Nicht nur Journalisten tun sich schwer, immer wieder die komplizierten Zusammenhänge hinter einem Ereignis herauszuarbeiten. Abgeordneten im sächsischen Landtag und Ermittlern geht es genauso, wie der Fall im Netto-Markt von Arnsdorf zeigt, der am 1. Juni die Netzgemeinde in Aufregung versetzte. War da wieder so eine obskure Bürgerwehr unterwegs und hat zur Selbstjustiz gegriffen?

Das Wort „Bürgerwehr“  taucht als Aussage in einem Videoclip auf, augenscheinlich von einer Beobachterin des Vorgangs ausgesprochen. „Ist schon schade, dass man eine Bürgerwehr braucht“, ist da zu hören. Es tauchte auch in zahlreichen Medienberichten auf, die den Kommentar einfach auf die Personen anwandten, die da am 1. Juni im Arnsdorfer Supermarkt eingriffen, nachdem ein Patient der Station für Psychiatrie und Neurologie des nahe gelegen Sächsischen Krankenhauses Arnsdorf nun schon zum dritten Mal an diesem Tag im Supermarkt aufgetaucht war und wieder sehr aggressiv reagierte.

Ohne den Kommentar im Videoclip wäre wohl auch nicht die „Sächsische Zeitung“, die am 2. Juni über den Vorfall berichtete, auf die Idee gekommen, von einer selbsternannten Bürgerwehr zu schreiben. Auch der beteiligte CDU-Gemeinderat Detlef Oelsner hatte von keiner solchen gesprochen, sondern  mit Bekannten zusammen den sichtlich psychisch kranken Mann aus dem Supermarkt gedrängt und danach die Polizei verständigt.

Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Valentin Lippmann, wollte freilich nun von den amtlichen Stellen selbst genau wissen, was da passiert ist. Denn irgendwie passte die ganze Geschichte zu gut in die schon mehrfach aus Sachsen berichteten Vorfälle mit selbsternannten Bürgerwehren, hinter den oft genug rechtsradikale Netzwerke versuchen, sich als neue Ordnungshüter in der Provinz zu gerieren. Das klingt ja im Kommentar im Videoclip an, der vor allem in rechtsradikalen Netzwerken schnell die Runde machte. Da sind die Brüder und Schwestern im braunen Geiste fix, wenn es um die Einordnung solcher Vorfälle in ihre Propaganda geht.

Und das schien ja irgendwie zu passen: Der nervöse und aggressiv auftretende Mann aus der Psychiatrie war auch noch Asylbewerber. Da kann man sich doch wohl nur noch als Bürgerwehr organisierten, wenn die Polizei diese Leute in nicht im Griff  hat, oder?

Es scheint aber in Arnsdorf gar keine Bürgerwehr zu geben. Ein ziemlich klassischer Fall, wie Medien einem dummen Spruch aus der rechten Ecke regelrecht auf den Leim gingen.

Auf Lippmanns Frage zu einer Bürgerwehr antwortete Innenminister Markus Ulbig (CDU): „Nach bisherigem Ermittlungsstand gibt es keine Hinweise auf das Vorhandensein einer Bürgerwehr im Sinne der Fragestellung. Weitere Prüfungen im Sinne der Fragestellung sind Bestandteil der gegenwärtig andauernden Ermittlungen.“

Es scheint wohl eher so, wie es Detlef Oelsner schilderte: Als die Lage im Supermarkt wieder zu eskalieren drohte, griff er zusammen mit zwei, möglicherweise drei Bekannten ein. Ob sie sich damit schon strafbar machten, ist völlig offen. Grenzen übertreten haben sie möglicherweise, als sie den psychisch kranken Mann mit Kabelbindern fesselten. Deswegen werde gegen sie wegen Verdachts der Freiheitsberaubung ermittelt, teilt Ulbig mit: „Zudem wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung gemäß § 239 StGB in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 StGB eingeleitet. Diese Ermittlungen wurden zunächst gegen Unbekannt geführt. Zwischenzeitlich konnten drei Tatverdächtige bekannt gemacht werden.“

Gegen den psychisch kranken Asylbewerber aus dem Irak wird ebenfalls ermittelt: „Die alarmierten Polizeibeamten des Polizeireviers Kamenz leiteten gegen den Iraker ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Bedrohung gemäß § 241 StGB ein.“ Immerhin hat er mit einer Rotweinflasche gefuchtelt und die Kassiererinnen im Supermarkt, die mit ihm an diesem Tag schon zwei mal zu tun hatten, gehörig in Schrecken versetzt.

Zwei Mal war auch schon die Polizei gekommen deshalb und hatte den Mann jeweils zurück ins Krankenhaus eskortiert. Was aber sichtlich das Problem nicht gelöst hat. Entweder gab es im Krankenhaus niemanden, der sich wirklich um den Mann kümmern konnte, möglicherweise fehlte auch jemand mit Sprachkompetenz. Denn im Supermarkt konnte sich der Mann aus dem Irak nicht verständlich machen.

Was übrigens die AfD-Abgeordnete Dr. Kirsten Muster auf die Idee brachte, mal nachzufragen, wie viele Asylbewerber eigentlich in Arnsdorf wegen psychischer Probleme behandelt werden. Das wird oft vergessen in der ganzen Flüchtlingsdiskussion, dass viele dieser Menschen durch die Erlebnisse in der Kriegsregion und auf der Flucht schwer traumatisiert sind und dringend psychische Hilfe brauchen. Deswegen ist auch die Zahl der in Arnsdorf psychisch behandelten Asylbewerber gestiegen. Waren es 2014 eher nur 1 oder 2, stieg die Zahl 2016 auf 9. Kirsten Muster hat zwar zu den Kosten der psychischen Behandlung gefragt, aber nicht, ob die Klinik zusätzliche Sozialarbeiter und Dolmetscher bekommen hat, die sich um die Patienten aus den Krisengebieten kümmern.

Denn eines war am 1. Juni augenscheinlich: Der ratlose Mann, der mit seinem ungelösten Problem allein blieb, ging immer wieder in den Supermarkt, wo er es schon aufgrund von Sprachbarrieren einfach nicht lösen konnte. Dabei wurde er immer aggressiver. Bis zu dem Akt, der dann zum Video und zu den Ermittlungsverfahren führte.

Zwar antwortet Ulbig auf Lippmanns Anfrage sehr detailliert, aber irgendetwas scheint dennoch zu fehlen. Deswegen hat Lippmann gleich postwendend nach Erhalt der Antwort ein neues Fragenpaket geschnürt, mit dem er jetzt die Rolle der Polizei näher hinterfragt. „DNN online berichtete am 30.06.2016, dass auch Anzeigen gegen die damals eingesetzten Beamten und den Görlitzer Polizeipräsidenten u.a. wegen des Verdachts der Volksverhetzung, der Strafvereitelung in Amt und unterlassener Hilfeleistung vorliegen.“

Die Nachricht ist zwar so beim besagten Portal nicht mehr zu finden. Aber augenscheinlich haben zumindest die beiden ersten Polizeieinsätze an diesem 1. Juni das Problem nicht gelöst. Irgendwo liefen diese Aktionen völlig ins Leere, was dann erst die Grundlage dafür legte, dass die Sache später derart eskalierte.

Valentin Lippmanns zweite Anfrage zu Arnsdorf. Drs. 5636

Die Anfrage von Dr. Kirsten Muster (AfD) zum Sächsischen Krankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf. Drs. 5306

Die erste Anfrage von Valentin Lippmann (Grüne) zu den Vorfällen in Arnsdorf am 1. Juni. Drs. 5296

In eigener Sache

Dein Leipzig. Deine Zeitung. Deine Entscheidung. Werde Unterstützer!
Viele gute Gründe gibt es hier.
Überzeugt? Dann hier lang zum Kombi-Abo „LZ & L-IZ.de“ für 59,50 EUR/Jahr

Mehr zum Thema auf L-IZ.de: Sachsen, Arnsdorf: Wenn Politik auf dem Land in Selbstjustiz endet 

Sachsen, Arnsdorf: Wenn Politik auf dem Land in Selbstjustiz endet

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar