Man darf ja wohl mal träumen. Von einer Stadt, in der der ÖPNV kein Stiefkind ist. In der Visionen nicht an Ortsgrenzen scheitern. Oder an knöchernen EU-Vorgaben. Ab Herbst dürfen auch die Leipziger ein bisschen mitträumen. Dann geht ein erster Entwurf für den neuen Nahverkehrsplan für Leipzig in die Diskussion. Der neue NVP soll dann im Dezember 2017 den von 2007 ablösen.

Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Eine verdammt lange Zeit, wenn man bedenkt, dass Leipzig in dieser Zeit sein Wachstumstempo deutlich erhöht hat. Die Fahrgäste der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) merken es – ob sie nun mitfahren oder warten und sich über volle Bahnen und drastische Verspätungen ärgern.

Der Effekt der großen Netzumstellung aus dem Jahr 2001 ist fast völlig aufgebraucht. Es wird zwar manches Mal geschimpft – auch im Stadtrat – über die gefühlte Bevorzugung der Straßenbahn. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Selbst seit dem Jahr 2007 ist deutlich geworden, wie die Straßenbahn immer langsamer wird.

„Der Straßenbahnbetrieb ist in den letzten Jahren in Leipzig in seiner Gesamtheit schrittweise, aber kontinuierlich langsamer geworden“, heißt es jetzt in einem Evaluationsbericht zum Nahverkehrsplan 2007. Der ist auf der Website der Stadt abrufbar. Er ist auch die Grundlage dessen, was da im Herbst beginnen soll und was möglicherweise im Entwurf des neuen Nahverkehrsplans stehen wird. „Die Fahrzeiten haben sich seit 2007 über alle Linien um rund 10 Minuten erhöht. Auf einigen Linien mussten bedingt durch diese Fahrzeitverlängerungen zusätzliche Fahrzeuge in die Umläufe gebracht werden. Als Beispiele aus 2015 seien die Linien 7 und 16 genannt, auf denen infolge der zunehmenden Langsamfahrstellen jeweils eine zusätzliche Straßenbahn eingesetzt werden muss.“

Gründe gibt es haufenweise. Viele haben – das betonte Baubürgermeisterin Dorothee Dubrau am Donnerstag bei einer Pressekonferenz – mit der wachsenden Stadt zu tun. Denn wenn Leipzig so wächst, bedeutet das nun einmal auch mehr Autos auf den Straßen, mehr Autos, die als Linksabbieger die Straßenbahn ausbremsen, die beim (falschen) Parken Staus verursachen oder mit Unfällen alles ausbremsen. Wachstum heißt aber auch: Mehr Fahrgäste in den Bahnen – das Aus- und Einsteigen dauert länger, Fahrgäste mit Rollstuhl oder Kinderwagen suchen länger nach freien Plätzen. Natürlich gibt es auch mehr Betrieb und Gedränge an den Haltestellen.

Logisch, dass gerade Ziel Nr. 4 aus dem Nahverkehrsplan 2007 nicht erreicht wurde: „Im Interesse einer Erhöhung der Beförderungsqualität sind alle Möglichkeiten zur Beschleunigung der öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen.“

Das ist nicht nur ärgerlich, sondern kontraproduktiv. Weil es Straßenbahn fahren gerade in dem Moment unattraktiv und nervend macht, wo ÖPNV die Hauptlast des Wachstums schultern sollte. Sichtbar wird das am viel diskutierten „Modal Split“: dem Anteil der verschiedenen Verkehrsarten an den Wegen der Leipziger. Seit 1991, als der ÖPNV-Anteil noch bei 22,8 Prozent lag, ist er kontinuierlich gesunken. Natürlich auch deshalb, weil sich viele Leipziger ein Auto zulegten. Seit 2003 schwankt der Anteil zwischen 17,1 und 18,8 Prozent. Er steigt nicht, obwohl die absoluten Fahrgastzahlen stiegen.

Doch gerade 2015 wurde heftig über den „Modal Split“ diskutiert, sollten bis 2025 satte 25 Prozent Anteil für den ÖPNV festgeschrieben werden. Am Ende einigte man sich auf 23 Prozent. Aber das ist immer noch eine Marke weitab dessen, was das jetzige System verkraften kann.

 

Entwicklung der Pünktlichkeit bei den LVB. Grafik: Stadt Leipzig, Evaluierungsbericht
Entwicklung der Pünktlichkeit bei den LVB. Grafik: Stadt Leipzig, Evaluierungsbericht

Ohne Wachstum im System wird das nicht zu machen sein, nicht ohne neue Strecken in neu erschlossenen Wohngebieten, nicht ohne mehr Fassungsvermögen der eingesetzten Fahrzeuge oder dichtere Takte. Deswegen werden die von den LVB geplanten 41 neuen Niederflurbahnen nicht wirklich reichen. Fünf hat sie bestellt. Die Stadt hat Geld dazu gegeben – 2 Millionen Euro im Jahr, damit die LVB überhaupt kaufen können.

Um nichts werden so viele Indianertänze aufgeführt wie um die Finanzierung der LVB. Im Evaluierungsbericht heißt es dazu: „Mit dem neuen Betrauungsbeschluss der Stadt Leipzig wurden die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen der LVB im ÖPNV konkretisiert. Nach Maßgabe des VLFV gewährt die Stadt Leipzig dem Verkehrsunternehmen Ausgleichsleistungen für die Kosten, welche ihnen durch die Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen entstehen. Der Gesamtfinanzierungsbeitrag wird dabei auf einen Höchstbetrag (seit 2012 in Höhe von 45 Mio. Euro) begrenzt. Die Finanzierung erfolgt vollständig innerhalb der LVV.“

Der Höchstbetrag ist ein Witz. Das wissen die Verantwortlichen eigentlich. Und so ist auch der Satz mit Vorsicht zu genießen, der da lautet: „2007 betrug das Betriebsdefizit rund 55 Mio. Euro, aktuell liegt es bei 45 Mio. Euro. Der Zuschussbedarf konnte durch Restrukturierungsmaßnahmen, Erhöhung der Einnahmen und durch zeitliche Streckung von Investitionsmaßnahmen vermindert werden.“

Das ist eigentlich Quatsch mit Soße. Nur die Leipziger merken das nicht direkt, weil die Stadt eben trotzdem verpflichtet ist, Mehrbedarfe auszugleichen. Die werden dann aus dem Stadthaushalt beigesteuert. Zum Beispiel die Gelder, mit denen das Sozialticket (die Leipzig Pass Mobil Card) gesichert wird oder eben – wie jetzt – der Ankauf von Straßenbahnen. Deswegen haben mittlerweile zwei Stadtratsfraktionen beantragt, die Zuschusssumme auf 48 Millionen zu erhöhen.

Und gleichzeitig versucht der Mitteldeutsche Verkehrsverbund (MDV), dessen Mitglied die LVB sind, auf einem Stadtratsauftrag von 2013 beruhend neue Finanzierungsquellen zu erschließen. Selbst Baubürgermeisterin Dorothee Dubrau rechnet nicht damit, dass das ein großer Wurf wird, bestenfalls ein kleiner zusätzlicher Beitrag.

Denn man vergisst es zu oft: Zuständig für die ÖPNV-Finanzierung sind neben den Kommunen auch die Länder und der Bund. Wenn die mal wieder Politik spielen und die nötigen Summen „einsparen“, entsteht in den Kommunen genau das, was derzeit sichtbar ist: eine mächtige Finanzierungslücke.

Sichtbar auch für die Fahrgäste der LVB. Im Evaluierungsbericht heißt es auch: „Das Ziel, bis zum Jahr 2015 den Fahrzeugpark der Straßenbahn vollständig auf moderne Niederflurfahrzeuge umzustellen, konnte noch nicht erreicht werden. Ende 2014 wurden 97 % aller Fahrten an Werktagen und 100 % an Wochenenden zumindest mit einem Niederfluranteil (d. h. mindestens ein niederfluriger Beiwagen) gefahren. Der Niederfluranteil am Fahrzeugpark, bezogen auf 15-Meter-Einheiten, beträgt 71 %.“

Ursprünglich sollten die alten Tatra-Straßenbahnen bis 2012 aus dem Netz verschwinden. Aber dann spielte mal wieder eine Landesregierung Politik und verteilte die  Gelder um. 2010 kam das alte Beschaffungsprogramm für die XXL-Straßenbahnen zum Ende. Ein Anschlussprogramm gab es nicht. Und es riss ein Loch von sechs Jahren auf, in denen die LVB keine einzige neue Straßenbahn kaufen konnten.

Auch wenn jetzt ein Evaluationsbericht vorliegt und im Herbst ein erster Entwurf für einen neuen Nahverkehrsplan folgen wird, heißt das noch lange nicht, dass schon die ersten Punkte klar sind, was nun drin stehen wird. Die Evaluation zeigt im Grunde, wie eng es schon im Liniennetz geworden ist und dass ein paar 100 Millionen Euro gebraucht werden, wenn man aus dem Engpass heraus will oder gar die 23 Prozent im „Modal Split“ erreichen will. Das wird ohne neue Visionen nicht klappen, auch wenn die LVB schon fleißig dabei sind, das Haltestellennetz zu verdichten und an Samstagen die Takte dichter zu stricken.

Zahlen fehlen noch. Aber man ahnt schon, dass es für den nächsten Nahverkehrsplan, der mindestens bis 2022 gelten soll, um deutlich mehr als 41 neue Straßenbahnen geht.

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