Sachsen hat schon längst zu wenige Polizisten, um alle Aufgaben auch personell abdecken zu können. Doch seit 2014 kamen sie zusätzlich unter Druck, als ein paar völlig verängstigte Bürger in Dresden anfingen, gegen alles zu demonstrieren, was sie derzeit in Panik versetzt. Seitdem sind Sachsens Polizisten quasi im Dauerstress. Das ergeben drei Anfragen, die der Landtagsabgeordnete der Linken, Enrico Stange, gestellt hat.

Eigentlich bräuchte es gar keine Strukturkommission, um festzustellen, dass es bei Sachsens Polizei hinten und vorne nicht reicht. Aber die Kommission ist jetzt wenigstens eingesetzt, um das nachzuholen, was Innenminister Markus Ulbig (CDU) 2010 völlig verabsäumt hat, als er seine “Polizeireform” 2020 vom Zaun brach, die sich als eine Polizeideformierung 2014 entpuppte. Es war eine zentrale Forderung der SPD für ihre Regierungsbeteiligung, dass der Personalabbau bei der Polizei sofort gestoppt wird. Was freilich die Löcher nicht stopft, die in den vergangenen Jahren aufgerissen sind.

Und Sachsens Innenminister hätte es wissen müssen, dass die Aufgaben der Polizei wachsen und nicht abnehmen, wenn die Grenzen zu den euroäpischen Nachbarländern geöffnet werden und die Bundespolizei abgezogen wird. Der Bundesinnenminister hätte es auch wissen müssen – hat aber auch nur auf seine Zahlen geschaut. Im Ergebnis gibt es eine heillose und völlig sinnfreie Diskussion um die Wiedereinführung von Grenzkontrollen – Bayern und Sachsen vorneweg.

Aber warum eigentlich, fragt Enrico Stange, der innenpolitische Sprecher der Fraktion Die Linke im Sächsischen Landtag? Wie kann ein sächsischer Innenminister mehr Grenzkontrollen fordern, wenn er nicht mal die eigene Polizei personell vernünftig ausgestattet hat?

“Wer mehr Grenzkontrollen fordert, sollte zunächst seine Hausaufgaben machen und den Fahndungsdruck erhöhen”, benennt Stange das Thema, bei dem Sachsens Innenminister gern kneift. “Dafür müssen Bereitschaftspolizei und Polizeidirektionen wieder in der Lage sein, die erforderliche Präsenz sowohl im grenznahen Raum als auch auf Sachsens Fern- und Kreisstraßen zu realisieren. Wie die Zahlen aus den Antworten der von mir gestellten Kleinen Anfrage zeigen, muss die Sächsische Staatsregierung sofort gegensteuern und nicht nur den Einstellungskorridor für Polizeianwärter für 2015, 2016 und 2017 auf mindestens 500 Anwärter pro Jahr erhöhen, sondern auch einen sofortigen Personal- und Stellenabbaustopp verfügen. Ein fahrlässiges Zuwiderhandeln gefährdet die Einsatzfähigkeit und Gesundheit der Polizei sowie die Sicherheit der Bürger.”

Denn die paar Reserven, die die sächsische Polizei noch hat, sind seit Herbst 2014 gebunden. In Dresden, Leipzig und anderswo.

“Seit Herbst 2014 finden regelmäßig in ganz Sachsen von diffuser Angst getriebene Demonstrationen unter anderem gegen vermeintliche ‘Islamisierung des Abendlandes’ statt. Die Belastung der Polizei durch diese Einsätze ist stetig gestiegen”, stellt der Linke-Abgeordnete fest. “Wie die Antwort auf meine Kleine Anfrage (Drucksache 6/1739) zeigt, wurden zur Absicherung der sachsenweiten ‚gida’-Demonstrationen von 20. Oktober 2014 bis 30. Mai 2015 insgesamt 27.992 sächsische Polizisten eingesetzt, die dabei 155.422 Einsatzstunden leisteten. Hinzu kommen noch weitere Demonstrationen und Aufzüge.”

Und woher kommen die ganzen Polizisten? Natürlich werden sie aus dem regulären Dienst abgezogen. Sie fehlen in den Revieren und beim regulären Streifendienst. Wo dann eigentlich die Bereitschaftspolizisten meistens noch aushalfen. Aber gerade die werden ja im Demonstrationsgeschehen besonders häufig eingesetzt, was wieder im Streifendienst neue Löcher reißt. Und zwar genau da, wo Sachsens Innenminister jetzt mehr Grenzkontrollen haben möchte.

“Während die Einsätze der Bereitschaftspolizei bei Demonstrationen stark anwachsen, sinken gleichzeitig die Einsatzstunden zur Unterstützung des Streifendienstes. So reduzierte sich die Stundenzahl bei allgemeinen Unterstützungseinsätzen im Jahr 2014 auf 21.500 (Vorjahr 27.597)”, stellt Stange nun anhand der vom Innenminister gelieferten Zahlen fest. “Im gleichen Zeitraum sank die Einsatzzeit der Bereitschaftspolizei im grenznahen Raum von 47.811 auf 29.089 Stunden (Drucksache 6/1682). Lediglich die Einsatzstunden-Zahl zur Sicherung der durch fremdenfeindliche Proteste und Übergriffe bedrohten Erstaufnahme- und Asylbewerberunterkünfte und zu ethnisch-kulturellen oder religiösen Konflikten in diesen Einrichtungen, die durch räumliche Enge und Belegungsdichte entstehen, ist gestiegen.”

Was dann auf einen anderen Aspekt der sächsischen Politik hinweist: Die zunehmende Aggression von rechtsextremen Akteuren gegen Asylbewerberunterkünfte. Oft genug werden diese Vorfälle auch von entsprechend rigiden Kampagnen erzkonservativer Politiker begleitet, frei nach dem Motto: “Asyl ja, aber nicht bei uns.”

“Wir erleben momentan eine abscheuliche Bedrohungslage für Zufluchtsuchende. Menschen, die in der Hoffnung auf Schutz zu uns kommen, müssen in Angst leben“, kommentierte das am Mittwoch, 17. Juni, Christin Melcher, Vorstandsprecherin von Bündnis 90/Die Grünen Leipzig. „Die Situation wird verschärft durch rechtspopulistische Demonstrationen und nicht zuletzt auch durch eine Stimmungsmache von erzkonservativen CDU Abgeordneten. Eine Rhetorik, die von  ‘Armutsflüchtlingen’, vom ‘Sozialschmarotzer’ und ‘Asylbewerbern geht es besser als uns’ spricht, zeugt nicht nur von Unkenntnis, sondern nährt den Boden für rassistische Überfälle. Auch die erzkonservativen Politiker müssen erkennen, dass die Gewalt von rechts kommt und sich für den Schutz von Asylsuchenden aktiv einsetzen.”

Heißt also im Klartext: Die rechtspopulistischen Umtriebe belasten die Polizei gleich doppelt – mit den oft genug daraus folgenden Gefährdungen für Asylbewerberunterbringungen und durch die Demonstrations-Dauerbelastung.

Und nicht nur die Bereitschaftspolizisten sind im Dauerstress – auch die regulären Polizisten werden dauerbelastet.

“Die Polizeireviere und Polizeidirektionen werden zudem in ihrem täglichen Dienst durch den Einsatz der sogenannten Aufrufeinheiten geschwächt”, benennt Enrico Stange diesen Aspekt des Einsatzgeschehens. “Dabei handelt es sich um Polizeihundertschaften, bestehend aus Polizisten verschiedener Reviere, die zur zeitlich befristeten Unterstützung der Bereitschaftspolizei zusammen gezogen werden. Deren Einsatzzeiten sind bereits im ersten Halbjahr 2015 im Vergleich zum gesamten Jahr 2014 von 9.069 Stunden auf über 24.695 Stunden und damit um 172 Prozent gestiegen (Drucksache 6/1683).”

Eingesetzte Polizisten bei “gida”-Demonstrationen. (Landtagsdrucksache Nr. 1739)

Bereitschaftspolizei im Streifendienst. (Landtagsdrucksache Nr. 1682)

Alarmzüge der sächsischen Polizei. (Landtagsdrucksache 1683)

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