispiel keine öffentliche Staustatistik. Und wer Städte wie Berlin oder München kennt, der weiß, dass Leipzig ganz bestimmt keine Stadt ist, die unter Staus leidet. Gar täglichen Staus, die den zur Arbeit Fahrenden viertel, halbe oder gar ganze Stunden stehlen.

Selbst der „Spiegel“ hätte darüber stolpern müssen, dass es eigentlich lächerlich ist festzustellen: „Gerade mal 26 Stunden standen Deutschlands Autofahrer 2020 im Stau …“

In Leipzig kamen die Big-Data-Rechner aus Kirkland auf 31 Stunden.

Geschäfte mit Verkehrsdaten

Dass hier ein paar Leute gern große Geschäfte mit Verkehrsdaten machen möchten, geben sie gern selbst zu: „Der Zugang zu verlässlichen Daten ist der erste Schritt, um die Überlastung von Verkehrsinfrastrukturen durch Staus in Angriff zu nehmen. Der Einsatz von Big Data für intelligente Verkehrssysteme ist der Schlüssel zur Lösung von städtischen Mobilitätsproblemen.

INRIX-Daten und -Analysen zu Mobilität, Verkehr und Verkehrssignalen, Parken und Bevölkerungsbewegungen unterstützen Stadtplaner und Ingenieure bei datenbasierten Entscheidungen. Dadurch können die Entscheider Ausgaben priorisieren, Nutzen maximieren und Kosten jetzt und in Zukunft senken.“

Aber sind das verlässliche Daten, die sie aus Smartphones und Autos abschöpfen?

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass dem nicht so ist. Was schon in der Tabelle mit den „staureichsten“ Straßen sichtbar wird. Was ist das eigentlich für eine Staustraße Tempelhofer Damm / Mehringdamm (B96) in Berlin, auf der die Autofahrer jeden Tag 4 Minuten verlieren? Was ist das für ein Stau? Und das ist aus Sicht von INRIX Deutschlands Spitzenreiter. Dass sich solche Beträge bei 365 Tagen im Jahr aufsummieren zu ganzen Tagen – keine Frage. Solche Zeitverluste hat auch jeder Fußgänger in der Großstadt und jeder Nutzer des ÖPNV. Das sind sogar Mini-Beträge, die man an Haltestellen erwartet oder an Kreuzungen mit elend langen Rotphasen.

Staus sind das nicht. Bestenfalls Zeichen für dichten Verkehr, Stop-and-Go und/oder mehrere Baustellen, die in Leipzig hauptverantwortlich dafür sind, dass es auf viel befahrenen Straßen manchmal klemmt.

Richtige Staustraßen in dem Sinn hat Leipzig nicht.

Aber was bedeuten die 31 Stunden, mit denen Leipzig scheinbar aufholt im Staugeschehen großer deutscher Städte?

Nichts. Da reicht ein Taschenrechner, um herauszubekommen, dass das 5 Minuten am Tag sind. 5 Minuten, die Leipziger Autofahrer mal vor jener Ampel stehen, mal vor jener Baustelle. Das hat nichts mit fehlenden Infrastrukturen zu tun. Und es erzählt schon gar nicht von Staus.

Es erzählt von einem Datensammler in den USA, der in seine gesammelten Daten eine Aussagekraft hineininterpretiert, die nichts mit der Verkehrsrealität der so flott in Hitlisten versammelten Städte zu tun hat.

In einer Statistik, die Statista.com im Januar veröffentlicht hat, taucht Leipzig übrigens unter den „stauauffälligsten Städten“ auf Platz 9 auf. Statista aber misst hier keine Stehzeiten, sondern die Verlangsamung des Verkehrs in der Hauptverkehrszeit gegenüber der verkehrsarmen Zeit. In Leipzig braucht man dann 23 Prozent mehr Zeit für dieselbe Strecke. Spitzenreiter ist hier Berlin mit 30 Prozent.

Der ADAC misst Staus übrigens lieber in Kilometern Länge als in Stehzeit. Und dort weiß man, dass die richtigen Staus vor allem auf deutschen Autobahnen stattfinden. Und da steht man nicht nur 5 Minuten, sondern eher mal ein paar Stunden, ehe man durch ist.

Und was schreibt Wikipedia zu dem augenscheinlich von Inrix genutzen System Floating Car Data?

„Der Nutzen für professionelle Verkehre bleibt wegen der heterogenen Informationsstrukturen mit ortsfesten Sensoren und an das Fahrzeug gebundenen Sensoren sowie Telefonmeldungen zweifelhaft. Bezogen auf die Anzahl der Verkehrsteilnehmer auf deutschen Straßen ist die Anzahl der Nutzer von FCD-Diensten verschwindend gering. Die Veröffentlichungen zum Kundennutzen liefern lediglich Marketingdaten, aber keinen Nachweis eines hinreichenden Nutzens.“

Nicht mal die Datenbasis ist breit genug, um irgendeine auch nur annähernd vernünftige Aussage über das Staugeschehen in Städten machen zu können. Die nächste „Hitliste“ also für die Tonne.

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Es gibt 4 Kommentare

Die undurchsichtige Datenbasis wurde bereits im Februar 2019 in einer Presseinformation der Stadt thematisiert:

“Stau-Studie: Von Platz 45 auf Platz 4Von Platz 45 auf Platz 4 in nur einem Jahr –nach einer Verkehrsstudie des amerikanischen Unternehmens Inrix hat Leipzig genau dies geschafft, und zwar bei den Stau-Zeiten in der Stadt. Laut der am Dienstag veröffentlichten Studie des Unternehmens liegt Leipzig hier noch vor Städten wie Stuttgart, Frankfurt am Main und Köln –und spätestens hier ist Skepsis angebracht. Die Autofahrer in Leipzig quälen sich durch mehr Stau und Stop-and-go als in Frankfurt oder Stuttgart? Ein Sprung um 41 Ränge bedarf einer Erklärung, und diese liefert das Unternehmen auch auf Nachfrage der Stadt Leipzig nicht. Weder auf telefonische noch auf schriftliche Anfragen gibt es eine Reaktion. Die Stadt Leipzig hätte gerne zu der genannten Stau-Studie Stellung bezogen, ohne die dazugehörige Datenbasis ist dies aber nicht seriös.”

Leipzig Staustadt? Blödsinn.

Herr Julke schrieb es schon einmal, dass hier von “Stau” gesprochen wird, wenn nicht alle Autos in einer Grünphase rüber kommen.

Im Ruhrpott würde man sich über so einen Spruch kaputtlachen…

Ich finde den Artikel ziemlich plausibel. Klar gibt es Staus, und das auch regelmäßig, aber ganz ehrlich: Wer sich tagtäglich morgens in der Hans Driesch Straße oder auf der B2 in den Stau stellt, der ist ein bisschen auch selber schuld.
Im Vergleich zu Berlin oder Stuttgart ist Leipzig insgesamt wirklich keine typische Staustadt. Platz 5 klingt nicht plausibel, wenn man schon bisschen unterwegs war in Deutschland.

Dass es Optimierungsmöglichkeiten gibt, ist natürlich klar. Wenn beispielsweise Ampeln aus politischen Gründen absichtlich ungünstig geschaltet sind, kann man über die Effekte nachdenken. Schönes Beispiel ist der Floßplatz, der vorgaukelt eine Bedarfsampel zu sein, aber dennoch regelmäßig alle zum stoppen zwingt. Erhöhte Messwerte für Schadstoffe gibts dann inklusive…

Also der Artikel ist faktisch falsch. Natürlich gibt es genug Staus in Leipzig bsp. Auenwald. Hier tu behaupten es gebe keine Staus ist großer Blödsinn!

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