Kann man Wohnen lernen? Muss man Wohnen lernen? Irgendwie schon. Dieser Gedanke reifte so langsam bei der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB). Zahlen gab es. Auch bei den LWB beobachtete man seit Jahren den Trend steigender Zwangsräumungen. Aber man schaute noch etwas genauer hin und erschrak ein wenig, denn die meisten Zwangsgeräumten waren ausgerechnet junge Leute zwischen 18 und 34 Jahren.

246 Zwangsräumungen zählte das Leipziger Wohnungsunternehmen im Jahr 2012, 149 davon betrafen junge Leute. Nicht immer waren Schulden der Grund für die Zwangsräumung, in den meisten Fällen aber doch.

„Speziell beim Bezug der ersten eigenen Wohnung werden oft die Anforderungen unterschätzt, die aus der selbständigen Haushaltsführung erwachsen“, sagt dazu Jens Eßbach, Leiter des LWB-Sozialmanagements. Mietschulden seien eine Folge. Deshalb begann die LWB schon vor Jahren, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Sobald wir von unseren Mieterbetreuern die Information erhalten, dass ein Kunde betroffen ist, versucht das LWB-Sozialmanagement zusammen mit weiteren Partnern schnellstens eine Lösung für den Erhalt des Mietverhältnisses zu finden.”

Aber liegt die Ursache nicht früher? Könnte man da nicht was machen? Die Frage stellte die LWB nun mehreren Auszubildenden-Jahrgängen im eigenen Haus. Lasst euch mal was einfallen, war die Devise. Die jungen Leute kennen ja die Stimmungslage noch: Frisch ausgezogen bei Mama und Papa, vielleicht extra umgezogen für die Ausbildung – in die erste eigene Wohnung. Azubi-Gehalt: 700 Euro. – Jeder weiß, dass man mit 700 Euro nicht weit kommt. Wirklich jeder?

Augenscheinlich nicht. Manche jungen Leute sind vom richtigen neuen Leben, in dem sie alles selbst bezahlen müssen, regelrecht überrascht. Das Ergebnis war 2012 eine erste Handreichung für junge Leute, die junge Mieter bei den LWB beim Einzug in die Hand bekommen, die auch in diversen Jugendeinrichtungen herumliegt: “Endlich in die eigenen 4 Wände”, ein buntes Heft mit 28 Seiten, vielen Tipps, Checklisten und Erläuterungen, was es nun mit Mietvertrag, Mieterpflichten und Mieterrechten so auf sich hat. Das Heft wird gern genommen, reichte aber irgendwie noch nicht.

Und so setzte sich der Azubi-Jahrgang 2013 hin und entwickelte aus dem Material einen Workshop, vollgepackt mit Wissen, aber irgendwie noch ein bisschen trocken. Also musste auch der 2014er Jahrgang ran und mit dem Eduventis-Bildung erleben e.V. hat man 2014 auch einen Partner gefunden, der geholfen hat, mit seinen Erfahrungen aus der Schulsozialarbeit den Workshop zu verbessern, lockerer, jugendgemäßer zu machen. Denn das Ganze nutzt ja nichts, wenn man nicht genau die jungen Leute auch erreicht, die das Angebot gut brauchen können.

Eigentlich sind es alle

Aber im ersten Schritt hat man die “Wohnschule”, die jetzt “Der totale Wohnsinn” heißt, in 17 Workshops vor allem an Leipziger Berufsschulen ausprobiert. Und Martin Günther, der das Projekt als LWB-Azubi leitet, ist auch im August 2015 noch begeistert. Denn augenscheinlich funktioniert das Angebot, obwohl es vier Stunden Stoff enthält. “Da fällt es schon Manchem schwer, sich noch zu konzentrieren”, sagt er. “Aber hinterher sagen eigentlich alle: Das hätte ich nicht gewusst. Schön, das jetzt zu wissen.”

Denn es geht eigentlich immer nur um Eines: Wie kommt man mit Geld aus, das hinten und vorne knapp ist? Gerade, wenn man von zu Hause aus gewohnt ist, sich um gar nichts kümmern zu müssen, und Eltern auch nicht erklären, wie das alles zusammenhängt. Dann gibt’s das erste Bafög oder Lehrlingsgehalt. “700 Euro, mehr ist es ja meistens nicht”, sagt Günther. Und dann bekommen die jungen Leute im Workshop lauter Kärtchen in die Hand, auf denen all die Dinge stehen, die man so braucht im täglichen Leben: Hobby, Essen, Klamotten, Unterhaltung, Kommunikation, Mobilität, ach ja: Miete, Strom, Heizung, Versicherung … Das läppert sich schnell.

Und wenn die Workshop-Teilnehmer nicht nur den theoretischen Teil, sondern auch den praktischen mitmachen, dann erleben sie auch eine richtige Wohnungsbesichtigung. “Und da wird dann Vielen erst klar, wie viel man für 200 Euro eigentlich kriegt”, sagt Günther. “Nämlich gar nicht viel.” Die meisten erleben also zum ersten Mal, dass Geld Grenzen setzt und für ein kleines Lehrlingsgehalt Balkon und großes Bad und riesiges Wohnzimmer in der Regel nicht drin sind.

Natürlich geht es nicht darum, die jungen Leute an kleine und kleinste Wohnungen zu gewöhnen. Aber für die meisten Werkstatt-Teilnehmer scheint es tatsächlich die erste Begegnung mit den realen Möglichkeiten eines kleinen Budgets zu sein. Im Workshop lernen sie, was man sich mit wenig Geld eigentlich leisten kann – und wie man damit so umgeht, dass man gar nicht erst in die Gefahr läuft, Schulden zu machen oder gar seine Miete nicht mehr zahlen zu können.

Denn dann, so Jens Eßbach, beginnt ja erst die Spirale, die alles nur noch schlimmer macht. Wer dann die nötigen Hilfsangebote nicht annimmt und die Kosten in den Griff bekommt, der landet auch bei den LWB irgendwann in einer Räumung. “Im Workshop stellen wir das als schwarzes Loch dar”, sagt Günther.

“Ich denke, das schwarze Loch macht auch klar, dass es danach richtig schwer wird und ganz, ganz lange dauern kann, bis man sich wieder gefangen hat”, sagt Kerstin Fries, Teamleiterin der Jugendberatungsstelle jUkON des Jugendhaus Leipzig e.V. In der Jugendberatungsstelle stranden dann viele junge Leute, die auf diese Weise zum ersten Mal richtig gegen die Wand gefahren sind – oft genug mit großen Schuldenproblemen am Hals, obdachlos. Was nun?

Und so ist auch ihr Verein Partner des Projekts. Denn wenn man die jungen Leute davor bewahren will, sich erst so tief in Probleme zu verstricken, dann muss man sie abholen, bevor sie den Weg in ihr eigenes Leben gehen und einen eigenen Hausstand gründen, sich abnabeln vom Elternhaus und alles allein bewältigen wollen. Und am besten ist es, sie wissen, wie es geht und wie wenig man mit 700 Euro gestemmt bekommt. Oder wie viel.

Aber für Eßbach war es einfach die Pflicht der LWB, so ein Projekt aufzulegen, Verantwortung zu übernehmen als kommunales Unternehmen. Ob es schon die 2012 erschienene Broschüre und die ersten Workshops waren, weiß natürlich niemand, aber die Zahl der Zwangsräumungen bei den LWB sind 2014 auf 176 gesunken, davon freilich immer noch 113 Räumungen bei jungen Leuten zwischen 18 und 34. Das neue Angebot wird also gebraucht. Und es wird positiv angenommen, befindet auch Manja Mühl von Eduventis. Die jungen Leute lernen Grundlagen des Mietrechts kennen, mögliche Stolperfallen, lernen aber (mit Spielgeld) wie man wirklich haushalten muss und kann.

Ob es Eltern vorher einfach nicht vermittelt haben, sei eher eine müßige Frage, sagt Mühl. “Eltern sind für Leute in der Altersgruppe eigentlich nicht mehr der Ansprechpartner, wenn man Probleme hat. Da ist man ganz damit beschäftigt, sich abzunabeln vom Elternhaus.”

Und man möchte ja gern auf eigenen Füßen stehen. Aber wen fragt man, wenn auf einmal das Konto im Minus steht oder – was ja auch vorkommt – wenn die Freundin oder der Freund auf einmal Schluss machen und aus der halben Miete eine ganze wird? Abwarten, bis die Mahnungen kommen, sollte man wohl besser nicht.

Deswegen bietet die LWB die Workshops auch in diesem Schuljahr an: 25 bis 30 hat man geplant. Betreut werden sie – das ist wichtig – von den Azubis der LWB und den Betreuern von Eduventis. Junge Leute exerzieren das ein bisschen spröde Thema (das aber nicht öde ist) mit jungen Leuten durch.

Anmelden kann man sich als Gruppe zwischen 10 und 30 Leuten direkt unter wohnsinn@lwb.de.

Wenn’s wirklich funktioniert, sollten die Räumungszahlen 2016 erst recht in den Keller gehen.

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Die Vorstellung, mein Kind zwangsräumen zu lassen und obdachlos werden zu lassen, nur weil es über 25 bzw. zu Hause ausgezogen ist, mag sich mir nicht zueignen. Gibts so was wirklich!?

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