Sie träumen. Sie träumen tatsächlich von einem „Mitteldeutschland als deutsches Schweden“. Am Donnerstag, 15. Dezember, trafen sich rund 200 Personen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zur Jahreskonferenz der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland in Chemnitz und versuchten Ideen zu entwickeln, wie man mit den demografischen Herausforderungen in der Region Mitteldeutschland umgehen könnte.

Das Problem aus Sicht der Initiative: Der demografische Wandel ist in vollem Gange. Doch seine Auswirkungen präsentieren sich in den großen Städten und im ländlichen Raum Mitteldeutschlands höchst unterschiedlich. Wie geht die Region damit um? Welche realistischen Steuerungschancen bestehen für Politik, Unternehmen und Zivilgesellschaft beim Thema Demografie?

Nur zur Erinnerung: Mitteldeutschland ist längst auf einen Kern ohne Landeshauptstädte geschrumpft. Von Dresden, Erfurt, Magdeburg ist keine Rede mehr. Was das Problem eigentlich beschreibt: Die drei Bundesländer können nicht miteinander. Obwohl genau auf Landesebene das getan werden müsste, was die Mitglieder der Metropolregion eigentlich wollen: Ihre Ressourcen zusammenschmeißen und die wichtigsten Dinge gemeinsam angehen.

Jetzt kann auch Burkhard Jung, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig und Vorstandsvorsitzender der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland, nur ein Dilemma beschreiben. In Mitteldeutschland stehen mit Leipzig, Chemnitz, Halle (Saale) und Jena sehr dynamisch wachsenden Städten ländliche Räume gegenüber, die in einigen Regionen geradezu ausbluten. „Mitteldeutschland kann jedoch nur gewinnen, wenn es ein gezieltes Miteinander von Stadt und Land gibt, wie ich es bei der Stadt Frankfurt am Main und seinem Umland beobachten konnte“, sagte Jung. „Ich hoffe, dass wir mit den Ergebnissen dieser Jahreskonferenz den Grundstein legen, um die Wachstumsschmerzen der Städte zu lindern und die Schrumpfungsprozesse auf dem Land abzumildern, so dass wir einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung Mitteldeutschlands leisten.“

Das klingt nicht nach Gestaltungsmacht.

Die liegt in Dresden, Magdeburg und Erfurt. Aber von dort kommen keine Gestaltungsinitiativen. Nichts.

Bleibt eigentlich nur der Traum, wie ihn Professor Dr. Michael Behr vom Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familien skizzierte. So zeigte er Entwicklungen der Einwohnerzahlen und der Arbeitsmarktsituation für die mitteldeutschen Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auf. Als beispielgebend skizzierte er dabei die historisch gewachsene hohe Beschäftigungsquote von Frauen in den drei mitteldeutschen Ländern, die sich zudem seit der Jahrtausendwende weiterhin positiv entwickelt hat. So stieg die Beschäftigungsquote bei Frauen in Sachsen von 58 % im Jahr 2000 auf 73,1 % im Jahr 2015, in Sachsen-Anhalt von 54,2 % im Jahr 2000 auf 71,5 % im Jahr 2015 und in Thüringen von 59,5 % im Jahr 2000 auf 71,8 % in 2015.

Diese Entwicklung sei nicht zuletzt der hohen Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Ostdeutschland zu verdanken, wie sie ähnlich in Skandinavien vorzufinden sei. Vor diesem Hintergrund entwickelte Prof. Behr für Mitteldeutschland die Vision eines „deutschen Schwedens“.

Hübsch gesagt. Und doch nichts draus gelernt, wie es aussieht.

Denn als Lösungsansatz fiel den Workshopteilnehmern nur ein bunter Salat zur „Vernetzung der kulturellen Angebote mit beiderseitiger Impulssetzung zwischen Städten und ländlichen Regionen“ ein. Ergänzend könnten auch „Mobilitätsangebote ein Schlüssel zum flächendeckenden Zugang zu kulturellen Angeboten sein“. Handlungsbedarf sah diese Runde in den kommenden Jahren bei der Entwicklung von Mobilitätskonzepten, die sich auf den ländlichen Raum konzentrieren, denn aktuell läge der Fokus diesbezüglich eher auf den wachsenden Städten.

Vision vom mitteldeutschen Schweden: Professor Dr. Michael Behr vom Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familien in Thüringen. Foto: Metropolregion Mitteldeutschland
Vision vom mitteldeutschen Schweden: Professor Dr. Michael Behr vom Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familien in Thüringen. Foto: Metropolregion Mitteldeutschland

Womit man wieder beim gewohnten Kleinklein ist und so tut, als würde all das nicht schon seit Jahren probiert. Und es scheitert an den alten, eingefahrenen Strukturen. Und am alten Denken. Die „hohe Beschäftigungsquote von Frauen“ ist nicht „historisch gewachsen“. Sie war seit 60 Jahren immer eine wirtschaftliche Notwendigkeit im Osten. Und ist es seit 1990 immer noch, weil Familien, in denen nicht beide Vollverdiener sind, nicht über die Runden kommen. Mitteldeutschland ist eine Region, in der eben nicht eine unsichtbare demografische Macht wütet, sondern nackte wirtschaftliche Konsequenz. Die jungen  Menschen wandern aus den Dörfern ja nicht ab, weil es da zu wenig Kultur gibt, sondern zu wenige Jobs, ausgedünnten ÖPNV, ausgedünnte Infrastrukturen.

Man merkt auch bei der Metropolregion Mitteldeutschland, dass die grundlegenden volkswirtschaftlichen Kompetenzen fehlen. Da hilft auch der Traum von Schweden nichts. Es sind zwar die namhaftesten Unternehmen der Region Mitglied. Aber sie können nicht reparieren, was drei sture Landesregierungen bei Bildung, Verkehr, Strukturpolitik vergeigen. Selbst die Wortmeldungen zu diesem Kongress machen es deutlich, wie tief eingehämmert die Kluft zwischen großen Städten und „ausblutenden Landregionen“ in den Köpfen der Redner ist. Es ist längst ein Frame, der am Denken hindert. Alle versuchen alles zu retten, mit völlig unzureichenden Mitteln.

Dabei braucht die Region im Grunde jetzt eine echte gemeinsame Denkfabrik. Das ist jetzt ein ganz ernst gemeinter Vorschlag nach all den traurigen Reden der letzten Jahre. Eine gemeinsam finanzierte Denkfabrik, die echte Handlungsoptionen entwickelt, wie die Wirtschaftsregion Mitteldeutschland (und nichts anderes macht Sinn, wenn man von Metropolregion redet), gestrafft, gestärkt und mit Energie aufgeladen werden kann.

Da geht es um klare und sinnvolle Verkehrsstrukturen, um einheitliche und qualitätvolle Bildungsstrukturen, um eine gut organisierte Forschungs- und Innovationslandschaft und vor allem: um mehr Unabhängigkeit von drei provinziellen Landesregierungen, denen die Hege und Pflege ihrer Landsmannschaften wichtiger ist als die wirtschaftliche Schlagkraft der Gesamtregion.

Und die Finanzierung eines eigenen Metropolinstituts, das wirklich mal echte belastbare Strukturen entwickelt für diesen zersplitterten Wirtschaftsort, die liegt auf jeden Fall in den Möglichkeiten dieses Verbandes.

Aber nur, wenn die Mitglieder wirklich raus wollen aus der Dauerblockade und dem organisierten Kleinklein. Bislang tun sie nur so, als würden sie wollen.

Die Pressemeldung zur Chemnitzer Konferenz.

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