Kurz nur nahm Ministerpräsident Stanislaw Tillich am Donnerstag, 13. Oktober, Stellung zum Drama um den Selbstmord von Jaber Al-Bakr in der JVA Leipzig. Der Druck auf ihn und seine Regierung war binnen eines Tages deutlich angestiegen. Im „Spiegel“ wurde sogar sein Rücktritt gefordert. Aber darauf ging Tillich gar nicht ein. Wer seinen Justizminister verteidigt, der muss ja zu seinen eigenen Fehlern keine Stellung nehmen.

„Die Vorgänge in der JVA Leipzig müssen und werden von den zuständigen Behörden umfassend aufgeklärt. Dies sind wir der Öffentlichkeit schuldig und ist mir auch persönlich sehr wichtig“, sagte Tillich. Er wird gern persönlich, wenn er in der Sache eigentlich versagt hat. Im Kreuzfeuer scheint ja nur Sebastian Gemkow zu stehen, in dessen Verantwortungsbereich die Justizvollzugsanstalten liegen. „Ich vertraue voll und ganz meinem Justizminister Sebastian Gemkow, dass er alles dafür tun wird. Die pauschale Kritik an der sächsischen Justiz, ohne die Vorgänge genau zu kennen, weise ich entschieden zurück. Es braucht eine genaue Analyse des Vorgangs, um dann daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.“

Mal so gesagt: Der richtige Schluss wäre entweder ein Rücktritt des Ministerpräsidenten, der die Laissez-faire-Haltung in vielen Teilen seiner Staatsverwaltung erst begünstigt hat. Oder ein echtes Reparaturprogramm für all das, was die Regierung Tillich seit 2009 angerichtet hat.

Wir haben an dieser Stelle schon die personellen Kahlschläge bei Polizei, Lehrern, Denkmalschützern, Radwegeverantwortlichen und Justizvollzugsbeamten genannt.

Aber natürlich hat Tillichs Radikalkürzungspaket, das er seinerzeit mit der von „Effizienz“ besoffenen FDP vorlegte, auch die zentralen Strukturen der Justiz ausgehöhlt. Ein Thema, auf das jetzt aus gutem Grund das Leipziger Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“ zu sprechen kommt.

Denn mittlerweile stapeln sich auch die Fälle bei sächsischen Gerichten. Und nicht nur irgendwelche. Zahlreiche rechtsextreme Gewalttäter laufen unbehelligt durch die Gegend, weil die überlasteten Richter ihre Fälle nicht aufrufen.

Wenn eindeutige Fälle, in denen Taten und Täter längst feststehen, einfach nicht zur Verhandlung kommen, weil keine richterlichen Kapazitäten zur Verfügung stehen, dann unterhöhlt das ganz unübersehbar jenen Rechtsstaat, auf den Stanislaw Tillich immer so stolz ist.

Am 19. Oktober 2015, also vor knapp einem Jahr, kam es im Hauptbahnhof Leipzig zu einem Angriff von LEGIDA-Hooligans auf gerade aus Dresden zurückgekehrte DemonstrantInnen. Damals organisierte das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“ fünf Busse, um gemeinsam mit dem Bündnis „Herz statt Hetze“ in Dresden gegen PEGIDA zu demonstrieren. Unter den Angreifern war auch ein mehrfach vorbestrafter Neonazi, der mehrere Personen mit einem Messer bedrohte. Ein Jahr danach nimmt das Aktionsnetzwerk das Geschehen zum Anlass, um daran zu erinnern und eine konsequentere Verfolgung rechter Straftäter einzufordern.

Obwohl der Vorfall direkt danach zur Anzeige gebracht wurde und sich mehrere Personen als Zeugen zur Verfügung stellten, fehlt es bislang an einer anlassbezogenen Reaktion des Rechtsstaates, der die Straftaten konsequent verfolgt, kritisiert das Netzwerk.

Und es ist nicht der einzige Fall, in dem die Justiz sich auffallend zurückhält.

Ähnliches ist auch im Nachgang des 11. Januar 2016 zu beobachten, als über 250 Neonazis und Hooligans den Leipziger Stadtteil Connewitz überfielen. Obwohl mehr als 200 Beteiligte festgesetzt werden konnten, gibt es bis heute keine erhobene Anklage. Viele der Täter fühlen sich dadurch nicht nur sicher, sondern auch bestätigt, dass der Rechtsstaat ihnen keine Grenzen (mehr) setzt.

„Das Vertrauen in den Rechtsstaat wird weiter untergraben, wenn diese Straftaten nicht verfolgt werden, obwohl die Täter bekannt sind. Wenn Rechte ungestraft Menschen bedrohen, Polizisten angreifen oder Stadtviertel überfallen können, ohne dass die Taten geahndet werden und gleichzeitig der Eindruck entsteht, dass jeder Schlauchschal auf Kundgebungen und friedliche Sitzdemonstrationen zu erheblichen Sanktionen führen, geht Vertrauen verloren“, kritisiert Irena Rudolph-Kokot (SPD) vom Aktionsnetzwerk diese Schieflage.

Ein solcher Verlust berge zwangsläufig die Gefahr gesellschaftlicher Verwerfungen in sich. So warnt der Rechtsanwalt und Mitorganisator Jürgen Kasek (Grüne) in diesem Zusammenhang: „Wenn Vertrauen in die staatliche Garantie des Rechts für alle BürgerInnen verloren geht, steigt die Bereitschaft zur Selbstjustiz.“

Seltsam, dass genau das in Sachsen vermehrt zu beobachten ist. Vermehrt im ostsächsischen Raum, wo mittlerweile einige aktive Netzwerke von Neonazis als Täter hinter diversen Anschlägen insbesondere auf Flüchtlingsunterkünfte identifiziert wurden. Sie profitieren allesamt von der sich seit Jahren manifestierenden Stimmung, dass in Sachsen weder die Polizei besonders schlagkräftig ist noch die zuständigen Gerichte schnell und deutlich in ihren Urteilen.

„Leipzig nimmt Platz“ fordert daher die Staatsanwaltschaft auf, deutlich zu machen, warum die Verfahren mit einem klaren Sachverhalt sich über so einen langen Zeitraum hinziehen. Diese dann endlich zum Abschluss zu bringen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen, wäre ein deutlicher Schritt in Richtung eines funktionierenden Gemeinwesens auch in Sachsen.

Wenn diese Staatsanwälte überhaupt noch hinterherkommen. Denn bei Richtern und Staatsanwälten sieht es in Sachsen genauso katastrophal aus wie bei Polizisten und Lehrern. Justizminister Sebastian Gemkow hat es mit einem völlig überalterten Justizapparat zu tun. 2014 haben die beiden Landtagsabgeordneten der Linken, Klaus Bartl und Enrico Stange, mal nach den verfügbaren Richtern und Staatsanwälten in Sachsen gefragt. Danach waren an sächsischen Gerichten 1.471 Richter und Richterinnen, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte tätig. 800 von ihnen waren älter als 50 Jahre, davon 74 älter als 60.

Justizminister Sebastian Gemkow rechnete für die Folgejahre im Schnitt mit 9 bis 24 Altersabgängen pro Jahr. Was nur funktioniert, wenn alle tapfer bis zu ihrem 65. Lebensjahr durchhalten. Ab 2020 würden die Zahlen sowieso auf über 50 hochschnellen. Dazu kam noch: Noch 2016 hatte die Tillich-Regierung 104 Richter- und Staatsanwaltsstellen zur Streichung vorgesehen. Völlig ohne Grundlage. Bis heute gibt es keine belastbare Bedarfserfassung für Richter und Staatsanwälte in Sachsen. Das System ist sichtlich überlastet. Und entsprechend froh war Gemkow, als er aus den 106 „kw-Stellen“ ab 1. Januar 2017 immerhin 104 neu zu planende Stellen machen konnte. Was ihm zwar noch nicht hilft, die Überlastung abzubauen, aber noch schlimmere Auswirkungen einer völlig unbegründeten Sparorgie zu verhindern.

Und da ist man wieder bei Stanislaw Tillich, der die Personalmisere in allen Bereichen der Landesbediensteten zu verantworten hat. Jetzt zeigt das kaputtgesparte System an unverhofften Stellen, dass es nicht mehr belastbar ist. Dumm nur, wenn dann Kriminelle nicht nur den politischen Gegnern auf der Nase herumtanzen, sondern auch einem Staat, der sich gegen Schwache immer wieder martialisch gebärdet, die rechten Netzwerke aber ungeschoren ließ über Jahre. Und auch jetzt nicht wirklich die Konsequenz zeigt, die zur Sicherung des Staatsfriedens angebracht wäre.

Anfrage der Linksfraktion zu Richtern und Staatsanwälten in Sachsen von 2014. Drs. 279

Anfrage von Katja Meier (Grüne) „Stellen mit kw-Vermerk 2016 im Justizressort“. Drs. 5141

In eigener Sache – Wir knacken gemeinsam die 250 & kaufen den „Melder“ frei

https://www.l-iz.de/bildung/medien/2016/10/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

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