Armes Sachsen-Anhalt. Armes Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Am 30. April hat das IWH mal versucht herauszuknobeln, warum nun ausgerechnet Sachsen-Anhalt hinterher hinkt in der wirtschaftlichen Entwicklung. Kann man ja versuchen, wenn man weiß, welches nun die richtigen wirtschaftlichen Stellschrauben sind. Aber eine Mahnung ist zu beherzigen.

“Warum ist die wirtschaftliche Entwicklung in Sachsen-Anhalt so schwach?”, fragte Professor Dr. Oliver Holtemöller in seinem Kurzbeitrag am 30. April. “Es gibt dafür – neben der gegebenen Demographie – drei Gründe, auf die das Land Einfluss hat: 1) zu wenig Investitionen in Bildung und Forschung, 2) zu wenig Internationalität und 3) zu wenig Innovation.”

Sagen wir es vorweg: Wir gehen nicht bei allen Schlüssen mit. Einige aber sind bedenkenswert. Auch für Sachsen, das gern so tut, als sei es besser als die lädierten Nachbarn. Ist es aber nicht.

“Die jüngsten Zahlen zum Wirtschaftswachstum in den Bundesländern sind ernüchternd”, findet Holtemöller. “Von einem weiteren Aufholprozess der ostdeutschen Bundesländer gegenüber dem Westen ist nichts zu sehen. Sachsen-Anhalt trägt mit einer Zunahme des Bruttoinlandsprodukts um 0,4 % im Jahr 2014 sogar die rote Laterne. Selbst wenn man es gut meint und Sonderfaktoren wie den Ausfall der Produktion in der Mineralölbranche aufgrund größerer Wartungsarbeiten herausrechnet, ändert sich daran wenig; Sachsen-Anhalt bliebe selbst dann auf dem letzten oder vorletzten Platz. Im Jahr davor war Sachsen-Anhalt zweitletzter vor dem Saarland. Auch das Niveau der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist vergleichsweise niedrig. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner liegt bei 70 % des Bundesdurchschnitts; das wirtschaftsschwächste westdeutsche Bundesland, Schleswig-Holstein, kommt auf 83 %. Schaut man auf andere Indikatoren wie etwa die Arbeitslosenquote oder die Produktivität, wird das Bild für das Niveau nicht besser. Ähnlich wie die anderen ostdeutschen Bundesländer holt Sachsen-Anhalt bei der Produktivität zwar noch gegenüber dem Westen auf, aber die ungünstige Demographie (Alterung und Schrumpfung) lässt das Wachstum insgesamt hinter dem Westen zurückbleiben.”

Klingt alles sehr finster. Aber liegen die Fehler alle in der Gegenwart? Oder wurden sie alle vor 20 oder 25 Jahren gemacht? Immerhin benutzt Holtemöller das Wort Demographie. Und dass im Prinzip alle ostdeutschen Länder unter der sichtlichen Überalterung und dem Fehlen junger Menschen leiden, hat nun einmal mit dem “Wendeschock” zu tun, dem kompletten Einbruch der Geburtenrate und der massenhaften Abwanderung nach 1990 – verbunden mit der Demontage von 80 bis 90 Prozent der alten Industriestrukturen. Die jungen Leute, die heute fehlen, hätten vor 18 bis 25 Jahren geboren werden müssen.

Na ja, und gut ausbilden hätte man die, die da sind, auch müssen. Es entsteht ein erstaunliches Bild, wenn man Holtemöller genau zuhört: “Die Teilhabechancen auf dem Arbeitsmarkt werden im Wesentlichen durch die individuelle Qualifikation bestimmt, und die Wege gabeln sich im frühkindlichen Alter. Wenn das Land sich nicht intensiver um die Förderung im frühkindlichen Bereich kümmert, verspielt es die bedeutendste Chance, die wirtschaftliche Lage nachhaltig zu verbessern.”

Da geht es also den Sachsen-Anhaltern wie den Sachsen. Sie haben das Thema frühkindliche Bildung und barrierefreies Lernen viel zu lange ausgesessen, auf die lange Bank geschoben, ignoriert. Ist ja nicht so, dass das im Osten Deutschlands nicht auch schon im Jahr 2000 diskutiert worden wäre. Aber keine einzige der damaligen Landesregierungen hat die Chance ergriffen, wirklich Nägel mit Köpfen zu machen und das Bildungssystem auf Vordermann zu bringen. Lieber war man in aller Eitelkeit stolz darauf, das überholte und ineffiziente westliche Bildungssystem übernommen zu haben.

Punkt 2 bei Holtemöller: “Der Wohlstand in Deutschland basiert zu einem guten Teil auf der internationalen Ausrichtung der Wirtschaft. Auch hier liegt Sachsen-Anhalt weit zurück; der Anteil der Auslandsumsätze an den Gesamtumsätzen im Verarbeitenden Gewerbe liegt mit etwa 30 % weit unter dem Bundesdurchschnitt von 45 %; selbst in Schleswig-Holstein,  dem Land mit dem niedrigsten Exportanteil unter den westdeutschen Bundesländern, machen die Auslandsumsätze 40 % an den Gesamtumsätzen aus, in Hessen, Bayern, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Berlin und Bremen sind es jeweils über 50 %.”

So kann man nicht wirklich rechnen. Die wirtschaftliche Stärke eines Bundeslandes wird nicht sichtbar, wenn man nur den Exportanteil am Verarbeitenden Gewerbe zum Vergleich nimmt. Viel aussagekräftiger ist das, was die Statistiker Exportquote nennen.

Da wird es zum Beispiel mit Blick auf Berlin schon sehr erhellend: Die Berliner Exportquote lag nach Auskunft des statistischen Bundesamtes 2013 bei knapp 12 Prozent. Die Exportquote errechnet sich aus den Auslandsumsätzen dividiert durchs Bruttoinlandsprodukt. Nur so macht es Sinn, Exportstärken für ein Bundesland zu berechnen. Über 50 Prozent kamen dabei nur Bremen und Hamburg mit ihren großen Häfen. Was Bremen ja bekanntlich nicht viel nützt – es gehört heute zu den ärmsten Bundesländern im Westen, genauso wie das Saarland, das sogar auf eine Exportquote von 40 Prozent kommt. Der Außenhandel allein macht ein Land nicht reich. Über 40 Prozent kam sonst nur noch Baden-Württemberg. Selbst Bayern schaffte nur 34 Prozent. Hessen übrigens nur 24 Prozent. Hessen ist ja auch nicht wirklich als Industrieschmiede bekannt, sondern als Bankenstandort. Schleswig-Holstein, das Holtemöller so lobt, kam auch nicht über 24 Prozent hinaus. Was auch schwer möglich ist bei einem derart von Landwirtschaft dominierten Bundesland.

Rheinland-Pfalz schafft 38 Prozent.

Und wo landen dann Sachsen-Anhalt und Sachsen? Immerhin fand ja Holtemöller 30 Prozent Exportanteil an der Industrieproduktion gar nicht gut. Bei der Exportquote selbst schafft Sachsen-Anhalt nur 28 Prozent. Das heißt: Das Bundesland hat gar nicht so viel Industrie, die man auch noch exportieren könnte. Da wurde also seit 1990 eindeutig zu wenig angesiedelt. Was natürlich die Frage aufwirft: Wem schiebt man das in die Schuhe? Den diversen Landesregierungen? Den falschen Weichenstellungen auf Bundesebene?

In Sachsen sieht es ja nur punktuell besser aus. Die Exportquote lag 2013 bei 31,5 Prozent. Das ist knapp unterm Niveau von Niedersachsen, während Sachsen-Anhalt mit seiner Quote auf der Höhe von Nordrhein-Westfalen, aber deutlich vor Hessen, Thüringen und Brandenburg liegt. Das mit der “Internationalität” beim Export ist also so eine Sache. Die Fixierung darauf verstellt auch die Sicht auf die regionalen Binnenstrukturen. Stichwort “Metropolregion Mitteldeutschland”. Hier liegen viel größere Hemmnisse. Die Fixierung auf Export allein macht einen Standort nicht stark oder funktionstüchtig. Das braucht mehr.

So einen kleinen Seitengedanken bringt Holtemöller dazu mit ins Spiel: “Erschwerend ist ferner, dass die teilweise offen zutage tretende Fremdenfeindlichkeit ein negativer Standortfaktor ist; in Sachsen-Anhalt kommen auf 1.000 Einwohner zwölfmal so viele rechtsextreme Straftaten wie beispielsweise in Hessen, und es sind auch mehr als in den anderen ostdeutschen Bundesländern.”

Das mit den Zahlen lassen wir mal so stehen. Denn die Frage ist immer: Huhn oder Ei. Fehlt die Internationalisierung wegen der Fremdenfeindlichkeit oder kommt die Fremdenfeindlichkeit von der fehlenden Internationalisierung? Letzteres ist wohl die eigentliche Ursache. Und auch sie hat mit dem provinziellen Denken und Verwalten im Osten nach 1990 zu tun. Statt alle Kraft darauf zu verwenden, einen modernen, leistungsstarken Wirtschaftsraum zu schaffen, hat man lieber wieder lokale Kleinkönigreiche geschaffen. Eine gemeinsame Wirtschaftspolitik für den Metropolraum? Pustekuchen. Deswegen wirkt auch jeder Versuch, international sein zu wollen, so hilflos wie “Wir stehen früher auf” oder “So geht Sächsisch”.

Das ist kläglich. Wie Mischgemüse statt Leipziger Allerlei.

Zumindest weiß man beim IWH, dass ein funktionierender Metropolstandort eine Öffnung nach allen Seiten braucht.

Holtemöller: “Produktivitätsfortschritt basiert auf Innovation, und Innovationen erfordern Forschung und Entwicklung. Bei den Forschungs- und Entwicklungsausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt nahm Sachsen-Anhalt im Jahr 2012 mit knapp 1½ % den letzten Platz unter den 16 Bundesländern ein (neuere Angaben liegen noch nicht vor). Unter diesen Voraussetzungen ist es unwahrscheinlich, dass Sachsen-Anhalt beim Wirtschaftswachstum zu den wirtschaftsstarken Bundesländern aufschließen  kann – schon allein aufgrund der ungünstigen Demographie.”

Da möchte man dazwischenrufen: Hört doch endlich auf, über die Demographie zu jammern! Das ist ja genauso kläglich wie in Sachsen! Macht endlich die Bude auf!

So ein bisschen Hoffnung hat ja Holtemöller für das Land: “Die gute Nachricht ist, dass die Landespolitik drei Hebel in der Hand hat, um die mittelfristigen wirtschaftlichen Perspektiven des Landes zu verbessern: Humankapital (Bildung und Forschung), Internationalisierung und Innovationen. Das hört sich fast so an wie die i3-Initiative des Landes, die auf Innovationen, Investitionen und Internationalisierung ausgerichtet ist. Die Strategie des Landes nimmt zwar einige wichtige Aspekte auf, bietet aber eine Reihe von Ansatzpunkten für Verbesserung. Die gegenwärtige Strategie orientiert sich zu sehr an Sachkapital und Technologie und  zu  wenig an Humankapital, Kreativität und Weltoffenheit.”

Das kann man als Mahnung nehmen an eine Regierung, die auch noch nicht so richtig begriffen hat, dass die Blüte eines Landes damit beginnt, dass man seinen jungen Bewohnern alle Chancen bietet, den eigenen Erfolg in die Tat umzusetzen. Aber das ist ja in Sachsen nicht besser. Zumindest die letzten fünf Jahre waren dafür eine Katastrophe. Da hat auch Schwarz-Gelb den reinen Wettbewerb gepredigt und das Bildungssystem weiter auf Auslese getrimmt, statt zu begreifen, dass gute Landesregierungen zuallererst einmal egoistisch sein müssen und den eigenen Landeskindern alle Wege öffnen, des eigenen Glückes Schmied zu werden.

Richtiger Wettbewerb entsteht nicht, wenn man den eh schon Großen und Starken das Geschäft erleichtert, sondern wenn man den Jungen und Hungrigen alle Wege öffnet: Nun zeigt mal, was ihr drauf habt!

Genau das aber passiert nicht. Die meisten Türen sind zu.

Wenn das BIP im Keller herumkriecht, dann ist das ein sehr deutliches Zeichen dafür, dass die lebendigsten Kräfte des Landes lahmgelegt sind.

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