Zwei Tage in der Kälte hatte der Erlkönig hinter sich, als er am Mittwoch, 21. Dezember, um 6:40 Uhr, auf einem extralangen Tieflader aufs Gelände vor den großen Werkstatthallen der LVB in Heiterblick rollte. Der Erlkönig in seinem Tarnkostüm, das an die Versteckspiele der großen Autoentwickler erinnert, ist das erste Exemplar der neuen Straßenbahngeneration in Leipzig.

Schon der Antransport zeigt, dass dieses Straßenbahnprojekt ein internationales Meisterstück ist. Denn transportiert wurde dieser Straßenbahnzug aus Poznan vom niederländischen Transportunternehmen Van der Vliest. Natürlich hat das Ding Überlänge. Denn mit der neuen Solarisstraßenbahn kommt eine neue Wagenlänge als Ergänzung in den Fuhrpark der LVB: rund 38 Meter lang ist die neue Bahn, etwas kürzer als die XXL-Straßenbahnen von Bombardier mit ihren 45 Metern Länge, die seit 2005 durch Leipzig fahren, länger als die Leoliner mit ihren etwas über 22 Metern. Genau das Zwischensegment sollen sie auch ausfüllen und damit die Variabilität im Wagenpark der LVB erhöhen, wenn sie erst einmal im Netz sind.

Aber so weit ist es noch nicht. Die tapfersten Reporter der Leipziger Medien und dutzende Mitarbeiter der LVB stehen schon seit 6:00 Uhr in der Kälte. Minus 6 Grad zeigt das Thermometer. Die Leipziger, die früh zur Arbeit müssen, sieht man beim Scheibenkratzen an ihren Autos. Überm Technischen Zentrum in Heiterblick steht ein klarer Sternenhimmel, sogar der Mond hängt noch frostig im Schwarz. Der Erlkönig ist schon da.

Auch wenn ihn auf dem hell erleuchteten Platz noch niemand sieht. In der Nacht ist er über die Autobahn gekommen und erst mal ins Hintergelände rangiert worden, um ihn mit Erlkönig-Outfit zu versehen. Weniger als Tarnung, wie wir später erfahren. Eher, um das Gegenteil zu erreichen: Aufmerksamkeit im Liniennetz. Denn in den nächsten Tagen wird er zum umfangreichen Testbetrieb auf Fahrt gehen. Dann wird sich zeigen, ob die Kooperationspartner alles richtig gemacht haben – vor allem die Straßenbahnbauer von Solaris, die sich im März 2015 in das Wagnis stürzten, eine extra für Leipzig passgenau gefertigte Straßenbahn zu bauen.

Sie sind jung auf diesem Teilgebiet des Fahrzeugbaus, als Busbauer sind sie schon etabliert. Aber sie haben schon für diverse Städte Straßenbahnen gebaut – auch in Deutschland. Aber jede Stadt ist anders, bietet andere Voraussetzungen. Und Leipzig ist sowieso eine Ausnahme, was Wagenbreite, Spurweite und Kurvenradius betrifft. Es gibt keine andere Stadt, die mit so großen Fahrzeugen so enge Kurven befahren lässt.

Die neue Solaris-Bahn wird vor die Werkstatthalle rangiert. Foto: Ralf Julke
Die neue Solaris-Bahn wird vor die Werkstatthalle rangiert. Foto: Ralf Julke

Und die Konkurrenz war nicht ohne: Mit der Heiterblick GmbH hatte sich der Baumeister des Leoliners am Wettbewerb genauso beteiligt wie das Bombardier-Werk in Bautzen, das mit den Classic-XXL-Fahrzeugen schon in Leipzig präsent ist. Am Ende war es vor allem die Drehgestelllösung, die die polnischen Fahrzeugbauer für das Leipziger Projekt als Grundlage nahmen, die Anklang fand. Mit 17 Meter Kurvenradien bleibt Leipzig an vielen engen Stellen im Netz deutlich unter den eigentlich geforderten Normradien von 24 Meter. Was schlicht daran liegt, dass Leipzig ein über 140 Jahre gewachsenes Gleisnetz hat, in dem sich einige Linien noch immer auf abenteuerlichen Kurven durch alte Stadtteile winden. Für die kleinen Fahrzeuge des 19. Jahrhunderts war das kein Problem. Für die großen Wagenzüge von heute ist es das schon. Da muss die Flexibilität ins Fahrzeug eingebaut sein.

Die frühen Stunden nutzen die LVB dann freilich gleich, um auch die neuen Busse von Solaris vorzustellen: 14 neue Gelenkbusse haben die LVB bei Solaris bestellt: 18 Meter lang, 100 Prozent barrierefrei mit deutlich mehr Stellfläche für Rollstühle und Kinderwagen. Fünf Musterexemplare stehen zur Besichtigung da.

Die Erneuerung des Fuhrparks geht also auch auf der Straße weiter.

Um 6:40 Uhr gibt es dann das Ah und Oh, weil die Niederländer mit ihrem Tieflader auf den Platz rollen. Und jetzt sieht man auch, warum der Platz so weiträumig abgesperrt ist. Der Tieflader trägt tatsächlich die ganze 38 Meter lange Straßenbahn. Unübersehbar ihr Tarnkleid, das die Klebemannschaft eben noch emsig auf die Fahrzeughülle gebracht hat. Der Start vor den Kameras soll gleich im richtigen Outfit geschehen.

Aber: Jetzt heißt es Geduld haben. Denn das große Fahrzeug vor die Halle zu rangieren, das geht noch schnell. Danach aber muss die Straßenbahn in die Halle bugsiert und dabei auch gleich auf die Gleise gesetzt werden. Das erfordert Geduld. Zwischendurch also ein Becher Kaffee zum Aufwärmen. Um 7:40 Uhr ist die Bahn in der Werkstatt. Das Tor kann geschlossen werden und der Tieflader kann den Platz verlassen.

Das Tor öffnet sich: Dr neue XL steht auf eigenen Rädern. Foto: Ralf Julke
Das Tor öffnet sich: Der neue XL steht auf eigenen Rädern. Foto: Ralf Julke

Nächste Pause: Die Bahn muss sich erst mal aufwärmen. Sie war zwei Tage in der Kälte. Nachher soll sie zum ersten Mal in Leipzig in Betrieb gehen. Der 21. Dezember ist tatsächlich auch gleich der erste Tag zum Testen. In den ersten Tagen wird das Fahrzeug das Gelände in Heiterblick nicht verlassen. Aber seit dem Umbau des Technischen Zentrums gibt es rund um die Werkstatthalle Gleiskurven, auf denen das Fahrzeug ausgiebig getestet werden kann. Anfangs noch mit Solaris-Leuten am Steuer. Wenn die Bahn fit ist fürs Leipziger Netz, werden LVB-Fahrer übernehmen, die freilich die nächsten Tage erst einmal ihre Ausbildung auf dem neuen Fahrzeug erhalten.

Aber was tun, solange die Bahn in der Halle aufgewärmt wird? Noch einen Kaffee trinken? Ein wenig fachsimpeln über das Projekt? Das nur auf den ersten Blick wie ein Novum wirkt: Denn Solaris hat zwar im März den Zuschlag erhalten und auch gleich den Auftrag für fünf Fahrzeuge für Leipzig. Aber nur 20 Prozent der ganzen Produktion erfolgt in Poznan – vor allem Ingenieur- und Konstruktionsleistungen. Das war Grundbedingung in der Ausschreibung, dass möglichst viel Wertschöpfung in Sachsen und Ostdeutschland passiert. 16 Prozent zum Beispiel sind sächsische Zulieferung – die Motoren zum Beispiel und die Drehgestelle, weitere 14 Prozent werden aus anderen Teilen Ostdeutschlands zugeliefert, rund 30 Prozent aus dem Westen Deutschlands.

Aber wie Ronald Juhrs das erklärt, ist das weder ein Novum noch eine Überraschung, denn Straßenbahnen werden heute genauso wie Autos gebaut – mit standardisierten Bauteilen aus darauf spezialisierten Unternehmen, die beim Endproduzenten dann in ein maßgeschneidertes Fahrzeug für den Besteller zusammengebaut werden.

Das Tor ist offen, die Fahrt kann beginnen. Foto: Ralf Julke
Das Tor ist offen, die Fahrt kann beginnen. Foto: Ralf Julke

Das klingt so einfach wie Baukasten, ist aber eher ein Prozess. Denn dass der Wettbewerb um die Leipziger Ausschreibung so hart umkämpft war, hat auch mit dem dicken Pflichtenheft zu tun, das die LVB geschrieben haben. In dem waren alle Erfahrungen gesammelt, die man seit 1996 mit Inbetriebnahme des ersten Niederflurfahrzeugs gesammelt hat. Der Fahrgastbeirat darf längst intensiv mitreden, wenn es um die Fahrzeuggestaltung geht. Denn vor allem geht es ja um Nutzerfreundlichkeit für alle Fahrgäste – solche mit und ohne Rollator, solche mit Rollstuhl oder Kinderwagen. Der Freiraum für Rollis und Kinderwagen hat sich erhöht. Und es geht um möglichst reibungslose Ein- und Ausstiege. Es gibt also auch breitere Türen. Außerdem mussten die Wagenkästen ans Leipziger Spezialmaß von 2,30 Meter angepasst werden.

Und dass wichtige Einbauten normiert sind, hat auch mit dem Wunsch der LVB zu tun, die neuen Fahrzeuge genauso warten zu können wie die alten – und dabei auf Ersatzteile zurückgreifen zu können, wie sie auch schon in den anderen Niederflurwagen verwendet werden.

Ist es so weit?

Pinguine würden wahrscheinlich sagen: Es ist wärmer geworden. Aber noch immer ist es frostig draußen. Dafür beginnt sich der Himmel zu erhellen.

Mannschaftsfoto mit den Kollegen von Solaris. Foto: Ralf Julke
Mannschaftsfoto mit den Kollegen von Solaris. Foto: Ralf Julke

8:40 Uhr ist es, als das große Werkstatttor geöffnet wird. Die Bahn steht auf den Schienen. Aber noch ohne Strom. Mit einem großen Schubfahrzeug wird sie nun ins Tageslicht hinausgeschoben. Die Scheibe noch beklebt mit einem großen „Die XL. Die neue Leipziger Straßenbahn“. Erst draußen wird der Stromabnehmer ausgefahren. Und die Bahn erwacht. Die Leuchtanzeige springt an. Zeit für das Foto mit den Mitarbeitern von Solaris, die damit tatsächlich den ersten Markstein geschafft haben, wie LVB-Geschäftsführer Ulf Middelberg erklärt. Die Bahn ist fertig und funktioniert.

Ab jetzt beginnt die Testphase, in der das Fahrzeug auf Herz und Nieren geprüft wird, in der auch die staatlichen Prüfer alle Details im Betrieb untersuchen. Denn die Betriebsgenehmigung wird es am Ende nur geben, wenn alle deutschen Sicherheitsanforderungen erfüllt sind.

„Dass wir jetzt schon so weit sind, ist eigentlich rekordverdächtig“, sagt Middelberg. Denn Entwicklungsphasen für neue Straßenbahnen dauern normalerweise länger. Als im März 2015 die Unterschriften unter den Vertrag gesetzt wurden, gab es noch keine technische Zeichnung und keinen Designentwurf. Nur das dicke Pflichtenheft, zu dem die Solaris-Leute sagten: Das schaffen wir. Auch zum abgesprochenen Preis von weniger als 3 Millionen Euro pro Stück.

Das machte die Fachwelt durchaus neugierig. Denn damit beschritt Leipzig tatsächlich Neuland. Vorher hatte man (mit Ausnahme des Leoliners) eher Bahnen nach Katalog bestellt und diese nur für Leipziger Bedürfnisse anpassen lassen. Nun beauftragte man einen Fahrzeugbauer, mal aus den verfügbaren Bauelementen am Markt ein modernes neues Fahrzeug extra für Leipzig zu entwickeln.

An der markanten Bugnase wird man den Neuen nun erkennen. Foto: Ralf Julke
An der markanten Bugnase wird man den Neuen nun erkennen. Foto: Ralf Julke

Das Ergebnis ist nun da: 38 Meter lang, 65 Prozent barrierefrei (das ist wie bei den XXL-Fahrzeugen), mit Platz für bis zu 220 Fahrgäste. Fünf Fahrzeuge wurden gleich 2015 bestellt, damit Solaris losbauen kann. Das zweite ist gerade in der Montage. Die nächsten sollen in den nächsten Wochen folgen.

Ob die Leipziger das erste Fahrzeug während der Testfahrten auch schon im Liniennetz sehen, ist dann eher eine Überraschung.

Bestellt sind eigentlich auch schon die nächsten Fahrzeuge. Unterschrieben haben die LVB einen Vertrag über insgesamt 41 Fahrzeuge – abhängig von den verfügbaren (Förder-)Geldern.

Ein letztes Foto mit den stolzen Fahrzeugbauern aus Poznan. Ab jetzt ist Testphase, voraussichtlich sechs Monate lang und unter argwöhnischer Beobachtung der Aufsichtsbehörden. Aber damit die Leipziger nicht bis zum Sommer warten müssen, soll es auch noch im Februar einen öffentlichen Termin geben mit dem Erlkönig, der eigentlich Tramino heißt.

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