Es sind Schätze, die manchmal auf dem Dachboden stehen, in Onkels alten Tagebüchern stecken oder in den 15 Bänden, in denen der 1882 geborene Leipziger Volksschullehrer Felix Baumann sein Leben beschreibt. Und viel zu selten kommen sie an die Öffentlichkeit und ergänzen die übliche, generelle Geschichtsschreibung durch das persönlich Erlebte. Denn Geschichte erlebt jeder anders, gerade wenn er mittendrin steckt.

Und trotzdem gibt es Parallelen. Was auch bei Felix Baumann sichtbar wird, der seine Kriegsreisen mit offenem Sinn und wachen Augen beschreibt. Er hat Glück gehabt: Er wird erst spät eingezogen und gilt nur als kasernenverwendungsfähig. Was ihn zwar in die Nähe der Front bringt, aber nicht in den Schützengraben. Als Assistent des Regimentskassenwarts erlebt er das Leben hinter der Front – erst in Frankreich, wo er zum ersten Mal kriegszerstörte Landschaften sieht, dann in Belgien. Dann bringt der Zug das Regiment nach Rumänien. Und detailliert schildert Baumann, wie selbst in der Etappe das Ringen um einigermaßen zumutbare Unterkünfte und überhaupt etwas zu Essen stattfindet.

Er kann auf seine eigenen Briefe zurückgreifen, die er an seine Frau Martha schrieb – alle voller Bilder; sehr plastisch schildert er die Orte, an denen er landet, aber auch die Fahrten – nicht nur mit dem Zug. Denn spätestens wenn er am Ende in der Ukraine landet, werden die Transportmittel immer rustikaler, auch wenn die Verpflegung immer besser wird. Denn hier gibt es – wenn auch zu horrenden Preisen – noch alles, was Felder und Plantagen hergeben, während Deutschland schon seit Jahren hungert. Hunderte Päckchen mit Essbarem verpackt er im Lauf der Zeit und schickt sie nach Hause.

Natürlich mischt sich auch Persönlichstes in seine Erinnerungen. Erst so wird ja das Leben des Mannes aus ärmlichsten Verhältnissen fassbar, für den der Weg zum Volksschullehrer schon ein richtiger gesellschaftlicher Aufstieg war. Und er muss gern Lehrer gewesen sein und fühlte sich schon 1904 ziemlich fremd in der Soldatenuniform, als er zum einjährigen Unfreiwilligen-Jahr – zusammen mit vielen anderen Volksschullehrerkollegen – eingezogen wurde. Er erlebt noch die alte Wache am Leipziger Naschmarkt, die wenig später dem „Handelshof“ wich. Und auch der brutale Unteroffizier, der die Rekruten schikanierte, blieb ihm nicht erspart.

Ist er eigentlich ein Pazifist?

Im Herzen wohl. Die Töne werden später deutlicher, spätestens 1917, als er den Verantwortlichen vorwirft, den Frieden einfach nicht zu wollen, obwohl er möglich ist. Das ist noch vor dem von der neuen Sowjetregierung vorgelegten Frieden von Brest-Litowsk, der die deutschen Heerführer ganz und gar nicht dazu bringt, ihren „Drang nach Osten“ zu beenden. Was auch mit der letzten Etappe seiner Kriegserlebnisse zu tun hat, die Baumann schildert: der Ukraine, die schon im Geschichtsunterricht als die „Kornkammer Russlands“ legendär wurde und jetzt in der Überlebensstrategie der deutsche Heeresleitung eine zentrale Rolle spielt.

Genauso, wie vorher Rumänien eine wichtige Rolle spielte, denn den Zugriff auf die rumänischen Erdölquellen brauchten die Strategen unbedingt, sonst wäre die halbe Kriegsmaschinerie nicht mehr funktionsfähig gewesen. So tauchen fast beiläufig dieselben Motivationen auf, die später auch Hitlers Kriegspläne bestimmten. Hinter den großen Parolen steckte immer die ganze Kriegsökonomie.

Vielleicht hat wirklich kein Land so früh den Krieg als ökonomische Schlacht betrieben wie Deutschland. Und Baumann scheint alle Informationen dazu aufmerksam wahrgenommen zu haben. Was garantiert nicht so einfach war, denn oft genug landet er – mit Sack und Pack – tage- und wochenlang in Situationen, in denen gar nichts weitergeht, kein Transportgerät zur Verfügung steht, die Fliegen in Scharen über die Menschen herfallen und er einfach froh ist, wenn die Unterkunft einigermaßen zumutbar ist.

Dass er dabei immer auch Land und Leute schildert, zeigt ihn einerseits als weltoffenen Reisenden. Es zeigt aber auch, wie sehr einen die heimische Erziehung prägt, wie selbstverständlich man alte Vorurteile mitschleppt, weil sie im heimischen Bildungsplan gerade den Stand der Zeit bilden. Trotzdem war ja schon einiges in Bewegung, auch bei diesem Thema. Baumann weiß um die Verzerrung durch diese Vorurteile und bemüht sich sehr emsig darum, daraus keine Herabschätzung werden zu lassen, sondern sich den Menschen, denen er begegnet, auf Augenhöhe zu zeigen, auch wenn ihn das Exotische und Pittoreske immer wieder zu großen philosophischen Ausflügen animiert, wie man sie auch von den Abenteuerschriftstellern dieser Zeit kennt.

Was aber auch wieder sehr farbenreich zeigt, wie stark die Kulturunterschiede im damaligen Europa tatsächlich noch waren. Mitten im ländlichen Rumänien fühlt sich Baumann an Cunnersdorf daheim erinnert – und ist sich dennoch der riesigen Entfernung zu den Liebsten daheim bewusst. Der 1. Weltkrieg stand ja tatsächlich erst am Beginn unserer Wahrnehmung von Entfernung. Erst danach wurde das „Schrumpfen der Welt“ auch für einfache Menschen erlebbar.

Und selbst mit dem Kriegsende hat Baumann Glück – denn das erlebt er bei seinem letzten Heimaturlaub. Die Zeichen, dass sich etwas änderte am Horizont, hatte er schon vorher wahrgenommen – in Rumänien schon, als die Rumänen aus dem Krieg ausstiegen. Und dann ab Oktober 1918, als die ersten Nachrichten auch bis in die Ukraine durchsickerten, dass Deutschland bereit war, die Friedensbedingungen des amerikanischen Präsidenten anzunehmen.

Bulgarien war ausgestiegen, die Österreicher konnten nicht mehr, die Türken wollten nicht mehr und „im Westen verblutete das tapferste Heer der Welt im Abwehrkampfe gegen einen Feind, dessen ungeheure Überlegenheit an Menschen und Kriegsmaschinen jeden Tag zunahm“. Da sah der kleine Soldat die Sache augenscheinlich nüchterner als die Heeresführung. Und auch illusionsloser als die politischen Akteure, die ja bekanntlich immer ratloser wurden. Und auch Baumann empfand es so, dass „der Ablauf der Ereignisse (…) ein ungewöhnliches Tempo angenommen“ hatte. Den 9. November erlebt er in Leipzig.

Und er beschreibt das Grundgefühl der „Massen“ – also doch wohl all der Menschen, mit denen er zu tun hatte: „Der Krieg ist unwiderruflich zu Ende, da muß es wieder besser werden – da müssen die Soldaten wieder heimkommen, da muß es wieder Brot geben und Arbeit und langen Frieden. An der Zwangsläufigkeit einer solchen Wendung zum Guten, so war man überzeugt, konnte letzten Endes keine Regierung etwas ändern, mochte sie nun radikal oder gemäßigt sein.“

Er war nicht der Einzige, der von den folgenden Ereignissen bitter enttäuscht wurde. Auch das so ein psychologischer Moment, der in Geschichtsschreibungen so selten auftaucht. Man sieht die großen „Helden“, aber man sieht nicht, wie sehr die gar nicht ruhmsüchtigen Menschen „ganz unten“ sich einfach danach sehnen, dass ihr Leben wieder funktioniert. Und man sieht es ja nicht nur bei Baumann, wie sich die einfachen Soldaten versuchten, so menschlich wie möglich einzurichten, egal, wie fremd die Orte waren, an denen sie landeten.

Baumann ist am Ende herzlich froh, endlich wieder in den Schuldienst zurückzukommen, auch wenn Leipzig auch noch unter Kohlenmangel leidet und die Kinder in einigen beheizten Schulen zusammengepfercht und „in Schichten“ unterrichtet werden.

Seine Erinnerungen überlebten auch, weil er seinen Kindern und Neffen immer wieder davon erzählte. 1959 ist er gestorben, da war er sogar noch Direktor einer Leipziger Schule geworden. Und sein Neffe Udo Wellhausen hat sich nur zu gern an die Erzählungen seines Großonkels erinnert. Für dieses Buch hat er aus den Aufzeichnungen des Onkels die Armeeerinnerungen transkribiert und zusammengestellt, auch die von 1904, sodass man mit Felix Baumann direkt hineintauchen kann in sein Denken und Erleben. Vieles ist vertraut, manches aber zeigt doch, wie sich auch unsere Sicht auf die Welt verändert hat seitdem.

 

Felix Baumann „Erster Weltkrieg. Erlebtes hinter der Front“, Pro Leipzig, Leipzig 2018

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