Auch Dichter/-innen lassen sich anstecken von den Klagegesängen der Zeit. In diesem Fall Jayne-Ann Igel, die das Nachwort zu Thomas Böhmes neuem Gedichtband „Strandpatenschaft“ geschrieben hat. „Mancher Text wirkt eher wie ein Abgesang. Bisweilen apokalyptisch“, schreibt sie. Was natürlich verblüfft, wenn man sich durch Landpartien und Augenweiden, Nachtwachen und Raunachtsplitter gelesen hat. Apokalypsen lesen sich anders.

Obwohl die Interpretation natürlich verständlich ist. Denn viele Geschichten lassen die Atmosphäre der vergangenen vier Jahre spüren. Besonders stark die „Nachtwachen des Sommers“, die Böhme in Vigilien einteilt, regelrechte Nachtgebete, die aber auch wieder keine Gebete sind, sondern gedankliche Ausflüge, die Ruhelosigkeit dessen, was im Kopf eines Dichters vor sich geht, der in Nächten, in denen das Thermometer nicht mehr unter die 25-Grad-Marke fällt, nicht schlafen kann. „Gespenster haben leichtes Spiel mit den überreizten Sinnen. Sie lieben es, den Schlaflosen heimzusuchen …“

Doch wer Böhmes Gedichte kennt, weiß, dass darin eher keine Gespenster auftauchen, sondern Bilder, Geschichten, die Bruchstücke unserer Wirklichkeit, in der wir alle leben. Nur gehen Dichter damit anders um. Jedenfalls solche wie Böhme. Sie werten nicht. Sie argumentieren nicht. Sie lamentieren nicht. Sie staunen.

Die ganze Welt im Kopf

Denn das war schon mit seinem ersten Gedichtband „Mit der Sanduhr am Gürtel“ so, der 1983 erschien und Dinge im abgeschlossen Ländchen DDR zusammenführte, die nach offizieller Parteidoktrin nicht zum Alltag eines braven DDR-Bürgers gehörten. Aber natürlich trotzdem dazugehörten.

Erst recht in der Jugendkultur des Landes, die ohne die Poesie und die Musik der Welt nicht denkbar war. Und ist. Auch wenn alte verknöcherte Leute ihre Scheuklappen haben und ihre Mauer im Kopf, all dieses Nicht-Sehen, Nicht-Wollen, Nicht-Denken.

Aber so sehen Dichter die Welt nicht. Und wer sich die Zeit nimmt und sich mit diesen Gedichten an ein stilles Plätzchen setzt, merkt ziemlich bald, dass Böhme genauso schreibt, wie wir denken und sehen, wenn wir uns die Ruhe, die Zeit und die Aufmerksamkeit nehmen zum Sehen und Wahrnehmen.

Die apokalyptischen Teile erweisen sich da ganz schnell als Schlagzeilenfetzen aus unseren apokalyptisch kolportierenden Medien. „Auf der Titelseite fand er lediglich Bilder zur großen Dürre & Meldungen über Waldbrände, Bahnverspätungen, bestreikte Flughäfen.“

Man muss sich drauf einlassen. Aber wer lässt sich noch darauf ein, die Welt mit dieser stillen, ernsthaften Aufmerksamkeit zu betrachten und wahrzunehmen wie dieser Böhme, der nie aufgehört hat, die ganze kleine und große Welt um sich mit der Ernsthaftigkeit zu betrachten, die die meisten von uns nicht mehr aufbringen. Weil wir ja abgelenkt sind, immerfort geschäftig, weil irgendetwas anderes wichtiger, drängender, lärmender ist.

Gedanken auf Nebenwegen

Man merkt sehr schnell, dass Böhme eigentlich nichts anderes tut, als die Welt um sich – so wie sie ist – ernst zu nehmen. Mit allen zufälligen Erinnerungen, abschweifenden Gedanken. Es ist tatsächlich sehr still, in seiner Welt. „Im Morgengrauen weckte mich eine Taube. / Sie scharrte auf meinem Fensterblech. / Ihr Gurren erinnerte mich an die Stimme Jane Birkins …“ („Vexierbad“).

Viele dieser Gedichte sind Abschweifungen, Ausflüge im Gedanken, wissend darum, dass es eigentlich keine Trennung zischen dem Draußen und dem Drinnen gibt. In unserem Kopf fließen sie alle ineinander – die Dinge, die wir sehen, hören, riechen.

Und die Gedanken, die immer abschweifen, Assoziationen wachrufen, Erinnerungen. Genauso schnell, wie in den drei zitierten Zeilen passiert das. Und irgendwann, viel später stutzt man und merkt: Man war in Gedanken ganz woanders.

Da muss man nicht mal wegfahren, auch wenn einige der in diesem Band versammelten Gedichte an Reisen erinnern – nach Rom und Pompeji zum Beispiel. Aber auch nach Zeitz, weil der imaginierte Reisende nur so weit fort fahren möchte, dass er am Abend mit der S-Bahn wieder zurück in Leipzig ist.

Aber wer so wie Thomas Böhme auch den ganzen Kanon der antiken Literatur und Mythologie im Kopf hat, der muss gar nicht erst zum Palast des Minos reisen, um selbst im kleinen Zeitz die Weite der Welt und die Stille der Geschichte zu finden.

Die stets gegenwärtigen Türen in die Vergangenheit

Es gibt erstaunlich viele Gedichte in diesem Band, bei denen man das Gefühl hat, gleich geht eine Tür auf und man steht in der ganz ähnlich atmosphärischen Literatur anderer Leute. Etwa der eines Umberto Eco in „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“, wenn der Zeitz-Reisende in Böhmes Gedicht die Reise so antritt: „Als Kind hatte er seine Inseln im Kopf und im Koffer / die Utensilien für lange Fluchten. Sie endeten stets / hinterm Gartenzaun …“ („Zum Beispiel Zeitz“).

Böhme springt ab und zu in die Dritte Person, legt eine bildhafte Distanz zwischen sich und den Akteur in seinem Gedicht. Als wäre er mit sich nicht identisch. Was man ja an manchen Tagen auch partout nicht ist. Da kann man über sich selber staunen und sich wundern und sich fremd fühlen in der eigenen Haut.

Wozu natürlich immer gehört, dass man sich selbst überhaupt noch wahrnimmt, so intensiv registriert, wie es der Autor hier tut, dessen Welt nicht nur sehr still, sondern auch einsam ist. Einsam auf eine intensive und bereichernde Weise.

Wir leben ja auch in einer Gesellschaft, in der alle möglichen lauten Leute, die nicht mal wissen, was Einsamkeit ist, das Schicksal der anderen Einsamen beklagen. Es steckt immer eine gehörige Schütte Verachtung mit drin in diesen Wehklagen. Und jede Menge Oberflächlichkeit. Zu der wir freilich erzogen wurden.

Denn wer oberflächlich und unachtsam ist, der lässt sich leicht steuern mit den Phrasen, dem Lärm, den Apokalypsen anderer Leute. Der ist nicht bei sich. Wie sollte er auch?

Die himmlischen Freuden …

Bei-sich-sein, das fühlt sich so an, wie Thomas Böhme viele seiner Texte schreibt. Auch wenn er etwa in den Prosagedichten in „Die blauen Vögel“ ins Märchenhafte und Phantastische abschweift. Aber man spürt die ganze Zeit, dass es gar nicht um die Phantastik geht, sondern um den König in diesen Zeilen, der sich seine lebendige Welt selbst erschafft, der ganz genau weiß, dass Sprache ein Zauberinstrument ist und aus zufälligen Sätzen ganze Geschichten und Welten entstehen können. Man muss sie nur weben und leben lassen. Und aufschreiben, bevor sie sich in der Schreibmaschine verklemmen.

Was nicht ausschließt, dass auch der Träumer seinen Platz bekommt, das Nachdenken über eine Zeit, als es auch mal ein Wir gab, das von einem „Leben in wachsenden Ringen“ träumen konnte. „Hatten wir nicht an gedeckten Tischen gesessen / einander Briefe geschrieben / oder waren auf Türme gestiegen? Das Genießen der himmlischen Freuden / nannten wir, was uns den Atem benahm.“ („Vom vergessenen Sein“.)

Jeder denkt so immer wieder auch über das eigene Leben nach, die einstigen Träume, Erwartungen, Zukünfte, die dann doch nicht eingetreten sind. Das Leben floss vorüber. „So blieben wir ahnungsvoll und im Innern / von Zweifeln zerrieben.“

Leben ist Zweifeln, darf man hier schreiben. Wer nicht zweifelt, lebt nicht. Sieht auch nichts. Merkt nicht den stets gegenwärtigen Widerspruch, der uns erst aufmerksam macht. Natürlich erzählen viele Gedichte auch vom Altern. Auf einmal ist vieles Erinnerung, was einmal Gegenwart war.

Selbst ein Wort wie „Huckepack“ überrascht diesen Dichter, bringt ihn auf gedankliche Abwege und die durchaus emotionale Feststellung, dass auf einmal auch fast vergessene Worte wie „Katheister, Bandscheibenkleister“ ihre heftige Wirkung entfalten.

Die Magie der Worte

Wir haben diese Worte alle im Kopf, die Erinnerungen, selbst in Träumen tauchen sie auf, manchmal so stark, dass uns die Träume auch noch durch den Tag begleiten, uns sehr nachdenklich machen. Vielleicht ist das der Vorteil der Dichter: Sie dürfen sich darauf einlassen.

Sie müssen nicht in Geschäftigkeit flüchten. Sie können das Jetzt in sich einsaugen oder einfach wirken lassen, das Gefühl in sich aufnehmen, ein Staubkorn im Weltall zu sein. Denn neben den antiken Mythen hat Böhme auch die moderne Kosmologie verinnerlicht.

Immer wieder öffnen sich in seinen Gedichten auch kosmische Räume, wird die Unendlichkeit fast spürbar, hier im Jetzt. Man kann es sogar selbst ausprobieren, ob einem das glückt – beim beginnenden Regen etwa auf der Palmgartenbrücke: „Vorstellbar wären Atome / groß wie Sonnensysteme; / jedes vom andern so weit entfernt / wie heut Sonnen voneinander entfernt sind.“ („Das Vorstellbare“.)

Das Große und Gewaltige findet sich im Kleinen direkt vor unserer Nase. Alles ist uns geschenkt. Auch das ist so ein Gefühl, das wie beiläufig auftaucht. Wir müssen es nur sehen wollen und nicht immer flüchten in irgendwelche Sensationen. Denn das Gewaltige, das uns die Welt spüren macht, ist immer da. Da kann selbst ein Böhme mal hymnisch werden: „Ich lasse bei Gott anschreiben / wenn ich mich einfach so / am Duft der Weizenfelder berausche.“ („Obolus“.)

Was ihn nicht hindert, über die „Faustische Blindheit“ zu schreiben, die Spiegelscherben nach dem Sturm oder die Unmöglichkeit des Phönix, wieder aufzuerstehen. Scheinbar steckt da die Apokalypse drin, aber eigentlich interessiert sie Böhme nicht. Er ist kein Prophet. Er muss nicht mahnen.

Er greift all die Einzelteile unseres Alltags auf, setzt sie zusammen, sammelt sie wie Strandgut, sieht unsere und seine Spuren und auch die Zukunftslosigkeit, die unsere Schlagzeilen verkünden: „Die Claims sind nun abgesteckt. / Die Vermessung der Welt war gestern.“ („Die Faustische Blindheit“.)

Der Zauber der Welt

Nach den Maßstäben der Sensationsmacher war’s das. Es gibt nichts mehr zu entdecken. Obwohl alles vor unserer Nase liegt und kaum noch einer hinschaut. Als wäre das keine betrachtenswerte Welt. Und einer wie Böhme ergreift sie, ertastet sie, nimmt, was er sieht, in die Hand – und siehe: Alles ist Erinnerung. Die Zauber der Welt stecken in unsrem Kopf. Sind jederzeit abrufbar, durch eine Kastanie im Herbst, eine Akeleiblüte auf der Wiese, eine Postkarte aus Japan. Deswegen auch der oben erwähnte Eco.

An dieser Stelle sind sich die beiden nah und verwandt und zeigen, wie die Welt eigentlich in unserem Kopf steckt und wir darin leben wie in einem grandiosen Zeitenspiel, aufgehoben in Dingen, die wir kennen, die uns vertraut sind und dennoch überraschen. Selbst in längst geübten Spaziergängen durch die Landschaft, die in Millionen Gedichten schon beschrieben wurde. Aber dennoch erwischen uns die Emotionen. Sie stecken in den Worten, die einer findet zu dem, was er sieht und fühlt: „Die Novemberlibellen sind müde geworden …“ („Der Herbst des Kentauren“.)

Da mag man Trauer drin lesen oder Wehmut oder Abschied. Aber es ist gleichzeitig immer dieser aufmerksame Blick für Werden und Vergehen, der bei Böhme schon immer da war, zuletzt in „Abdruck im Niemandswo“. Auch da „verortete“ sich einer, wie das immer so schön in Rezensionen heißt. Suchte sich selbst und die Landschafen, in denen er zu Hause war oder sich zu Hause fühlte.

Wie heimgekehrt. Oder wieder gestrandet, abseits all der Wichtigkeiten. Das kann selbst diese karge, kaputte Landschaft gleich hinter der Stadt sein, die manchmal solche Stimmungen in sich trägt, als wäre man ganz, ganz woanders: „An Apriltagen mit mehr als zwölf Stunden Sonnenlicht / überfällt ihn die Ratlosigkeit des Nomaden …“ („Im Zeichen der Unruhe“.)

Ohne Kompass & Karte …

Böhmes Gedichte erzählen fast immer Geschichten, sagt Kathrin Schmidt. Aber es sind dichte Geschichten, filigrane, in denen einer zeigt, wie die Geschichte schon da beginnt, wo andere verzweifelt nach Lärm und Bedeutung suchen. Einfach schon beim Wahrnehmen des Tages, des Lichts, des stillen Zimmers. Alles beginnt hier. Und eigentlich bleibt es auch hier, auch wenn Böhme unterwegs von Ausflügen erzählt, in denen er stets das größtmögliche Gepäck dabei hat – im Kopf natürlich.

Wir sehen die Welt so, wie wir gelernt haben, sie zu sehen. Es ist schon lange keine jungfräuliche Welt mehr. Aber das Verblüffende, was Böhme zeigt, ist die Tatsache, dass man gleich am eigenen Fenster mit Entdeckungen beginnen kann. Die Welt mag vermessen, aufgeteilt und geplündert sein. Aber wir entdecken sie jeden Tag neu. Jedenfalls wenn wir mal die Klappe halten, aufhören zu rasen und selbst im scheinbar Alltäglichen das Erstaunliche wahrnehmen.

Dann merkt man nämlich, dass an unserem Dasein immer etwas Rätselhaftes ist. Denn wir spüren ja, wie alles kommt und vergeht, sind mittendrin in diesem Fluss, wissen um unser Ende, tun aber so, als wäre das völlig undenkbar. „Wie bist du nur hergelangt / ohne Kompass & Karte / und ohne die Gegend zu kennen?“ („Sesamwald“.)

Mit Böhmes Gedichten merkt man dieses Staunen und Verwundertsein wieder. Es steckt auch im Titelgedicht „Strandpatenschaft“, in dem es um die Beziehung eines Jungen zu einem alten Mann geht, die beide am Strand nach aufhebenswertem Strandgut suchen. So, wie es Böhme als Dichter eigentlich auch tut. „Er könnte jetzt heimkehren zu den verlausten Baracken / doch er mag sich nicht lösen / vom Röcheln der schwarzen Lagune.“ („Strandpatenschaft“.)

Scheinbar ein völlig ungeeigneter Ort zum Staunen. Aber das Staunen und Ehrfurchthaben steckt in unserem Kopf. Es ist ein ganz leises Gefühl, dem man sich hingeben kann oder in das man hineingerät, ganz unverhofft. Oder eben doch Gedicht für Gedicht, wenn man sich durch diesen neuen Gedichtband von Thomas Böhme blättert. Die Zeit sollte man sich nehmen. Denn genau das bringen einem Gedichte wieder nahe: die verdichtete Aufmerksamkeit für unsere eigene Wahrnehmung der Welt.

Wer nicht mehr staunen kann, begreift das eh nicht.

Die anderen werden sich bei Thomas Böhme gut begleitet fühlen.

Thomas Böhme Strandpatenschaft, Poetenladen, Leipzig 2021, 19,80 Euro.

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