"Von außen sieht es nicht so schlimm aus - aber das ist ein Trick", so lautet der Titel eines Vortrages, der am Dienstagabend, dem 18. November, in Markkleeberg-Gaschwitz stattfand - eine Gemeinschaftsaktion des Vereins Bon Courage e.V. aus Borna, der katholischen Kirchgemeinde St. Peter und Paul, der evangelischen Kirchgemeinde der Martin-Luther-Kirche und der Stadt Markkleeberg. Ein Blick in das Leben von Asylsuchenden im Landkreis Leipzig. Mit einer Ministerin als Gast.

Dr. Nikolaus Legutke, Markkleeberger SPD-Stadtrat, begrüßt um 18 Uhr die 40 Gäste in der Orangerie Gaschwitz und sieht “ein dringendes Problem, da immer mehr Asylsuchende kommen”. Die wenigen Sozialarbeiter, die derzeit tätig sind, reichen nicht aus, auch die Zahl der Unterkünfte müsse dringend steigen. Zu Gast auch Petra Köpping, erst vor wenigen Tagen zur Sächsischen Staatsministerin für Gleichstellung und Integration im Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz (SMS) ernannt. Sie sei einfach mal vorbeigekommen, um sich ein Bild der Situation vor Ort zu machen.

Sandra Münch vom Bornaer Verein Bon Courage e.V., der sich seit 2007 für die Belange der Flüchtlinge einsetzt, unterstützt diese Forderungen und erklärt den Anwesenden, warum sie sich nun schon seit so vielen Jahren im Verein engagiert. Auf der Vereins-Website formuliert man es so: “Bon Courage e.V. hat sich die Aufgabe gestellt, in Form von politischer Öffentlichkeits-, Aufklärungs- und Bildungsarbeit in die Gesellschaft hineinzuwirken, um selbige für ein solidarisches, von gegenseitigem Respekt geprägtem Miteinander zu sensibilisieren. Demzufolge soll niemand aufgrund von Geschlecht, Alter, körperlicher bzw. geistiger Beeinträchtigung, sexueller Identität, Herkunft oder Religion diskriminiert, ausgegrenzt oder unterdrückt werden.”Und weiter: “Als kontinuierliche Aktionsfelder eröffnen sich dem Verein in diesem Zusammenhang u.a. einerseits die aus dem einleitend geschilderten Problem resultierende Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus, Neonazismus, Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und anderen menschenverachtende Einstellungen sowie andererseits die direkte Unterstützung von Asylsuchenden im Landkreis Leipzig.”

Sandra Münch vom Bon Courage e.V. während der Informationsveranstaltung. Foto: Patrick Kulow
Sandra Münch vom Bon Courage e.V. während der Informationsveranstaltung. Foto: Patrick Kulow

In diesem Sinne sei der Vortrag mit diesem Thema entstanden, um interessierte Menschen über die aktuelle Situation und auftretende Probleme zu informieren. Bevor Sandra Münch mit dem Vortrag beginnt, stellt sie Mehran vor, einen jungen Iraner, der seit anderthalb Jahren in Deutschland lebt und an diesem Abend von seinen Erlebnissen und Erfahrungen berichten möchte.Münch erklärt den anwesenden Gästen, warum und auf welchen Wegen Flüchtlinge nach Deutschland kommen, wieviele es überhaupt sind (auch im Vergleich mit den benachbarten europäischen Ländern), was es mit dem “Königsteiner Schlüssel” auf sich hat und wie sich die aktuelle Situation aus ihrer Sicht darstellt. Immerhin hat die ehrenamtlich für den Verein Tätige nahezu jeden Tag mit den Flüchtlingen und deren Problemen, Sorgen und Nöten zu tun. Sie zeigt in ihrer Präsentation, wo im Landkreis wieviel Asylsuchende untergebracht sind und redet sehr offen über die räumlichen, organisatorischen und hygienischen Bedingungen in den Gemeinschaftsunterkünften.

Wohnsituation im Asylbewerberheim. Informationsveranstaltung zur Situation der Asylsuchenden im Landkreis Leipzig. Foto: Patrick Kulow
Aus der Präsentation des Bon Courage e.V.: Ein Asylbewerberheim im Landkreis Leipzig von außen. Foto: Patrick Kulow

Rundum Kopfschütteln, als sie Beispiele nennt: “Alle fünf Gemeinschaftsunterkünfte des Landkreises befinden sich außerhalb der größeren Städte, in Thräna, Hopfgarten, Elbisbach, Bahren und Rötha.” Noch nie gehört? Sandra Münch macht das sehr bildhaft klar: “Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Flüchtling, der erst seit einigen Tagen in einem der Wohnheime ist. Sagen Sie dem mal, dass er nach Borna zu einem Amt muss. Da sind nicht nur die fehlenden Deutschkenntnisse ein Problem. Die haben kein Auto, kennen unseren Nahverkehr nicht. Die wissen ja nicht einmal, wo genau sie sind. Die brauchen Hilfe, jeden Tag.” Sonst werde schon der Lebensmitteleinkauf (nur in bestimmten Läden) und der Gang zu irgendwelchen Behörden oder zum Arzt zu einer Hürde, die die Betroffenen nicht schaffen.

Sandra Münch spricht auch über die Probleme der nach wie vor in Sachsen gültigen Residenzpflicht. Asylsuchende dürfen sich nicht aus dem ihnen zugewiesenen Bereich, dem Landkreis Leipzig, herausbewegen, ein Besuch in Leipzig ist nur auf Antrag mit einem “Urlaubsschein” möglich. Und da sei es schon eine Schwierigkeit, wenn schulpflichtige Kinder der Flüchtlingsfamilie einen Wandertag machen oder einfach mal die Schulfreunde besuchen wollen. Ein Besuch in einem Leipziger Museum? Nahezu unmöglich. Es drohen Geldstrafen und sogar Freiheitsentzug.

Ähnliche Probleme wie beim Herauskommen gibt es auch beim Hereinkommen. Münch zeigt Fotos aus verschiedenen Wohnheimen des Landkreises und sagt bei der Außenaufnahme einer Gemeinschaftsunterkunft, dass das auf sie immer wirkt, “als sei das ein Gefängnis”. Dass die Flüchtlinge zu ihrem eigenen Schutz vor Überfällen so hinter Zäune gepackt werden (müssen), mag dem einen oder anderen noch notwendig erscheinen. Kein Verständnis haben die Gäste des Vortrags allerdings, dass die in den Heimen Untergebrachten auch nur sehr schwer Besuch empfangen dürfen. Auch Münch als Mitarbeiterin des Vereins Bon Courage e.V. hat den Eindruck, “wir werden dort auch nur geduldet”. Die Fragen “Wie soll man die denn dann erreichen? Wie kann man helfen?” werden genannt.

Ein Asylbewerberheim im Landkreis Leipzig von innen. Foto: Patrick Kulow
Aus der Präsentation des Bon Courage e.V.: Ein Asylbewerberheim im Landkreis Leipzig von innen. Foto: Patrick Kulow

Dann ein Thema, das Sandra Münch besonders wichtig zu sein scheint. Die Zustände, unter denen die Asylsuchenden wohnen, sind in manchen Einrichtungen eigentlich unzumutbar. Die Art, wie sie den Satz ausspricht, lässt allerdings ahnen, dass sie für das, wie sie es eigentlich sagen will, eine höfliche Formulierung gesucht hat. Sechs Menschen gemeinsam in einem 20-Quadratmeter-Zimmer, für mehrere dieser Zimmer eine Gemeinschaftsküche und ein Waschraum. Manche wurden nur notdürftig als Unterkunft hergerichtet. Sie berichtet von einem Familienvater, der ein anderes riesengroßes Problem hat: Kakerlaken. Er erzählte ihr, dass die Familie immer mit eingeschaltetem Licht schlafe, da sich dann weniger Kakerlaken raustrauen. Er als Vater schlafe kaum noch, weil er die ganze Nacht damit beschäftigt sei, die Kakerlaken von den Gesichtern seiner Kinder fortzuscheuchen. Münchs ehrliches Fazit: “Das erzeugt psychischen Stress und in der Folge Depressionen. Wo ist die Kontrolle? Was nützt ein Ampelsystem zur Einschätzung der Eignung der Wohnheime, wenn das das Ergebnis ist? Was passiert mit dem Geld, das die Wohnheimbetreiber für die Unterbringung erhalten? Das sind 7,50 Euro pro Person, pro Nacht. In manchen sogar noch mehr.”Einige der Anwesenden sind erbost und fragen nach, wer denn die Verantwortlichen sind, die hier in der Kontrollpflicht sind. Münch: “Diese Kontrollen nützen nichts. Sie sind angekündigt. Da wird kurz vorher nochmal jemand zum Saubermachen durchgeschickt. Wenn, dann müssten die Kontrollen unangemeldet kommen.” Mehrere der anwesenden Gäste äußern ihre Fragen. Und wenn man schon mal eine neu ernannte Ministerin für Gleichstellung und Integration zu Gast hat.

Ministerin Petra Köpping ist zu Gast bei der Informationsveranstaltung. Foto: Patrick Kulow
Ministerin Petra Köpping ist zu Gast bei der Informationsveranstaltung. Foto: Patrick Kulow

Petra Köpping (SPD) kennt die Probleme in den Heimen und formuliert es so: “Wir brauchen die dezentrale Unterbringung. Wir müssen es schaffen, die Menschen besser zu integrieren. Dafür brauchen die Landkreise natürlich auch mehr Geld. Noch ist für mich als Ministerin alles neu, es sind ja erst wenige Tage, aber ich kämpfe um Stellen, ich kämpfe um Geld. Es geht nicht, dass sich alle verantwortlichen Beteiligten – der Bund, das Bundesland und die Kommunen – einfach wegducken.” Sie erwähnt den am Montag stattfindenden Integrationsgipfel, dessen Ziel es sei, in verschiedenen Arbeitsgruppen die bestehenden Initiativen besser zu vernetzen. “Die Menschen den ganzen Tag in den Heimen sitzen zu lassen, ohne irgendeine Beschäftigung, das geht nicht. Ich kämpfe für Arbeitsmöglichkeiten für die Asylsuchenden, selbst wenn es nur kleine Tätigkeiten in den Kommunen sein sollten. Es geht um die Anerkennung von Berufen und darum, dass die Menschen sportliche und kulturelle Aktivitäten nutzen können.”Die Ministerin freue sich über die sehr sachliche Diskussion hier in Markkleeberg, beschreibt den Anwesenden kurz ihre Eindrücke von der Veranstaltung am Vorabend in Leipzig und bittet die interessierten Menschen in den Städten und Dörfern, “Vorurteile zu überwinden, den Kontakt zu suchen und die Menschen kennenzulernen. Nicht alles Fremde ist was Feindliches”.

Sabine Baldauf vom Büro der Gleichstellungs- und Integrationsbeauftragten der Stadt Markkleeberg ergänzt hier und sieht vor allem in den kleinen Alltagsdingen eine große Hilfe: “… sich bei einem Kaffee kennenzulernen, mal gemeinsam einkaufen zu gehen, den Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen, oder einen aus der Familie mal ins Auto zu setzen und zum Arzt zu bringen … Und manchmal reicht es schon, einfach da zu sein, sich als Gesprächspartner und Hilfe anzubieten. Das würde viel verändern und erleichtern.” Sie stehe gern als Ansprechpartnerin zur Verfügung, um zu informieren und zu vermitteln.

Ministerin Petra Köpping beendet ihren Besuch der Veranstaltung mit einem Satz, den wohl jeder der Anwesenden aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen, Angst machenden Nachrichten aus vielen Medien oder aufgrund der an diesem Abend gehörten Informationen so auch hätte formulieren können: “Wir sind in Deutschland weit entfernt von einer Willkommenskultur.”

Dr. Legutke aus dem Markkleeberger Stadtrat beschließt den Vortragsabend in der Gaschwitzer Orangerie und die Diskussionsrunde mit dem Wunsch, auch in Markkleeberg eine Atmosphäre des Willkommens zu schaffen. “Lassen Sie keine Distanz entstehen! Berührungsängste seien auf beiden Seiten vorhanden, also überwinden Sie doch bitte Ihre Scheu und helfen Sie denen, die die Hilfe dringend brauchen!”

www.boncourage.de

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