Eigentlich gab es keinen wirklichen Konflikt zwischen Kulturdezernat und Linksfraktion beim Thema Aufarbeitung der Leipziger Kolonialgeschichte, auch wenn das Kulturdezernat extra einen langen alternativen Verwaltungsstandpunkt schrieb. Doch manchmal geht es tatsächlich um ein politisches Signal. Die Mehrheit bekam in der Ratsversammlung am 12. November die Neufassung des Linke-Antrags „Leipziger Kolonialgeschichte in die Erinnerungskultur aufnehmen“. Und das nach eine sehr erhellenden Diskussion.

Und dazu trug ein recht seltsamer Redebeitrag eben auch von CDU-Stadtrat Karsten Albrecht bei, der über einen sehr schwammigen Begriff von „Was ist Geschichte?“ philosophierte und meinte, es sei nicht Aufgabe des Stadtrats, sich mit solchen Themen zu beschäftigen. „Ist es Aufgabe es Stadtrates? Nein!“, meinte er. Und legte dann noch einmal nach, indem er genau das formulierte, was fatale Ereignisse in der Geschichte immer wieder verharmlost: „Wir müssen die Geschichte immer im zeitlichen Kontext betrachten.“

Das kann man wohl tun. Aber das kann bestenfalls in der historischen Forschung helfen, die Motive der Akteure zu begreifen und die Rahmenbedingungen ihres Handelns. Aber das schafft weder Verbrechen noch Gewalt noch Unrecht aus der Welt. Und beim Thema Kolonialismus kommt nun einmal hinzu, dass das über Jahrzehnte in Deutschland ein Tabu-Thema war. Es wurde einfach nicht drüber gesprochen und auch nicht geforscht.

Was übrigens auch das Leipziger Kulturdezernat so sieht. „Aus postkolonialer Perspektive ist es notwendig, den deutschen Kolonialismus in seinen Wirkungen während, aber auch vor und nach den Zeiten formaler Kolonialherrschaft von 1884 bis 1919 zu untersuchen und seine Spuren und Nachwirkungen bis in die Gegenwart zu verfolgen. Dies umfasst erinnerungspolitisch auch eine Auseinandersetzung mit den Fragen von Schuld und Wiedergutmachung“, schrieb es in seinem Verwaltungsstandpunkt.

„Das Zeitalter der kolonialen Expansion des Deutschen Reiches und sein Niederschlag in der Geschichtskultur und dem kolonialen Erbe gehören in der Tat zu den noch keineswegs ausreichend erforschten Themen auch der Leipziger Geschichte. Eine umfassendere Auseinandersetzung mit den problematischen Aspekten der kolonialen Aneignungsweise und ihren teils langwirkenden Einflüssen auf die Mentalitätsgeschichte ist daher auch für Leipzig und seine Erinnerungskultur angezeigt und wird von der Stadtverwaltung Leipzig begrüßt. Erste Ansätze dazu sind in der Arbeit der Leipziger Museen und Initiativen bereits erkennbar und sollte durch die Stadt befördert werden.“

Und natürlich wird die notwendige Forschung auch genau dort passieren. Karsten Albrecht jedenfalls bekam eine Menge Gegenrede auf seine seltsame Volte, dem Stadtrat eine Positionierung zu so einem Thema einfach abzureden. Thomas Köhler (Piraten) erklärte dem so geschichtsmüden CDU-Stadtrat denn auch, dass es nicht um das Stürzen von Denkmälern geht, sondern um eine überfällige historische Aufarbeitung. Die Kolonialzeit ist nun einmal noch immer ein weißer Fleck in der Leipziger Geschichtsforschung. Köhler verwies auf den Kaufmann Franz Dominic Grassi, der als Mäzen und Stifter in der Leipziger Geschichte einen Ehrenplatz hat. „Aber sein Geld verdient hat er mit südländischen Dingen“, so Köhler.

Eine Handelsstadt wie Leipzig spielte ganz zwangsläufig eine Rolle in der deutschen Kolonialgeschichte.

Die Linksfraktion hätte zwar den Verwaltungsstandpunkt übernehmen können und damit auch zugestehen, dass Forschung zur Kolonialzeit und zur Provenienz der in Leipzigs Museen zu findenden Sammlungsstücke schon passieren. Aber sie schärfte ihren Ursprungsantrag noch einmal nach, damit der Beschluss wirklich deutlich machte, dass es an der Zeit ist, die Kolonialzeit aus ihrem Nebel des Vergessenseins herauszuholen.

Die drei Beschlusspunkte lauteten nun:

1. Der Oberbürgermeister wird beauftragt, dem Stadtrat bis zum 3. Quartal 2021 Vorschläge zu unterbreiten, wie die Leipziger Kolonialgeschichte historisch fundiert erforscht und im Konzept zur Erinnerungskultur der Stadt Leipzig kritisch verankert werden kann. In die Erarbeitung der Vorschläge werden das Stadtgeschichtliche Museum, Partner/-innen im GRASSI Museum für Völkerkunde und der Universität Leipzig sowie der Leipziger Zoo und zivilgesellschaftliche Initiativen, wie die AG Leipzig Postkolonial, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und zum Thema arbeitende wissenschaftliche Expert/-innen einbezogen.

2. Die Vorschläge sollen u. a. folgende Punkte enthalten: Darstellung der Leipziger Kolonialgeschichte auf der Homepage der Stadt Leipzig, Aufarbeitung und geeignete Darstellung der eigenen Kolonialgeschichte im Programm und auf der Ausstellungsfläche des Leipziger Zoos sowie aussagekräftige Hinweisschilder an Straßennamen, Orten und Institutionen (z. B. Stadtbibliothek, Naturkundemuseum) mit relevantem Bezug zur Kolonialgeschichte.

3. Das Thema Leipziger Kolonialgeschichte wird in der 2. Jahreshälfte 2022 in das Themenjahr: Leipzig – Stadt der Bildung/Kriterien: Urbanität und Vielfalt aufgenommen und mit entsprechenden Formaten und finanziellen Mitteln untersetzt.

Der Stadtrat hat in seiner Sitzung am Donnerstag, 12. November, diesen Antrag der Linksfraktion auch entsprechend beschlossen, nachdem zuvor SPD-Stadtrat Christian Schulze den Verwaltungsstandpunkt noch zur Abstimmung stellte. Aber der bekam mit 20:39:2 Stimmen keine Mehrheit.

Und auch wenn CDU und AfD dagegenstimmten, war das positive Votum für den Antrag der Linksfraktion mit 35:26 Stimmen eindeutig.

Damit ist der Weg geebnet, dass sich Leipzig endlich dezidiert diesem blinden Fleck der Stadtgeschichte widmet: Der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit. Die Stadt ist nun beauftragt, Vorschläge zu unterbreiten, wie die Leipziger Kolonialgeschichte in der Erinnerungskultur der Stadt kritisch verankert werden kann.

Dabei sollen neben etablierten Institutionen wie das GRASSI Museum für Völkerkunde und das Stadtgeschichtliche Museum auch zivilgesellschaftliche Initiativen wie die AG Leipzig Postkolonial, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, Leipzig sowie Historiker/-innen und zum Thema arbeitende wissenschaftliche Expert/-innen einbezogen werden.

Und es waren ja auch ganz aktuelle Ereignisse, die zu diesem Antrag führten. Daran erinnerte Linke-Stadträtin Juliane Nagel in ihrer Rede: Mit den Protesten der Black-lives-Matter-Bewegung in Deutschland wurde auch der Ruf nach einer Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit laut. Auch Deutschland war eine führende Kolonialmacht.

Die kolonialen Ausbeutungs- und Unterdrückungs-Praxen waren rassistisch. Die ansässigen Menschen wurden zumeist als unterentwickelt betrachtet, die es nach den eigenen westlichen Prämissen zu zivilisieren galt. Zur kolonialen Praxis gehörte nicht allein der Raub von wirtschaftlichen und kulturellen Gütern aus den eroberten Gebieten, sondern auch das Anwerben von Menschen für sogenannte „Völkerschauen“.

Und spätestens an diesem Punkt führen die Spuren direkt nach Leipzig, unter anderem in den Zoo, wo der Stadtrat an diesem Donnerstag auch tagte. Doch die Spuren führen weiter: ins Leipziger Verlagswesen, in Universitäten, Museen, die Messe bis in den Clara-Zetkin-Park. Auch Leipziger Straßen trage Namen von Akteuren, die aktiv an kolonialen Praxen beteiligt waren.

„Es ist gut, dass die zivilgesellschaftliche Bewegung für die kritische Aufarbeitung auch der lokalen Kolonialgeschichte nun auch den Stadtrat und die Stadtverwaltung erreicht haben“, meint Juliane Nagel. „Die Frage nach dem Umgang mit problematischen Straßennamen ist dabei nur ein Teil der Debatte. Es geht auch um Sichtbarmachung bisher unsichtbarer Orte kolonialer Entmenschlichung. Es geht darum, den Rassismus der Gegenwart in seiner kolonialen Tradition zu verstehen und zu überwinden.“

Und Linke Stadtrat Michael Neuhaus ergänzt: „Erinnerungskultur ist politisch. Wir müssen das, was vor einem Jahrhundert noch übliche Praxis war, kritisch hinterfragen und in diesem Zusammenhang auch bereit sein, Straßen umzubenennen und Denkmäler zu stürzen. Wir danken den vielen Aktivist/-innen, die in den letzten Monaten die kritische Debatte um Rassismus, seine historischen Wurzeln und seine Gegenwart, geführt haben und damit auch den Impuls für unsere Initiative gegeben haben.“

Wie geschichtsvergessen (und das sichtlich mit Absicht) man sein kann, machte dann AfD-Stadtrat Christoph Neumann deutlich, der tatsächlich mit dem Spruch ans Pult ging „Leipzig hatte keine Kolonien“. Damit wäre auch Kolonialismus kein Thema. Was zumindest zeigt, wie unbequem den Rechtsaußen im Leipziger Stadtrat das Thema Kolonialismus ist. Denn natürlich gehört es direkt zur Geschichte jenes Deutschen Reiches, dessen Gründungsjubiläum sie 2021 so gern gefeiert hätten. Stattdessen passt natürlich die Aufarbeitung der Kolonialzeit hervorragend in die Aufarbeitung der Zeit des Wilhelminischen Reiches. Beides gehört direkt zusammen.

Bis zum 2. Quartal 2021 soll die Stadtverwaltung dem Stadtrat nun Vorschläge vorlegen, wie die Kolonialgeschichte in Leipzig fundiert erforscht und eine kritische Erinnerungskultur geschaffen werden kann.

Video: Livestream der Stadt Leipzig

Die „Völkerschauen“ und Ernst Pinkert im Zoo Leipzig – wann und wo erfolgt die Aufarbeitung?

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Leipziger Zeitung Nr. 85: Leben unter Corona-Bedingungen und die sehr philosophische Frage der Freiheit

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