Es ist wie ein Ritterschlag, wenn ein Künstler bei Taschen im Mega-Format herauskommt. Es ist wie der Eintritt in den Olymp. Neo Rauch ist jetzt in den Olymp aufgenommen worden. In den Taschen-Olymp. In jenem anderen Olymp, wo der große Diskurs über Malerei stattfindet, da ist er schon lange.

Es ist nicht der Olymp des Feuilletons oder der Kunstmagazine. Es ist der Olymp, dessen Widerschein man dann und wann in den ruhmreichen Tagen der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst im Treppenhaus dieser hohen Akademie sehen konnte. Knistern hören auch, wenn man genau hinhörte und sich das Zuhören bei den offiziellen Reden und Preisverleihungen verkniff. Über das Wetter und die Kunst reden alle mit. Doch bei Neo Rauch ist es so wie bei seinen besten Lehrern: Man läuft von Werk zu Werk, fühlt die Verblüffung, kann es aber nicht wirklich einordnen.

Auch deshalb machte der Leipziger Maler, der im Süden der Stadt fast in dörflicher Stille wohnt, solche Furore ab Mitte der 1990er Jahre. Er passte in die gerade modernen Moden nicht hinein. Aber er brach auch nicht nur aus, wie es Jahrgang um Jahrgang junger Künstler auch in Leipzig versuchen. Ihm gelang, was den Wenigsten gelang: Er fand zu seiner eigenen Sprache.

Das ist schwer. Gerade für Schüler. Und es braucht Zeit. Denn die Welt ist ja schon voller Kunst, voller ausdrucksstarker Werke, die Maßstäbe setzen. Noch heute wird, wenn man von Neo Rauch spricht, gern von Neuer Leipziger Schule geplappert, versuchen Kunstexperten eine Ordnung in die jüngere Malergeneration aus Leipzig zu bekommen und sie zu katalogisieren, als wäre es eine neue Hunderasse. Irgendwie näher verwandt mit den schmucken Schoßhunden der Leipziger Schule – den Tübke, Mattheuer, Heisig. Bei Heisig war Rauch Meisterschüler. Aber Heisig wird man nicht finden in seinen Bildern. Vielleicht in den frühen, als er noch auf der Suche war.Denn dieses unverwechselbar Verwirrende findet sich bei Neo Rauch erst so ungefähr ab 1993. Das ist auch in etwa die Epoche, mit der dieser Bildband einsetzt. Damals nahm das Kontur an, was den Betrachter bis heute aus dem Gleichmut reißt, wenn er Rauchs Bilder sieht, begannen sich jene wie aus den Magazinen der 1930 oder 1950er Jahre gekommenen Gestalten in seine Bilder zu drängen, die so anachronistisch wirken – Helden einer vergangenen Zeit, in der die Technisierung und Normierung der Welt noch Utopie war, in der sich die Bilder der Arbeiter-Helden in Ost und West erstaunlich ähnelten. Alles war Aufbau, Konstruktion, Neuerschaffung der Zivilisation.

Diese Gestalten aber traf man bei Rauch in seltsamen Landschaften, herausgerissen aus ihrem heroischen Kontext, an normierten Baracken bauend, während sich der Wald dahinter wie eine Gewitterwolke aufbäumte, Startbahnen bauend, Löschübungen veranstaltend, bei denen man nicht so recht unterscheiden konnte: War das Spiel oder Ernst? – “Comicstil” wird es da und dort in einem der Beiträge genannt, in denen Wolfgang Büscher, Harald Kunde und Gary Tinterow versuchen, dieses Werk und den Maler auszuloten, sich selbst zu erklären.

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Was immer nur eine Art Expedition sein kann. Denn wer so überbordend zu erzählen weiß, wie es Neo Rauch in seinen Bildern tut, der ist nicht auf einen Nenner zu bringen. Der verstört sichtlich auch die Erklärer und Kritiker, die selbst Objekt seiner Malerei werden. Wie alles, was diesem Maler passiert. Welche Rolle dabei sein Aufwachsen in Aschersleben spielt, das Erlebnis der späten DDR und der Umbruch 1990, wird sich nicht messen lassen. Nur sehen vielleicht, denn die Landschaften, die er malt, wirken für Bewohner der Region um Leipzig vertraut, nur leicht verfremdet, so, wie man sie vielleicht im Traum wahrnimmt – in anderem Licht, mit verzerrter Perspektive. Manchmal schieben sich die unterschiedlichsten Perspektiven ineinander, wechseln die Malstile abrupt vom nüchtern Sachlichen in detailliert herausgearbeitete Landschaften hinein, die an Caspar David Friedrich erinnern.

Der Bildband lässt miterleben, wie sich das Jahr um Jahr verdichtet, plastischer wird und auch immer traumhafter. Was Neo Rauch auch immer wieder betont: das Verstörende ernst zu nehmen. Das, was jeder wahrnimmt, wenn er aus den täglichen, scheinbar so klaren Abläufen herausgerissen wird.

“Wie ich Malerei verstehe, ist sie doch ein Medium, das in erster Linie geeignet ist, das Unbenennbare in Formen zu bringen, die uns mit magnetischer Plastizität gegenübertreten können, obwohl es mit den Gegebenheiten unserer augenblicklichen Situation nur bedingt korrespondiert”, wird Rauch zitiert.Eine Seite weiter geblättert, taucht man in das Bild “Zoll” ein, gemalt 2004, auf dem ein Zöllner den Koffer eines wie ertappt da stehenden Pärchens öffnet und lauter Knochen wabern heraus. Die drei Autoren, die sich immer wieder auch mit den möglichen Quellen und Aneignungslinien des Malers beschäftigen, bleiben freilich der Malerei verhaftet. Aber was hier so bedrückend eindrucksvoll gemalt ist, erinnert auch an Literaten wie Kafka. Das Unfassbare greift auf das scheinbar so simple Leben der Menschen über – gerade in den jüngeren Bildern wird das deutlich, in denen immer prägnanter Motive der Anklage, der Reue, der Bestrafung sichtbar werden. Mal ist es eine Guillotine, die vorbereitet wird wie für ein Volksfest, eine Szene der Unterwerfung, ein Künstler, mit einem Strick an seine Staffelei gefesselt, dahinter wieder die verhüllte Guillotine. Manches scheint greifbar wie ein Zitat aus dem politischen Leben des frühen 21. Jahrhunderts, fremd wirkend, weil die Gestalten in den Kostümen des Biedermeier agieren. Jedes Bild ist eine Bühne – doch der Betrachter wird das Gefühl nie los, dass er nur einen kleinen, zufälligen und verstörenden Ausschnitt aus einem Drama wahrnimmt, in dem es durchaus unbarmherzig, gewalttätig und unberechenbar zugeht.

Eigentlich das, was jeder selbst erlebt. Nur versucht man ja in der Regel, das Nicht-Fassbare, Bedrohliche zu verdrängen. Die Ungeheuer, die entfesselt werden, wenn sich uralte Zustände wieder Bahn brechen. Natürlich zitiert Rauch auch Goya. “Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer”. Kaum ein anderer Künstler hat das so plastisch, eindringlich und konsequent gemalt wie Rauch. Es sind die alten Ungeheuer, die auch im scheinbar so ordentlichen Zeitalter der siegreichen Technik lebendig sind. Es ist das Irrationale im Menschen selbst.

Es ist das Irrationale unserer Zeit. “Das Glück in der hochgradig privilegierten Lage zu sein, das Ungeheuerliche, das Miserable, das Desaströse zu verwalten, auf ein paar Quadratmetern Leinwand, das ist mit nichts anderem aufzuwiegen”, sagt Neo Rauch.

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Neo Rauch
Hans Werner Holzwarth, Taschen Verlag 2012, 49,99 Euro

Kafka hätte es vielleicht ganz ähnlich formuliert. Und die beiden hätten sich ganz gewiss bestens verstanden, wenn sie sich hätten treffen dürfen, zwei, die wissen, wie dünn der Lack ist, der den Menschen zivilisiert. Und wie wenig rational all die Dinge sind, mit denen die Techniker der Welt glauben, eine rationale Zukunft zu bauen.

Ein gewichtiges Buch, 450 Seiten voller beeindruckender und verwirrender Bilder, auf denen aber auch sichtbar wird, wie sich die Erzählweise Neo Rauchs über die Jahre verändert und verdichtet. Wer die große Neo-Rauch-Ausstellung 2010 im Bildermuseum verpasst hat, bekommt hier eine Ausstellung ins Haus geliefert, eine Bilderflut, die für 100 Träume reicht oder einen langen Winter.

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