Es gibt schon eine ganze Reihe Punk-Bücher. Einige sind Kult. Andere sind eher albern, viele unlesbar. Was auch daran liegt, dass ein echter Punk eigentlich keine Bücher schreiben kann. Ist ja Arbeit. Oder um Jan Off zu zitieren, dessen Spruch das Cover ziert: "Wer nach Jahren in der Punkszene noch in der Lage ist, einen Roman zu verfassen, hat alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann."

Womit er das Problem der Szene anspricht: Sie steckt genauso tief in ihren Regeln und Zwängen wie alle anderen Szenen. Die Klamotten kann man im Laden kaufen, die Musik genauso. Und selbst in Leipziger Straßenbahnen nerven die schulmeisterlichen Gespräche der bunten Gestalten, die sich gegenseitig belehren, was ein richtiger Punk ist. Oder zu sein hat.

Ist das nun also ein Punk-Buch? Im von Jan Off gemeinten Sinn auf keinen Fall. In dem Sinn aber, wie der Punk einst entstand zu Zeiten unserer Großväter, ist es eins. Denn am Anfang stand ja mal die Rebellion – gegen eine normierte, erstarrte und gleichgeschaltete Gesellschaft. Von den Klamotten bis zur Musik war alles Protest, Aggression und Verweigerung – und im Kern ein unbändiger Wille, das eigene Leben leben zu wollen. Das schwappte in den 1980er Jahren auch in die DDR – so wie alle Trends aus dem Westen. Und dass der Protagonist dieses Buches in den späten Jahren der erstarrten DDR unter die Punks geht, hat genau damit zu tun. Nicht umsonst steht der Pindar-Spruch auf dem Cover: “Werde, der du bist.”

Mit seinem Helden Nils, Spitzname Trap, hat sich Tino Hünger ein alter ego geschaffen, denn es ist im Grunde seine Geschichte einer Rebellion. Eine besondere Geschichte, denn so zu rebellieren trauten sich auch Jugendliche in der DDR nicht allzu oft. Schon gar nicht in einem Nest wie Zeulenroda, wo Tino Hünger aufgewachsen ist und die so entscheidenden Jahre zwischen dem Reaktorunfall in Tschernobyl und den Wende-Jahren 1989/1990 selbst erlebte.Für seinen Helden ist Tschernobyl die Bruchkante, an der sein Leben eine andere Wendung nimmt. Bis dahin ist der 13-Jährige ein Rabauke, wie er im Buche steht, ein Junge, der mit seinen Freunden Streiche ausheckt wie Tom Sawyer, der sich von Jules Verne und Jack London begeistern lässt und für den ein gelungener Streich eben ein echtes Jungen-Abenteuer ist. Nur dass auf diesen Streich, den sich Trap und Henry 1986 ausdenken und kurzerhand mit geklautem Schuhspray umsetzen, die Erwachsenenwelt anders reagiert, als es sich selbst der kühnste Rabauke ausdenken kann. Sie sprühen an die Schule ihre bohrende Frage, was da wirklich passiert ist in Tschernobyl – und warum darüber nicht wirklich berichtet wird im Land.

Das Mitreißende an Hüngers Erzählung ist: Er nimmt den Leser mit in die wilde, überschäumende Gedankenwelt seines Helden. Ihm gelingt es, was wenige Autoren schaffen, wieder ganz den jugendlichen Hunger auf Leben erlebbar zu machen, all die wilden Motive von Abenteuerlust, Neugier, Zorn und Frustration, die im Normalfall wohl jeder Junge durchmacht, egal, in welcher Gesellschaft, egal in welcher Zeit. Nur sorgt das in der lähmenden Atmosphäre der späten DDR dazu, dass nicht nur der Klassenlehrer von Nils völlig austickt und den aufmüpfigen Helden mit allen Mitteln zur Raison bringen will, ihm stehen auch Direktor, Kreisschulrat und Eltern zur Seite. Die Gespräche über die Vorkommnisse an der Schule werden zum Tribunal. In Reinkultur lernt Trap kennen, wie kafkaesk eine kleine lokale Hierarchie reagiert, wenn sie von einem Unangepassten herausgefordert wird.

Und das ist Traps “Problem” – das eigentlich keines ist, aber in dem Gefüge der spätstalinistischen DDR eines wurde für jeden, der sich nicht verbiegen und anpassen wollte. Ein schizophrenes Land, das seine Jugend zu Wahrheit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit erziehen wollte – und täglich genau das Gegenteil erwartete und praktizierte. Das Gefühl ist in Schwarwels neuem Video-Clip “1989. Unsere Heimat …” punktgenau getroffen. Und wer Traps Geschichte liest, erfährt, was draus wurde, wenn einer sich nicht verbiegen und brechen lassen wollte, sich selbst behaupten, wie es im Untertitel steht.

Was eine Höllentour werden konnte, wenn auch die Eltern und Lehrer nicht hinter einem standen. Mit Umgangsverbot für die besten Freunde, Abschiebung in eine noch provinziellere Dorfschule, Bewährungsauflagen und Damoklesschwert: Wenn Trap noch einmal auffällt, ist der Jugendwerkhof dran. Ein Instrument, mit dem auch der renitenteste Jugendliche gebrochen wurde, wenn er nicht bereit war, sich ins uniforme Leben einzufügen.

Nur ist Trap nicht auf den Kopf gefallen. Er durchschaut die feigen Spiele und begreift, wie die Scheinmächtigen ticken. Er spielt die Rolle, die sie von ihm erwarten – so weit er es mit sich selbst vereinbaren kann. Aber er zieht Grenzen. Und dazu gehören am Ende auch die selbstbemalte Jacke, der Iro, die schweren Arbeitsschuhe. Und er gibt Kontra, wenn ihm andere auf die Pelle rücken. Klein beigeben ist nicht sein Ding – nicht gegenüber Dorftölpeln, Möchtegernrockern oder Provinz-Nazis, die auf einmal aus allen Ritzen zu kriechen scheinen, je mehr diese heruntergewirtschaftete DDR ihre Legitimation verliert.Dabei ist der Punk augenscheinlich genau das, was zu der Wut passt, die sich in Nils und seinen Freunden aufgestaut hat. Und die sich nicht löst, so wenig, wie sich die betäubende Erstarrung der Gesellschaft ringsum zu lösen scheint. Wie denn auch, wenn selbst Erwachsene sich nur ducken, möglichst nicht anecken, um ja nicht mit der grauen Staatsmacht in Konflikt zu geraten? Doch das macht sie auch hilflos, wenn Nils und seine Freunde das Spiel nicht mehr mitspielen und ihnen vorführen, wie verlogen und hohl die Rituale längst sind. Und als hätte die Zeit nur darauf gewartet, Trap und seine Freunde in ihrer Weltsicht zu bestätigen, schwemmt der Herbst 1989 alles hinweg, was bis hierher so mächtig gewaltig und unveränderlich schien. Was folgt, ist für Trap ein kurzer Sommer der Anarchie. Und der Liebe. Und es sind beeindruckend schöne Liebesgeschichten, die Hünger erzählt – Geschichten von selbstbewussten jungen Frauen, die in Trap den Mut sehen, den andere in dieser Zeit nicht mehr haben.

Hünger lässt seine Geschichte 1991 enden, auch wenn die Rahmenerzählung in die Leipziger Gegenwart verweist. Es ist, als hätte der frühe Unfalltod eines Freundes bei Trap eine Entscheidung ausgelöst – ein bisschen ist wohl auch die kurze Begegnung mit dem Mädchen Schnuppe ein Grund für Trap, die Chance für eine neue Abzweigung in seinem Leben zu nutzen und – anders als seine Freunde – die Punk-Kluft an den Nagel zu hängen. Auch das eine Parallele zum Leben des Autors, der nach Zivildienst und Abitur sein Diplom als Sozialpädagoge machte.

Aber sein Nachwort ist – anders als erwartet – keine Abrechnung oder Schlussbilanz, sondern fast genauso mit Wut im Bauch geschrieben wie die Trap-Geschichte. Denn wer einmal den Blick dafür hat, wie Menschen sich verbiegen, verleugnen und anpassen, um irgendwie ihre Nische in der jeweiligen Gesellschaft zu finden, der schaut sich die Gegenwart genauso kritisch an wie das Land der Jugend, spürt dieselben Untertänigkeiten, dieselben Erstarrungen und Feigheiten, dieses Wegducken immer dann, wenn es wirklich drauf ankommt. Dieses entmutigende “Ich kann ja doch nichts dran ändern.”

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Wut, Spaß und Tränen
Tino Hünger, Militzke Verlag, 9,90 Euro

Dann werden Parallelen offenkundig und man ahnt, warum der nun schon etwas grauhaarige Autor noch den selben Brass verspürt wie sein jugendlicher Held: “Wir berauben uns der eigenen Lebensgrundlagen, sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen, und halten uns dabei für intelligent und fortschrittlich. Niemand ist gezwungen, jeden Müll mitzumachen. Es ist nicht wahr, dass der Einzelne nichts ändern kann. Ganz im Gegenteil: Es kommt immer auf den einzelnen Menschen an. Darauf, was er mit sich machen lässt, aber auch darauf, was er bereit ist, für die Erfüllung seiner Träume in die Waagschale zu werfen.”

Dass das alles noch kocht im Autor, hat er vorher mit aller jugendlichen Emotionalität aufgeschrieben. Auch, wie eng verwandt Rebellion und Verzweiflung meist sind. Und wie schwer es ist, sich selbst immer wieder an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Punk-Sein allein reicht nicht. Das ist nur eine Rolle. Gerade wenn man glaubt, die richtige Rolle für sich gefunden zu haben, fängt der eigentliche Weg zur Selbstbehauptung erst an.

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