Für FreikäuferDas, was uns bis heute am Dreißigjährigen Krieg so verwirrt, ist das Irrationale. Er scheint nicht zu passen. Er wirkt wie ein Rückfall in barbarische Zeiten. Und wenn wir an ihn denken, sehen wir ein Bild vor uns wie das, das der englische Verlag Penguin Books für den Umschlag des 2009 erschienenen Bestsellers von Peter H. Wilson wählte: den „Galgenbaum“ aus Jaques Callots Serie „Les Grandes Misères de la Guerre“.

Der Theiss Verlag hat das Bild übernommen, aber Wilsons Titel umgedreht. Denn die englische Ausgabe stellte die Tragödie in den Vordergrund, die dieser Krieg bedeutete: „Europe’s Tragedy. A New History of the Thirty Years War“. Das ist aus mehreren Gründen etwas anderes als „Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie“. Wobei auch der englische Titel täuscht, denn was der Militärhistoriker in seinem Buch mit „erzählerischer Wucht“ (New Statesman) ausbreitet, ist das Panorama europäischer Geschichte vom späten 16. Jahrhundert, eigentlich vom Augsburger Religionsfrieden (1555) bis in die Zeit kurz nach dem Westfälischen Frieden (1648). Also rund 100 Jahre Geschichte, die von dem, was wir Dreißigjähriger Krieg nennen, überschattet wird (so wie das frühe 20. Jahrhundert vom Zweiten Weltkrieg), so dass wir kaum noch wahrnehmen, dass dieser Krieg in Wirklichkeit nur eine nachgeholte Auseinandersetzung war (zum Ersten) und andererseits Teil eines riesigen Panoramas europäischer Kriege, die davor und parallel dazu stattfanden.

Davon erfahren Schüler in unseren Schulen nichts. Ich habe extra nachgeschaut. Das komplette 16. und auch das komplette 17.Jahrhundert sind im sächsischen Gymnasialunterricht auf 16 Stunden zusammengedampft. Da wird Luther samt Reformation genauso hastig abgehandelt wie die Entdeckung der neuen Welt, der Kolonialismus und ganz am Ende, bevor man sich gleich mal ins absolutistische 18. Jahrhundert stürzt, das „Spannungsfeld zwischen religiösem Anspruch, Machtzielen und Lebenswirklichkeit am Beispiel des Dreißigjährigen Krieges“.

Vorher mussten die Siebenklässler ihre Reflexions- und Diskursfähigkeit am Beispiel der Lutherschen „Rechtfertigungsproblematik“ beweisen.

So wird Geschichtsunterricht verkopft und abgetötet. Regelrecht sterilisiert. Und eines lernen die Kinder dabei garantiert nicht: Wie Geschichte entsteht. Und wie spannend so ein 1.000-seitiges Buch von Peter H. Wilson sein kann, der so beiläufig erzählt, dass die Herren Marx und Engels tausendmal mehr Recht hatten, über Geschichte zu reden, als die schmalspurigen Lehrplanerfinder in Sachsen.

Warum?

Bleiben wir bei Marx, den die meisten Leute, die über ihn reden, nie gelesen haben. Auch nicht begriffen.

Kernstück seiner Arbeit ist nicht irgendeine Gesellschaftstheorie – vom Paradies hat er nur geträumt. Richtig stark aber war er in der Analyse der Gesellschaft. Deswegen ist die politische Ökonomie das Kernstück seiner Arbeit. Und da lautet der Kernsatz: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“

Was – konsequent weitergedacht – eben heißt, dass die Produktionsweise der Menschen ihr politisches Sein bestimmt. Das gilt bis heute. Und das überfordert Politiker bis heute. Sie wären allesamt nur zu gern geniale Gestalter von Geschichte – aber die meisten sind nichts als Getriebene, werden zu Entscheidungen gezwungen, die sie gar nicht treffen wollen, stehen in Handlungszwängen, von denen sie völlig überfordert sind.

Was übrigens auch der Fehler der Kirchentags-Feierer war: Sie wollten ihren Luther wieder hübsch als rein religiöses Persönchen einhegen und feiern. Ihnen sind all die Folgen, die der Wittenberger Professor mit seinen Schriften außerhalb der Kirche auslöste, suspekt.

Dabei wurde schon zu Luthers Lebzeiten klar, was er damit angerichtet hatte, dass er (mit der Bibel begründet) den Fürsten der Welt ein überzeugendes Argument in die Hand gab, dem Papst jede Autorität in Religionsfragen abzusprechen und in ihrem Land selbst zu bestimmen, wie die kirchlichen Riten aussehen dürfen. Damit hat Luther die Existenzgrundlagen des Heiligen Römischen Reiches ausgehebelt, das auf der Einheit von Reich und Kirche aufgebaut war. Es war ein besonderes Konstrukt. Keine Frage. Und wer mit Wilson genau hinschaut, merkt, dass dieses Heilige Römische Reich erstaunlich der heutigen EU ähnelte: ein mehr oder weniger souveräner Staatenbund, der sich eine gemeinsame Konstitution gab, indem die regierenden Fürsten aus ihrer Mitte einen Kaiser wählten, der nach außen hin das gesamte Reich repräsentierte, nach innen hin aber auch verpflichtet war, die Einheit dieser Union zu wahren.

Deswegen griff der Kaiser ein, als Luther seine Thesen verkündete. Deswegen mündete die Reformation zwangsläufig in den Schmalkaldischen Krieg, der faktisch in einem Waffenstillstand endete, der 1555 in Augsburg mit dem Reichs- und Religionsfrieden festgestellt wurde. Historiker interpretieren das als die Herstellung von erstaunlich langen 63 Jahren Frieden im Reich.

Was nicht ganz stimmt, wie Wilson feststellt. Denn der Augsburger Frieden war nur ein Kompromiss. Er stellte nur das Recht der Fürsten fest, in ihrem Land die Art der Religion zu bestimmen. Die Bürger selbst mussten sich anpassen oder durften auswandern. Emigrieren. Was nicht rechtlich gefasst war, war: Was passiert, wenn die Bürger in ganzen Landstrichen trotzdem die Religion wechseln? Oder schon gewechselt haben, wie die Böhmen im Machtbereich der Habsburger?

Es waren die Habsburger, die diesen labilen Friedenszustand aus dem Gleichgewicht brachten, als sie begannen, ihr eigenes Kernland zu rekatholisieren. Von wegen „Rechtfertigungslehre“. Damit brauchte kein Bürger den habsburgischen Erzherzögen kommen. Die galt nur für souveräne Fürsten. Auch wenn sie natürlich mit dem Wormser Lutherspruch „Hier stehe ich …“ auch Folgen für Philosophie, Wissenschaft, Wirtschaft, bürgerliches Selbstbewusstsein gewann. Keine Frage. In diesem Gewissenskonflikt steckte die ganze kommende Gesellschaft. Der Augsburger Religionsfrieden verdeckte das nur. Und als die Habsburger begannen, ihn so zu interpretieren, dass sie in ihrem eigenen Stammland berechtigt wären, wieder eine einheitliche Religion zu schaffen, kam es zum blutigen Konflikt. Schon weit vor 1618. Aber der Prager Fenstersturz, als die böhmischen Stände die kaiserlichen Statthalter aus dem Fenster warfen, brachte das Fass zum Überlaufen.

Oder etwas anders ausgedrückt: Damit sprang der Funke ins Reich über. Denn vorher gab es schon eine Kette kriegerischer Ereignisse in den Habsburgerlanden, die allesamt schon die Phänomene des modernen Krieges zeigten, die man später für so typisch für den Dreißigjährigen Krieg hielt. Vom Morden der Soldateska über die verwüsteten Landschaften, die ausgelöschten Dörfer bis hin zu den Seuchen, die die geworbenen Söldnerheere genauso dezimierten wie die lokale Bevölkerung.

In diesem so gern als Religionskrieg interpretierten Kräftemessen zeichnet sich längst der moderne Ermüdungs- und Tonnagekrieg ab, in dem es nicht mehr um Titel, Ehre und Erbansprüche ging, sondern um Bodenschätze, Absatzmärkte, Wirtschaftsräume. Was einem schlicht nicht einfällt, wenn man die ganzen religiösen Klagelieder der Zeit liest. Haben die Menschen nicht gemerkt, was da passierte?

Da machen wir gleich weiter an dieser Stelle.

Peter Wilson Der Dreißigjährige Krieg, Theiss Verlag, WBG, Darmstadt 2017, 49,95 Euro.

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