Es ist wirklich schade, dass es die Kulturbahn Linie 14 noch nicht gibt, über die Karl-Heine-Straße hinaus verlängert nicht mal zum Busbahnhof Lindenau, sondern mit leichter Linkskurve direkt in die Spinnereistraße, Haltestelle: Spinnerei. Die meisten Leipziger wissen gar nicht, was für ein Kleinod sie mit dieser Kunst-Fabrik haben. Und welche Schätze zu sehen sind. Bis zum 3. August zum Beispiel: die Aichinger-Ausstellung "Die Familie. Eine Aufstellung".

Zu sehen in der Maerzgalerie, zu finden in Halle 6. Aichinger gehört zur 3. Generation der Leipziger Schule. So wie Neo Rauch und Michael Triegel. Er wurde 1959 in Leipzig geboren und hat an der HGB bei Bernhard Heisig studiert, einem aus dem Dreigestirn der 1. Generation. In einer Fußnote versucht Christoph Tannert den Lesern der pünktlich zur Ausstellung erschienenen Aichinger-Monographie “Wahrheit und Pflicht” die Sache mit den Generationen ein wenig zu erläutern. Wobei das mit einer 4. Generation Heribert Ottersbach ganz bestimmt nicht passt.

Vielleicht braucht es auch irgendwann keine Generationenfolge mehr, weil nach und nach deutlicher wird, was es mit dieser einst vom Frankfurter Kunstkritiker Eduard Beaucamp so benannten Schule auf sich hat. Die auch deshalb selbst im geteilten Deutschland für Aufsehen sorgte, weil eben mehr in ihr steckt als nur künstlerische Strenge, gar Schulung an den Maßstäben der großen europäischen Tafelmalerei oder gar eine Art enges Lehrer-Schüler-Verhältnis. Genug Kritisches zu dieser Schule haben ja auch all jene Leipziger Künstler gesagt, die damit wirklich nichts anfangen können – allen voran Hans-Hendrik Grimmling. Recht hat er. Und Unrecht zugleich. Denn eine Art, Kunst zu machen, die derart Widerspruch erzeugt und gleichzeitig für Faszination und Verwirrung sorgt, die hat einen Kern. Da ist etwas, das eben deutlich mehr ist als plakative Aussage oder nur gemalte Schönheit.

Und je mehr sich nun das Werk der Maler der so genannten 3. Generation entfaltet, umso deutlicher schält sich heraus, dass die Leipziger Schule ihre Tiefe eigentlich dadurch gewinnt, dass ihre Vertreter den Kosmos der europäischen Kunstgeschichte bis ins ff. kennen. Das gehörte immer ganz traditionell zur Ausbildung. Und wahrscheinlich könnte man jeden Vertreter dieser Schule im Schlaf fragen, in welche Zusammenhänge welcher große Maler gehört, was seine Besonderheiten und Finessen sind, wie er komponierte und seine Bild-Geschichten baute.Joachim Penzel und Christoph Tannert, die die beiden Essays für diesen eindrucksvollen Werkband Hans Aichingers geschrieben haben, benennen einige dieser Namen, die ihnen aufgefallen sind, weil Aichingers Bilder mit der Bilderwelt dieser Maler auf beeindruckende Weise korrespondiert. Caravaggio wird mehrfach genannt. Aber wer die Bilderwelt Vermeers oder Leibls im Kopf hat, wird auch hier Korrespondenzen finden. Nicht nur in der Ästhetik und dem meisterhaften Umgang mit Raum und Licht. Wer so malt, der hat sein Studium der alten Italiener und vor allem auch der Holländer sehr ernst genommen. Wohl auch, weil er hier etwas gefunden hat, was ihn selbst anspornt.

Wer nur die Technik lernt, wird trotzdem nie ein faszinierender Maler. Auch das weiß man ja von der HGB, dass es auch viele nicht geschafft haben, weil die eigentliche Arbeit erst dann beginnt, wenn man diesen ganzen Kosmos “drauf hat”. Auch bei den heute Berühmten sieht man diese zuweilen lange und zuweilen auch quälende Suche nach der eigenen Bildsprache. Die eine doppelte und dreifache ist. Bis in die Transzendenz. Was eigentlich nicht sein dürfte. War das doch eine “Schule” mitten im roten Osten mit lauter schrecklichen atheistischen Malern. Aber wer sich diese ganzen Bilderfluten der Namhaften anschaut – auch die 50, 40 Jahre alten Gemälde -, der sieht diese immer wieder neuen gemalten Grenzüberschreitungen. Die manchmal ganz simpel daher kamen – aber das kleine Fleckchen Erde, auf dem sie malten, geradezu düpierten, weil sie – für jeden Betrachter sichtbar – darüber hinausgingen. Grenzgänger im Bildlichen und im Geistigen.

Mal ins Mythische, mal ins Ironische, ins Theatralische oder verstörend Dämonische. Der ganzen Schule gemein ist diese Dosis Rätselhaftigkeit, diese Prise Mehr, die selbst noch in den Auftragswerken für die Parteigranden steckte.

Und nach 1990 war da kurzzeitig die Unsicherheit: Hat sich das jetzt erledigt? Wie bei den Schriftstellern, bei denen nun niemand mehr “zwischen den Zeilen” lesen musste? – Es dauerte ein paar Jahre, bis sich Leute wie Rauch und Aichinger frei geschwommen hatten. Denn es geht bei Kunst nicht um irgendwelche veränderten gesellschaftlichen Dogmen. Dafür haben sich auch in der DDR die wenigsten Leute Kunst angeschaut. Da waren sie in Karikatur-Ausstellungen besser bedient.

Aber was die alten Genossen nie begriffen und die neueren Kunstmakler in der Regel auch nicht, das ist dieses Rätselhafte im Menschen, seine fast ängstliche Suche nach dem “etwas mehr”. Denn dass das Leben auf Erden rätselhaft und selten wirklich zu fassen ist, das spürt, wer sich noch Zeit zum Nachsinnen lässt. Das wurde selbst spürbar, als 2009 im Alten Rathaus die Ausstellung “Erleuchtung der Welt” gezeigt wurde, die eigentlich das Kapitel Aufklärung in Leipzig aufarbeiten sollte.

Aber hinter diesem gewaltigen Suchen nach einer Ratio in der Welt steckte auch damals schon die anhaltende Verunsicherung: Denn was bleibt von der Faszination, wenn wir alles wissen und alles rationalisieren? – Auch das hat mit der “Leipziger Schule” und ihrem fantasievollen “Ja, aber …” zu tun, das sie der rationalen Denk- und Formenstrenge der Funktionäre entgegen setzen. Ein “Ja, aber …”, das sich eben nicht einfach verbieten und wegdiskutieren ließ. Und das in der ebenso rationalistischen Moderne der Konsumgesellschaft genauso gilt.Die Aichinger übrigens völlig herausgeräumt hat aus seinen Bildern. Immer wieder beschränkt er sich auf ganz und gar reduzierte Szenen – Porträts, Halb- und Ganzkörperbilder, die seine Modelle (meist Kinder, Jugendliche, junge Frauen) wie versunken zeigt, in eigene Gedanken vertieft, abwesend, oder wie gebannt auf Etwas schauend, was sich irgendwo jenseits des Bildrahmens befindet. Was wieder an bestimmte Bildsprachen des modernen Regiefilms erinnert.

Es sind aufs Wesentlichste reduzierte Szenen, die zwar von Mimik und Gestik her an manches berühmte Motiv der Tafelmalerei erinnern – manchmal weist auch Aichingers Titelgebung extra darauf hin – wie bei den “Evangelisten”. Aber sind das nicht einfach Jugendliche von heute? Entspannen sie nicht gleich ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck und dürfen das Atelier des Malers erlöst verlassen?

Immer wieder aber sind die Motive auch wieder sichtlich reduzierte Szenerien aus der christlichen Ikonografie: mal das Abendmahl assoziierend, mal die Beweinung Christi. Deutlich machend, dass auch die berühmten Maler der Renaissance in ihren Bildern mehr versuchten zu erzählen als nur eine simple Illustration der Bibel. Denn hinter den berühmten Szenen des Neuen Testaments stecken ja immer wieder die ganzen menschlichen Verhaltensweisen, die das Dasein so komplex und oft genug kompliziert machen: Verrat, Vertrauen, Eitelkeit, Ratlosigkeit, Furcht, Sprachlosigkeit. Es ist, als würde Aichinger das in seinen Bildern immer wieder neu durchdeklinieren und immer neue Verunsicherungen entdecken.

In gewisser Weise ein sehr zentrales Bild ist “Das Unglück der Aufklärung”: Das Licht aus der Laterna Magica beleuchtet nur einen kleinen Fleck auf der Hand einer der beiden jungen Frauen. Sie scheinen sehr konzentriert auf ihr Tun zu schauen. Aber tatsächlich liegt der Raum im Schatten. Der helle Fleck zieht den Blick auf sich. Und damit auch ab von der ringsum herrschenden Dunkelheit. Unübersehbar beschäftigt sich Aichinger mit diesem alten, durch die Philosophie der Aufklärung erst sichtbar gewordenen Konflikt: Ist unsere Welt tatsächlich so rational und “erleuchtet”, wie wir glauben oder wie Mancher behauptet, der die Finsternisse der Gegenwart gern dem Werk der rücksichtslos waltenden Ratio zuschreibt?

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Hans Aichinger
Joachim Penzel, Christoph Tannert, Hirmer Verlag 2013, 34,90 Euro

Mit dem Bild “Das Unglück der Aufklärung” bilden die nächsten Bilder – “Der innere Sinn” und “Der weiße Anfang” eine Art Fragen-Folge. Denn Aichinger setzt dem Betrachter keine Antworten vor. Er nimmt ihn mit in seine Erkundung des Da-Seins. Nur verzichtet er dabei auf die circensische Geste eines Dali oder Magritte, obwohl er im Grunde die selben Verwunderungen und Verstörungen zeigt. Christoph Tannert spricht von einem “existenziellen, altertümlichen Anspruch auf das Geistige, auf Sinn und Weltverstehen” bei Aichinger.

Und siehe da: Es ist wieder ein frappierender Widerspruch zum rauschenden Fest der modernen Oberflächlichkeit. Faszinierend in seiner Dichte. In der Maerzgalerie noch bis August zu sehen. Und nun auch in diesem Bildband, der die Bilder Hans Aichingers aus den letzten sieben Jahren versammelt.

www.maerzgalerie.com/de

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