Eine Nachfrage aus dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages sorgte jüngst erst wieder für Furore, weil wichtige Akten zum sächsischen Unterstützerumfeld der Terrorgruppe augenscheinlich 2002 bei einem Hochwasser in Chemnitz unwiederbringlich verlorengingen. Aber augenscheinlich wurde aus dem Hochwasser von 2002 nichts gelernt: Auch 2010 gingen wieder kubikmeterweise wichtige Aktenbestände verloren.

Das ist das Ergebnis einer Landtagsanfrage, die die Abgeordnete der Linksfraktion, Kerstin Köditz, gestellt hat. Bei den jüngst vom Untersuchungsausschuss des Bundestages angeforderten Akten ging es um die Beschäftigung zweier NSU-Mitglieder in der Baufirma eines ihrer Unterstützer. Eigentlich ein schon bekannter Fall. Aber das Ausmaß der von Hochwassern bei sächsischen Staatsanwaltschaften zerstörten Aktenbestände hat jetzt auch Kerstin Köditz überrascht.

Denn durch einlaufendes Hochwasser in Archivräumen der Staatsanwaltschaft Chemnitz sind wiederholt und weit mehr Akten vernichtet worden als selbst von der kritischen Linken befürchtet.

Während für das Jahr 2002 „keine Aussagen zum konkreten Umfang der vernichteten Akten“ mehr getroffen werden können, handelte es sich im Jahr 2010 um „ca. 600 laufende Meter Akten“, wie das Staatsministerium der Justiz nun auf meine Kleine Anfrage (Parlaments-Drucksache 6/4979) mitteilte. „Vermutlich gingen also Tausende Einzelbände unwiederbringlich verloren. Die Aufklärung im NSU-Komplex wird dadurch erheblich erschwert“, so Köditz.

Wobei der Justizminister für die 2002 abgesoffenen Akten nicht einmal eine Größenordnung nennen kann, weil selbst die Belege für die Entsorgung der durchnässten Akten mittlerweile vernichtet wurden. Dabei war 2002 nicht einmal das Hochwasser selbst für die Flutung des Gebäudes in der Annaberger Straße 79 in Chemnitz verantwortlich, sondern der im Gefolge stark ansteigende Grundwasserstand. Man hat zwar versucht, das Problem zu beheben, stellte dann aber 2010 fest, dass die Archivkeller trotzdem wieder unter Wasser standen. Eine Gefahr, die übrigens auch bei der Staatsanwaltschaft Zwickau in der Humboldtstraße 1 besteht, wo man vorsorglich die unteren Regalreihen schon leer lässt.

Auch die Staatsanwaltschaft Dresden hatte in der Vergangenheit mehrfach Probleme mit gefluteten Akten und hat dann teilweise mit der Schockfrostung betroffener Akten versucht, den Verlust zu verhindern. Aber eines kann jetzt niemand mehr sagen: Wie viele Akten zum Rechtsextremismus in Sachsen von den diversen Verlusten betroffen sind.

Kerstin Köditz: „Zum Anteil der vernichteten Akten, die einen Bezug zur politisch motivierten Kriminalität haben, wird zwar keine Aussage getroffen. Aber nach meinen Informationen waren unter den vernichteten Beständen auch Ermittlungsverfahren zu mehreren mutmaßlichen NSU-Unterstützern, darunter Jan W. und Thomas S. Wie jüngst bekannt wurde, sind auch die Ermittlungsakten zu einem rechtsmotivierten Tötungsverbrechen im Jahr 1999 in Oberlungwitz, in dem der V-Mann Ralf M. zumindest als Zeuge aufgeführt war, auf diesem Wege abhandengekommen. Anders, als mithin berichtet, sind diese Unterlagen auch nicht wiederaufgetaucht.“

Zumindest haben die Abgeordneten, die in den Untersuchungsausschüssen versuchen, die Wahrheit über die rechtsextremen Terrornetzwerke herauszubekommen, manchmal das Glück, dass andere Instanzen noch verfügbare Akten haben. In diesem Fall die Polizei, wie Kerstin Köditz anmerkt: „Dem sächsischen NSU-Untersuchungsausschuss stehen aber Akten der Polizei zum gleichen Fall zur Verfügung.“

Dass freilich nicht nur die Chemnitzer Staatsanwaltschaft herbe Aktenverluste durch Hochwasser verzeichnen musste, ist dann freilich eine etwas überraschende Erkenntnis auch für die Landtagsabgeordnete der Linken.

„Offenbar gab es im Jahr 2002 zudem Verluste bei Aktenbeständen der Staatsanwaltschaft Dresden, weil dort Grundwasser in Archivräume eingedrungen war. Hier wurden Unterlagen zu mehr als 500 Ermittlungsverfahren vollständig vernichtet“, stellt sie einigermaßen entsetzt fest. „So eine Gefahr bestehe heute bei keiner sächsischen Staatsanwaltschaft mehr, erklärt der Justizminister. Nach seiner Darstellung hatten sich indes die nach 2002 in Chemnitz getroffenen Maßnahmen zum Hochwasserschutz als nicht ausreichend erwiesen. Womöglich wird der Untersuchungsausschuss das überprüfen müssen – ihm liegen nämlich Hinweise vor, dass im Jahr 2002 keine ernsthaften Schritte unternommen worden waren, bedrohtes Archivgut zu sichern.“

Die Kleine Anfrage von Kerstin Köditz zu den Aktenverlusten durch Hochwasser. Drs. 4979

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