Es läuft gewaltig etwas schief in Deutschland. Und nicht nur hier. Wenn immer größere Teile der Bevölkerung das Gefühl haben, regelrecht abgehängt zu sein, dann hat das Folgen – nicht nur für das Klima in der Politik. Auch für die tatsächlichen Lebenschancen der von Armut Betroffenen. Am 2. März legte der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen neuesten Armutsbericht vor. Und noch immer ist Leipzig die ärmste Region Sachsens. Trotz Boom.

„Sachsens Armutsquote liegt immer noch weit über dem Bundesdurchschnitt“, stellt Rico Gebhardt, Vorsitzender der Linksfraktion im Sächsischen Landtag, fest. Sachsen kommt auf eine offizielle Armutsquote von 18,6 im Vergleich zu 15,7 Prozent im Bund. Und es erreicht traurige regionale Spitzenwerte von 22 Prozent – nämlich in der Region Leipzig. „Besonders bedrückend: Die soziale Lage hat sich in Sachsen nicht verbessert. Obwohl seit Jahren ständig sogenannte Entspannung am Arbeitsmarkt gefeiert wird. Doch die im Großen und Ganzen gute Konjunktur geht an breiten Schichten der Bevölkerung vorbei.“

Die Zunahme der Erwerbstätigkeit geht also ganz und gar nicht mit einer Verringerung der Armut einher. Aber hieß es nicht immer, dass man mit Arbeit aus der Armutsfalle herauskäme? Dass jeder Einzelne es in der Hand habe, sich durch eigener Hände Arbeit aus der Armut zu befreien?

Das funktioniert in westlichen Gesellschaften für große Teile der Gesellschaft augenscheinlich nicht mehr.

„Spätestens seit dem für die meisten völlig unerwarteten Wahlsieg Donald Trumps in den USA finden sich all jene, die unbeirrt vor einer ‚auseinanderdriftenden‘ Gesellschaft warnten, sehr ernst genommen, wird ihre Mahnung zu mehr Gleichheit nicht mehr einfach als ideologiegeleitet abgetan. Spätestens mit dem Erscheinen der Pegida-Bewegung und neuer Demagogen am rechten Rand fühlen sich mehr und mehr Akteure im öffentlichen Diskurs angehalten, sich dem Faktum einer zunehmenden Ungleichheit und einer tiefen sozialen Verunsicherung der Menschen bis in die Mittelschichten hinein zu stellen“, schreiben Prof. Dr. Rolf Rosenbrock und Dr. Ulrich Schneider im Vorwort zum Armutsbericht. „Die neuesten empirischen Daten zur Armutsentwicklung – anders als noch 2015 oder 2016 – machen ein weiteres Leugnen ohnehin unmöglich. Nach der EU und dem Statistischen Bundesamt legte im Januar 2017 auch das DIW seine neuen Armutsquoten vor und kommt zu dem eindeutigen Befund: ‚Alle drei Datenquellen zeigen für die vergangenen Jahre den gleichen leicht steigenden Trend an.‘“

Was in Zahlen zumeist heißt, dass die niedrigen Einkommensgruppen in der finanziellen Entwicklung stagnieren, während sich die oberen Einkommensgruppen immer mehr vom erwirtschafteten Kuchen nehmen.

Kein Wunder, dass die Kampagne des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz mit dem Schlagwort „Gerechtigkeit“ eine derartige Resonanz findet: Man kann nicht mal mehr über Auslegungen des Begriffs debattieren, wenn Menschen – obwohl sie arbeiten – trotzdem nicht aus den miserablen Einkommensverhältnissen herauskommen. An dieser Stelle wird der ganze Kitt einer Gesellschaft brüchig.

„Deshalb erwarten wir von der Sächsischen Staatsregierung Aktivität auf Bundesebene insbesondere zur Eindämmung prekärer Beschäftigung und Erhöhung des Mindestlohns“, sagt Gebhardt. Auch wenn das nur zwei Aspekte eines systematisch angelegten Problems beschreibt. „Es geht aber nicht nur um Geld. Wir müssen die Zugangshürden zu Kultur und auch Bildungsangeboten abbauen. Die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus hat dazu gerade erst eine entsprechende Agenda für die rot-rot-grüne Landesregierung formuliert, die auch den gesellschaftlichen Skandal der immer weiter verbreiteten Kinderarmut in den Fokus nimmt. Allein in Sachsen gibt es mindestens 150.000 arme Kinder. Das lässt sich nicht schönreden!“

Wobei die Linke ihren Fokus – meist zu stark – nur auf die negativen Folgen der Armut legt. Doch das ist in einer modernen Gesellschaft immer nur ein Teil des Gesamtproblems.

Aus Gebhardts Sicht: „Ich warne davor, den Armutsbericht mit einem sinnlosen Streit um Berechnungsgrundlagen für Armutsquoten vom Tisch wischen zu wollen. Wenn arme Männer und Frauen zehn bzw. acht Jahre kürzer leben als Wohlhabende, kann niemand ernsthaft daran zweifeln, dass wir in einer tief gespaltenen Gesellschaft leben, in der Lebenschancen im wahrsten Sinne des Wortes höchst ungleich verteilt sind.“

Zumindest das Stichwort Lebenschancen fällt.

Das hat der Ökonom Marcel Fratzscher in einer Kolumne auf „Zeit Online“ noch ein wenig deutlicher gesagt: „Dennoch hat die Ungleichheit von Chancen, Einkommen und Vermögen in Deutschland heute ein Ausmaß erreicht, das wirtschaftlich und gesellschaftlich schädlich ist. Sie schmälert Produktivität, Wachstum, Gesundheit und Innovation – und letztlich damit den Wohlstand aller, nicht nur der direkt Betroffenen. Die entscheidende Frage im Wahlkampf sollte deshalb sein, wie durch eine bessere Chancengleichheit und Teilhabe der Wohlstand für alle – um Ludwig Erhard zu zitieren – verbessert werden kann.“

Denn was da rumort, ist eine ausgegrenzte, stigmatisierte Energie: Es sind Menschen, die mitmachen wollen, die in unserer Gesellschaft etwas verwirklichen wollen aus ihren Talenten und Möglichkeiten – und darin allerseits behindert werden. Es sind nicht nur behinderte Menschen, die ausgegrenzt werden. Ganze Bevölkerungsschichten werden durch Auslese und Ausgrenzung erst zu Behinderten gemacht. Und wer auch nur ein bisschen über das Menschsein nachgedacht hat, weiß, wie viel Frust, Aggression, regelrechte Wut da entstehen, wenn im Grunde hochbegabte, nur leider schweinearme Menschen permanent gezeigt bekommen, dass man sie weder haben noch würdigen will. Sie fühlen sich regelrecht zu überflüssigen Menschen gemacht.

Das geht den Arbeitern im Mittleren Westen der USA genauso wie den Migranten in der Pariser Banlieue und den Billiglöhnern in Sachsen. Es ist überall derselbe Frust über eine verschlossene Gesellschaft, in der die Chancen auf die Verwirklichung eines selbstständigen Lebens fast allein davon abhängen, wie reich das Elternhaus war. Dessen Einkommen bestimmt immer stärker, welche Lebenschancen junge Menschen bekommen – und welche Wege ihnen einfach verbaut sind. Und auch, wie manifest die Armut in einer Stadt wie Leipzig ist, wenn die Kinder aus einkommensschwachen Familien bestenfalls wieder im Schwungrad der prekären Beschäftigung landen.

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