„Wir sind dabei!“, meldet das in Taucha ansässige Unternehmen procilon. Nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz ist die Videoüberwachung als mögliches Mittel der Aufklärung bei Terroranschlägen wieder großes Thema in allen Medien. Aber wie findet man Täter auf den Aufnahmen hunderter Videokameras? Das ist jetzt Thema eines Forschungsprojekts.

Oder ist es schon ein Entwicklungsprojekt? Irgendwie schon. Denn wenn die Partner dieses deutsch-österreichischen Projekts eine Lösung finden, dann hat man eine Software, die man in alle staatlichen Überwachungssysteme einspielen kann. Dann braucht es nur noch eine Suchmaske und binnen Minuten könnten die Aufnahmen hunderter, tausender Videokameras maschinell durchsucht werden nach den Personen, die mutmaßlich für einen Anschlag verantwortlich sind.

Im amtlichen Deutsch des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) klingt das so: „Das deutsch-österreichische Kooperationsprojekt wird ein System zur visuellen und auditiven Analyse von Bild- und Videomassendaten erarbeiten. Der deutsche Teil des Projektes wird sich dabei auf die Bild- und Videoauswertung konzentrieren. Im Projekt werden neue Verfahren zur zeitlich-räumlichen Referenzierung der vorhandenen Videos untersucht. Darauf aufbauend sollen Möglichkeiten einer dreidimensionalen Rekonstruktion der Szene und der automatischen Detektion von frei zu definierenden Objekten untersucht werden. Die ethischen und rechtlichen Untersuchungen befassen sich mit der rechtskonformen, beweissicheren und ethisch vertretbaren Erhebung, Verarbeitung und Analyse der Bild- und Videomassendaten.“

Sie ahnen, warum deutsche Innenminister dafür plädieren, in öffentlichen Räumen noch viel mehr Videokameras aufzuhängen. Denn wenn es diese Kameras gibt, hat man im Fall eines Anschlags sofort das Bildmaterial aus unterschiedlichsten Kameras. Das hat man jetzt zwar auch schon. Aber um darauf die möglichen Verdächtigen zu finden, braucht es Menschen, die sich die Aufnahmen erst mal besorgen und anschauen. Mit den Aufnahmen aus Tatortnähe ist es noch einfach. Die sind leicht zu identifizieren. Aber nach dem Anschlag in Berlin ploppten ja auch allerlei Husarenmeldungen hoch, auf welchen Kameraaufnahmen man den Täter noch so alles gesehen haben will. Und auch die Aufnahmen aus Frankreich und Italien wurden erst relevant, als man wusste, welchen Weg der Attentäter genommen hatte.

2 Millionen Euro steckt das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der „Hightech Strategy“ in das Projekt, an dem auch das Fraunhofer Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB) in Karlsruhe, die Universität Kassel, die Universität Konstanz, die Philipps-Universität Marburg und die Eberhard Karls Universität Tübingen beteiligt sind. Das Bundeskriminalamt ist einer der Partner.

Schwierig ist es mit der Zieldefinition des Projekts mit dem erstaunlichen Namen „Flexibles, teilautomatisiertes Analysesystem zur Auswertung von Videomassendaten“ (FLORIDA): „Verhinderung und Aufklärung von Terroranschlägen sowie der Identifizierung und Verfolgung der mutmaßlichen Täter“.

Welche Rolle nimmt da das auf Sicherheitssysteme spezialisierte Unternehmen procilon ein?

Um die Erkennung und Darstellung möglicher Beobachtungsobjekte kümmern sich eher das Fraunhofer Institut und die Universitäten. Und natürlich der Projektsteuerer, die L-1 Identity Solutions AG, spezialisiert auf Systeme zur Personenidentifikation.

Bei procilon geht es darum, die künftige polizeiliche Ermittlungssoftware vor Hackerangriffen zu schützen: „Als Mitglied eines Verbundes und ausgewiesener Experte für intelligente IT-Sicherheitsplattformen und IT-Compliance, ist es die Aufgabe von procilon, potentielle Angriffsmöglichkeiten auf das System und wirksame Gegenmaßnahmen konzeptionell darzustellen. Darüber hinaus wird insbesondere die Anwendbarkeit kryptographischer Verfahren untersucht. Dabei lassen die Erfahrungen zur automatisierten Einhaltung von Datenschutz, Datensicherheit und Vertrauenswürdigkeit sowie die nach CC EAL 4+ VAN5 (Angriffspotential hoch) zertifizierte Softwareentwicklung der procilon innovative Beiträge zu FLORIDA erwarten.“

Denn man ahnt es schon bei der Beschreibung: Das ist wirklich eine leicht missbrauchbare Technik. Wer so eine Software hat, der kann jeden beliebigen Menschen verfolgen. Der kann Video-Verfolgung sogar automatisieren, denn einige Teile des Projekts laufen ja darauf hinaus, dass IT-Systeme befähigt werden, gesuchte Personen eigenständig zu identifizieren. Selbst wenn das Programm erst nach erfolgten Anschlägen eingesetzt wird, kann es automatisiert eingesetzt werden, um flüchtende Täter visuell aufzuspüren und möglicherweise auf ihrer Flucht abzufangen. Was ja bei Anis Amri bekanntlich nicht geglückt ist. Gestoppt wurde er erst, als er sich einer Personenkontrolle in Italien mit Waffengewalt zu widersetzen versuchte.

Aber was ist, wenn man die Bilddaten einer Person vom Tatort nach wenigen Minuten einfach in ein System einspeisen kann, das selbsttätig die Aufnahmen tausender Kameras durchsucht und alle „Treffer“ ausfiltert? Wer den genialen ostdeutschen SF-Autor Gert Prokop gelesen hat, der wird sich an dessen 1986 erschienenes Buch „Das todsichere Ding“ erinnern. Darin schildert er eine Gesellschaft, die so komplett überwacht ist, dass selbst für gewiefte Terroristen eine Flucht nur ein todsicheres Ende finden kann. Eine echte Dystopie, die in diesem Fall nicht auf den überwachten Staat DDR abzielte, sondern das fortschrieb, was im Westen Deutschlands seit der Hysterie um die RAF schon geschehen war. Nur träumten die damaligen Innenminister nur von der Technik, die ihnen so eine Totalüberwachung ermöglichen könnte. Heute wird sie vom Bundesforschungsministerium einfach in Auftrag gegegeben.

Logisch, dass so eine automatisierte Analyse-Software für permanent arbeitende Videokameras einen Haufen Fragen aufwirft. Was auch procilon betont: „Neben den technischen Forschungen werden auch ethische und rechtliche Untersuchungen durchgeführt. Diese befassen sich primär mit der rechtskonformen, beweissicheren und ethisch vertretbaren Erhebung, Verarbeitung und Analyse der Bild- und Videomassendaten.“

Denn mit so einer Software hören überwachte öffentliche Räume endgültig auf, freie Räume zu sein. Die Kameras laufen ja auch, wenn dort Märkte stattfinden, Demonstrationen und Proteste.

Aus Polizeisicht ist das Ganze ganz einfach: „Wie die Terroranschläge in Nizza, Paris oder Boston gezeigt haben, ist es für die schnelle Aufklärung vor allem erforderlich, heterogene Video- und Bilddaten mit Tatortbezug schnell auszuwerten. Derartige Analysesysteme stehen den Ermittlungsbehörden heute nicht zur Verfügung, sind aber für ihre Arbeit von großer Bedeutung. (…) Durch die innovativen Analysen des Bild- und Tonmaterials und die interaktive dreidimensionale Visualisierung der Auswerteergebnisse können Tathergänge schneller rekonstruiert und potentielle Tatverdächtige zeitnah ermittelt werden. Die Erarbeitung eines umfassenden Sicherheitskonzeptes bereitet eine zukunftsfähige Erweiterung der Plattform vor.“

Zukunftsfähige Erweiterung?

In eigener Sache: Lokaler Journalismus in Leipzig sucht Unterstützer

https://www.l-iz.de/bildung/medien/2017/01/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar