Seit das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig die Abschiebung sogenannter Gefährder grundsätzlich erlaubt hat, machen die Innenminister zunehmend Gebrauch von dieser Möglichkeit. Erst am Samstag vermeldete Sachsen die Rückführung eine Marokkaners, der im April wegen eines angeblich geplanten Anschlags auf die russische Botschaft festgenommen worden war. Bewiesen wurde dieser Verdacht nie. Das ist nur eines der Probleme bei der Abschiebung von Gefährdern.

Das sächsische Innenministerium hat am Samstagnachmittag eine Meldung verschickt, deren Gegenstand der zuständige Minister Markus Ulbig (CDU) selbstbewusst als „zielstrebiges Vorgehen zur Sicherheit des Landes“ bezeichnete: Am Abend zuvor hatte der Freistaat den sogenannten Gefährder aus Borsdorf nahe Leipzig abgeschoben, der am 8. April nach Hinweisen auf einen geplanten Anschlag auf die russische Botschaft festgenommen worden war.

Grundlage für die Abschiebung ist Paragraph 58a im Aufenthaltsgesetz, dem zufolge „gegen einen Ausländer aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr“ eine entsprechende Anordnung erlassen werden kann.

Der Paragraph existiert bereits seit fast 15 Jahren. Bis vor wenigen Monaten hatten die Innenminister von Bund und Ländern davon allerdings keinen Gebrauch gemacht, da sie fürchteten, vor Gericht gegen Klagen von Betroffenen zu scheitern. Doch im März zerstreute das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig diese Bedenken. Die Richter bestätigten, dass eine Anordnung des niedersächsischen SPD-Innenministers Boris Pistorius, zwei Gefährder aus Göttingen abzuschieben, rechtmäßig ist.

Die beiden Männer aus Nigeria und Algerien sollen über mögliche Anschläge gesprochen haben – offenbar aber so unkonkret, dass die Generalstaatsanwaltschaft nicht einmal ein Ermittlungsverfahren gegen sie einleitete. Pistorius, der seit wenigen Tagen das Wahlkampfteam von Kanzlerkandidat Martin Schulz als Innenexperte unterstützt, reichten die vorliegenden Hinweise jedoch aus, um in einem Interview zu behaupten, dass sich die Männer nicht „an die Regeln“ gehalten hätten und deshalb „mit den entsprechenden Folgen rechnen“ mussten.

Die Unschuldsvermutung ist damit außer Kraft gesetzt.

Noch bevor irgendein Gericht darüber geurteilt hat, ob sich die Betroffenen strafbar gemacht haben, werden sie abgeschoben oder neuerdings dazu gezwungen, eine elektronische Fußfessel zu tragen.

Dass angebliche Terroristen ihre Taten nun ersatzweise im Ausland ausüben könnten, ist den Behörden offenbar egal. Fast schon grotesk wirkt dieses Prozedere im Zusammenhang mit dem vorläufigen Abschiebungsstopp nach Afghanistan, von dem Straftäter und Gefährder ausgenommen sind. In ein Land, in das wegen zahlreicher Anschläge vorerst nur noch in Ausnahmefällen abgeschoben werden soll, werden dennoch diejenigen zurückgeführt, denen man weitere Anschläge zutraut. Zynisch formuliert: Deutschland arbeitet mit dieser Politik daran, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan weiter verschlechtert und konsequenterweise nur ein allgemeiner und unbefristeter Abschiebungsstopp folgen kann.

Problematisch ist schließlich auch, dass die Abschiebungen von Gefährdern allein auf den Einschätzungen der Sicherheitsbehörden beruhen. Diesen würde man gerne vertrauen, doch der Fall des Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri hat gezeigt, dass das naiv wäre. Abgesehen davon, dass die Behörden den Fall im Vorfeld falsch eingeschätzt haben, versuchten einzelne Mitarbeiter im Nachhinein offenbar auch noch, das Versagen durch Aktenmanipulationen zu vertuschen. Aktuelle Recherchen des Politmagazins „kontraste“ ergaben zudem, dass einige Einschätzungen zu Amri auf Observationsmaßnahmen beruhten, die intern zwar kommuniziert wurden, aber in Wirklichkeit nie stattfanden.

Die Gefahr, die von Amri ausging, war im Vorfeld des tödlichen Anschlags von den Behörden unterschätzt worden. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn nun vermehrt angebliche Gefährder abgeschoben werden. Es spricht wenig dagegen, dass es auch mal andersherum laufen kann und das Gefährdungspotential der Betroffenen deutlich überschätzt oder sogar gänzlich erfunden wird. Das zwischenzeitlich wegen einer vermeintlichen Terrorgefahr unterbrochene „Rock am Ring“-Konzert ist dafür Beleg genug.

In eigener Sache: Lokaler Journalismus in Leipzig sucht Unterstützer

In eigener Sache (Stand Mai 2017): 450 Freikäufer und weiter gehts

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

René Loch über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Es gibt 3 Kommentare

“Noch bevor irgendein Gericht darüber geurteilt hat, ob sich die Betroffenen strafbar gemacht haben,…”
“Problematisch ist schließlich auch, dass …. allein auf den Einschätzungen der Sicherheitsbehörden beruhen.”

Diese oder vergleichbare Sätze habe ich im letzten “Facebook-Artikel” vermißt. Dort ging es um die Privatisierung rechtlicher Bewertungen. Die doch nicht einmal die Sicherheitsbehörden einigermaßen zutreffend einzuschätzen in der Lage sind.

Mich irritiert, dass ein Begriff wie “Gefährder” so freimütig verwendet werden kann, wurde der Begriff der “ungesetzlichen Kombattanten” andernorts doch zum Sinnbild der Aufgabe aller Rechtsstaatlichkeit.

“Die beiden Männer aus Nigeria und Algerien sollen über mögliche Anschläge gesprochen haben – offenbar aber so unkonkret, dass die Generalstaatsanwaltschaft nicht einmal ein Ermittlungsverfahren gegen sie einleitete.”

Gut zu wissen, ich werd ab sofort Späße in der Richtung mit meinem marokkanischen Arbeitskollegen unterlassen. Nicht dass die mich noch mit dem zusammen abschieben (wohin eigentlich als Deutsche? Dresden? Himmel…).
Aber die Rolle der SPD find ich erschreckend. Sehr sogar.

Schreiben Sie einen Kommentar