Da wurde nun über zehn Jahre darüber diskutiert, ob der Leipziger City-Tunnel vielleicht zu teuer wird und ob gar noch ICE durchfahren. Dabei haben aber augenscheinlich die wichtigsten Akteure vollkommen aus dem Blick verloren, dass der Tunnel das Herzstück eines modernen S-Bahn-Netzes werden sollte. Und dass das Ding wahrscheinlich sogar funktionieren würde. Besser als geplant. Chaos absehbar. Wie am Mittwoch, 10. Juni, zu erleben war.

Da ließ ein Schaffner der S-Bahn-Linie S3 an der Station Leipzig-Hauptbahnhof räumen. Zu viele Fahrräder verstopften den Gang. Doch die Räumung gestaltete sich schwer. Erst das Eingreifen der Bundespolizei ermöglichte, dass der Zug mit einer halben Stunde Verspätung abfahren konnte. Ergebnis: Verspätungen bei weiteren 19 Zügen im Netz. Der Grund: Wieder war auf der wichtigsten Strecke nur eine einfache Zugtraktion eingesetzt worden.

So langsam hat auch der Zweckverband für den Nahverkehrsraum Leipzig (ZVNL) als gesetzlicher Aufgabenträger im Mitteldeutschen S-Bahn-Netz die Nase voll. Augenscheinlich hat die Bahn seinerzeit mit viel zu wenigen Zügen kalkuliert. Und die verfügbaren 50 Züge sind nicht voll einsatzfähig.

Als nicht mehr zumutbar bezeichnete Oliver Mietzsch, Geschäftsführer des Zweckverbands für den Nahverkehrsraum Leipzig (ZVNL), die derzeitige Fahrzeugsituation im Mitteldeutschen S-Bahn-Netz. Seit anderthalb Jahren ist die S-Bahn in Betrieb und noch immer fehlen teilweise bis zu 10 der insgesamt 51 von DB Regio AG Südost angebotenen und vom ZVNL bezahlten Fahrzeuge, so Mietzsch aus Anlass des Einsatzes der Bundespolizei in der Tiefstation des Leipziger Hauptbahnhofs am 10. Juni. Dadurch kam es zu einer Überfüllung, wodurch auch die Fluchtwege in dem betroffenen Zug mit Fahrrädern zugestellt waren.

Statt der vorgesehenen Doppeltraktion fuhr die S 3 zwischen Leipzig-Stötteritz und Halle Hauptbahnhof am Mittwochmorgen wieder nur in Einfachtraktion, obwohl gerade auf der Strecke Leipzig-Halle seit über einem Jahr über Kapazitätsengpässe geklagt wird. Dass gerade die Fahrradmitnahme ein Problem ist, das kritisierte der ADFC auch schon  im letzten Sommer. Geändert hat sich nichts.

“Die Sicherheit geht absolut vor, deshalb hat der Kundenbetreuer der Bahn richtig gehandelt, als er die Entfernung der Fahrräder in den Fluchtwegen veranlasste“, so Mietzsch. Wegen der Uneinsichtigkeit einiger Weniger habe die Bundespolizei eingesetzt werden müssen, um die Fluchtwege zu räumen. Dies sei bedauerlich, aber im konkreten Fall nicht zu verhindern gewesen.

„Vermeidbar ist allerdings das Fehlen von Fahrzeugen, damit solche Situationen erst gar nicht eintreten können“, kritisiert der ZVNL-Geschäftsführer die nach wie vor unbefriedigende Fahrzeugverfügbarkeit im Mitteldeutschen S-Bahn-Netz. „Ich fordere DB Regio deshalb mit Nachdruck auf, diese Probleme unverzüglich zu beseitigen – im Interesse der Fahrgäste und um den Erfolg des neuen S-Bahn-Systems nicht zu gefährden.”

Doch immer mehr scheint sich herauszuschälen, dass die bestellten Talente-Triebwagen für das Mitteldeutsche S-Bahn-Netz schlicht nicht reichen. Dass bis zu 10 Fahrzeuge (20 Prozent des Fuhrparks) zeitweilig fehlen, zeigt im Grunde nur, dass bei der Fahrzeugbestellung ohne den notwendigen Reservepuffer geplant wurde. Und es wurde auch nicht wirklich damit gerechnet, dass einzelne Strecken im Netz schon von Beginn an mit viel zu wenig Kapazität ausgestattet wurden – ganz besonders die Strecke Leipzig-Halle, die von der S3 und der S5X befahren wird. Schon vor Einführung des Mitteldeutschen S-Bahn-Netzs waren die Taktzeiten schlicht nicht großstadttauglich. Und die Einführung der neuen Linien hat gezeigt, wie groß der Ausbaubedarf tatsächlich war und ist. Als hätten die Planer 2008 bei der Bestellung der Fahrzeuge an den Sinn eines gut funktionierenden S-Bahn-Netzes um Leipzig nie geglaubt und deshalb von lauter ICE im Tunnel geschwatzt. Dabei ist das Kernthema völlig aus dem Blick geraten und man hat wieder ein ÖPNV-System bekommen, das an den entscheidenden Stellen auf Kante gespart ist und schon jetzt viel zu materialschwach. Und auch die Erweiterung des S-Bahn-Netzes im Dezember wird das Dilemma nicht lösen.

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Mal nebenbei gesagt: Dieser unsägliche stündliche ICE im Citytunnel war schon immer politische Kasperei. Es wurde von sachkundigen Bürgern schon von Anfang an gesagt, dass ein stündlicher Takt-ICE im laufenden Betrieb nicht zu den 11 Abfahrten der S-Bahn pro Richtung reinpasst. (Schnelle und grobe Begründung: Für einen ICE muss das Richtungsgleis im Citytunnel und davor und dahinter auf ganzer Länge frei sein. Das geht nicht in einem 5-Minuten-Taktplan.)

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