Das erste Buch von Martin Gumpert – seinen „Samuel Hahnemann“ aus dem Südverlag – haben wir an dieser Stelle nicht nur wegen Hahnemanns Zeit in Leipzig besprochen, sondern weil Gumpert auch zu den ersten Autoren des legendären Kurt Wolff Verlages gehörte, wo zwei Gedichtbände von Martin Gumpert erschienen, der zeitweilig viel zu sehr vergessen war. Auch dieses Buch beweist es.

Den Untertitel „Erinnerungen an die Welt von gestern“ hat ihm zwar irgendwie der Verlag verpasst. Als Gumperts Buch 1939 im Bermann-Fischer Verlag in Stockholm erschien, lautete der Untertitel noch „Selbstdarstellung eines Arztes“. Aber der neue Titel rückt dieses Buch natürlich zu Recht in die Nachbarschaft des berühmteren „Die Welt von gestern“ von Stefan Zweig, das 1942 ebenfalls bei Bermann-Fischer erschien. Während sich Zweig 1942 im brasilianischen Exil das Leben nahm, biss sich der Arzt Martin Gumpert in New York durch, schuf sich eine neue Existenz als Arzt. Und ließ das Schreiben trotzdem nicht.

Vielleicht kam ihm zugute, dass er eine ganze Generation jünger war als der Österreicher Zweig und das alte Kaiserreich nur als Kind und Jugendlicher erlebte. Und dass er früh schon in Kontakt kam mit dem Expressionismus, der ihn zum Dichter machte. Und gleichzeitig mit den unruhigsten Köpfen seiner Zeit.

Er streut die Namen so hin, als wäre das normal, dass man als junger Mensch mit den ganzen Berühmtheiten des Expressionismus zusammensitzt und Zeitschriften herausgibt. Aber für ihn war es normal. Denn als er sich hinsetzte und seine Erinnerungen aufschrieb, waren etliche von diesen jungen Leuten längst tot, die meisten gleich im ersten Kriegsjahr 1914 hingemäht.

Und die meisten anderen waren – wie Gumpert – 1938 irgendwo auf einem der fünf Kontinente im Exil. Und 1939, als das Buch erschien, war noch lange nicht abzusehen, ob alle diese Erinnerungen jemals noch einen Sinn haben würden, ob hier eben nicht nur ein ganzes Zeitalter (Stefan Zweig) untergegangen war mit den klügsten Köpfen der Jugend. Oder ob nicht sogar eine ganze Kultur für immer verschwinden würde.

Und an dieser Stelle wird dieses Buch, das der Südverlag gern auch schon gleich nach dem Weltkrieg übernommen hätte, hochaktuell. Denn genau wie Stefan Zweig oder wie Thomas Mann (mit dem er befreundet war), sah sich Gumpert nicht als Vertreter einer wie auch immer definierten „deutschen Kultur“, sondern einer europäischen. Und er war überzeugter Pazifist, leugnete seine Abscheu weder vor dem Krieg noch nach seinem Notabitur, nach dem er dann 1916 eingezogen wurde.

Und weil er die ärztliche Laufbahn einschlagen wollte, meldete er sich zur Sanitätsausbildung – und landete in der Türkei, in einer Zeit, als dort schon längst sichtbar wurde, dass die Frontmeldungen des Generalstabs nur noch Fake News waren und mit der Realität an den Fronten nichts mehr zu tun hatten.

Und in der Rückschau war ihm auch klar, was alles schon im Krieg und erst recht danach falsch gemacht wurde. Während selbst heute noch diverse Edelfedern immer wieder gern behaupten, die Deutschen würden keine Revolutionen zustande bekommen, war Gumpert ja direkter Augenzeuge einer erfolgreichen Revolution, die er ebenfalls als eine friedliche beschreibt.

Blutig wird es in Deutschland immer erst hinterher, wenn ein paar Erzkonservative das Rad mit blutiger Gewalt wieder zurückdrehen wollen – was ja die Weimarer Republik von Anfang an überschattete. Und was den Nährboden bot für das Aufkommen der Nazis mit ihrem randalierenden Rassenhass. Zu Recht fragt Gumpert, wo eigentlich Adolf Hitler in diesem Revolutionsfrühling 1919 gewesen war. Heute wissen wir es. Die Historiker waren emsig, das herauszufinden („Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde“).

In einem randalierenden Arbeitslosen, den er Ende der 1920er Jahre auf der Straße sieht, sieht Gumpert auch das Randalieren Hitlers, das psychologische Moment, das so tragfähig war nach all den Jahren der Krise, in der Millionen Menschen das Gefühl hatten, nicht mehr wahrgenommen zu werden. Oder nicht ernst genommen von einer machtlos gewordenen Politik, die Gumpert ebenfalls erstaunlich bildhaft erklärt, wenn er den einstigen Reichskanzler Brüning in New York vor einem staunenden Publikum erzählen lässt, wie die Republik unter der Präsidentschaft des greisen Hindenburgs zum Spielball von Hinterzimmermachenschaften wurde.

Auch am legendären Ullstein Verlag (für den er als Autor tätig war) kann er schildern, wie die Republik scheitern musste, weil ausgerechnet die Republikaner nicht bereit waren, für sie zu kämpfen und damit tatsächlich den Radikalen das Feld überließen.

„Wir hatten keine Ahnung von den Geschäften der Bankdirektoren, die sich in ihrer unbegreiflichen Dummheit ihrer Provisionen freuten, von den Intrigen um die zusammenbrechende Ruine Hindenburg, der Deutschland erfolgreich zu regieren schien. Es hatte fast den Anschein, als ob die alten Zeiten wiederkämen, nur verbessert und verbreitert durch die Aktivität der neuen Bürgerschicht, die einen kosmopolitischen Anstrich hatte und Anleihen wie Anregungen kultureller Art gierig und freudig von überallher aufsaugte.“

Aber nicht die Kosmopoliten bestimmten am Ende das Schicksal der Weimarer Republik. Und das konnte Gumpert als praktizierender Arzt schon 1930 in seiner eigenen Praxis erleben. Das war die Zeit, als er in der „Edenbar“ mit Freunden wie Leonhard Frank und Erich Maria Remarque beisammensaß.

„Ich erinnere mich, wie ich verwundert und verwirrt aus einer Ärzteversammlung kam, in der zum ersten Mal von Achteljuden und Vierteljuden die Rede war. Wir lachten herzlich darüber.“

Aber das Lachen blieb ihm bald im Hals stecken, denn diese Niedertracht erfasste – auch von den radikalisierten Medien angefacht – das ganze Land. „Diese Niedertracht bemächtigte sich Deutschlands. Das Schicksal des Landes war bereits 1930 besiegelt. Die zehn Plagen pochten an die Tür.“

Es ist ein sehr aufmerksamer, sehr analytischer Bericht eines Mannes, der dabei war und – als Arzt – beobachten konnte, wie seine Patienten selbst anfingen zu heucheln und sich der um sich greifenden Niedertracht anzupassen. „,Arische‘ Freunde kamen, um sich zu entschuldigen, und die Nazipatienten, die noch die Sprechstunde füllten, versicherten, der Führer wisse nichts davon, und das seien Exzesse, die aufhören würden.“

Bekanntlich hörten sie nicht auf. Erst bekam Gumpert als Arzt Berufsverbot, dann auch als Schriftsteller. Seine letzten Bücher in Deutschland waren – wie der „Hahnemann“ – natürlich auch in die Historie verlegte Kommentare zur Gegenwart.

Gumpert hatte Glück: Er schaffte es, in die USA auszuwandern und dort noch einmal neu zu beginnen. Die letzten Kapitel im Buch sind ein regelrechtes Hohelied auf die Stadt New York. Es gibt auch noch einen Folgeband, den er wenig später schrieb und der die Härten seiner ersten Jahre in den USA beschreibt. Davon erzählt Manfred Bosch im Nachwort, in dem er auch kurz auf Gumperts Rolle als „Vater der Geriatrie“ in den USA eingeht.

1955 starb Gumpert, ähnlich früh wie sein Vater, dessen Tod Martin Gumpert genauso eindrucksvoll und mitfühlend beschreibt wie den ebenfalls frühen Tod seiner ersten Geliebten und später seiner Frau. Man ahnt, warum der „Hahnemann“ stellenweise in so dunklen, aber mitfühlenden Tönen geschrieben ist.

Aber anders als Stefan Zweig nimmt Gumpert nicht voller Trauer Abschied von einer untergehenden Welt. Vielleicht spielen dabei einfach auch die USA als neuer Lebensort eine wichtige Rolle, ein Land, das 1938 auf jeden Fall als ein Ort empfunden werden konnte, an dem europäische Vorstellungen von Freiheit, Kultur und Selbstbestimmung lebbar waren. Der große Krieg mit seinen Zerstörungen und den Massenmorden an den Juden hatte noch nicht begonnen. Der „Vogelschiss“ hatte noch nicht alles gezeigt, was er an Menschenverachtung und Gnadenlosigkeit in petto hatte.

Deshalb sind die Entwicklungen sichtbarer, die Adolf Hitler und seinen Aufstieg erst ermöglichten. Und die Zerstörung einer Kultur, die sich gegen Niedertracht in allen Formen nicht zu wehren wusste. Genau der Niedertracht, die sich heute wieder als Opferschaf geriert, immer nach dem Motto „Das muss man doch mal sagen dürfen“. Und dass diese Niedertracht den Diskurs schon verschärft und rabiat gemacht hat, ist ja unübersehbar.

Dass der Südverlag das Buch jetzt mit Genehmigung vom Fischer Verlag übernommen hat, ist auch wie ein kluger, nachdenklicher Kommentar zu einer Gegenwart, die sich ganz ähnlich wie vor 90 Jahren von Kräften treiben lässt, die eine offene, kosmopolitische Welt aus ganzem Herzen verachten. Und damit ein weiteres Mal drohen, Europa mit seiner reichen Kultur „Gemeinheit, Verrat, Betrug, Undank, Habgier, Untreue“ zu opfern.

Aber Gumpert verzichtet auf die Ausrufezeichen. In aller Ruhe analysiert er, was geschah und wie er die Veränderung bei den Menschen in seinem Umfeld erlebte. Und die Welt, die er so entstehen sah, war eine graue und triste Welt. „Nur wurde das Leben von Tag zu Tag öder, widerwärtiger und fragwürdiger.“

Und dann kommt – kurz vor der geschilderten Überfahrt – jene Stelle, die sich doch so mancher an den Spiegel pinnen sollte, wenn ihn mal wieder die Vorstellung packt, ein „starker Führer“ könnte die Sache wieder besser machen.

Denn was dabei herauskommt, sieht jedes Mal so aus: „Niemand, der dieses Training der Angst, der dauernden Spannung, der alles erfüllenden Würdelosigkeit nicht am eigenen Leibe erfahren hat, kann sich davon eine Vorstellung machen. Die Erstickung der Lust, der Blick unters Bett, die Abhängigkeit von jedem Fensterputzer, das Bewußtsein der völligen Rechtlosigkeit, dies alles, zielbewußt aufgebaut und organisiert in einem technisch beispiellosen System der Knechtschaft, erklärt die Lethargie, mit der ein großes und zivilisiertes Volk das Unwahrscheinlichste erträgt und hinnimmt.“

Martin Gumpert Hölle im Paradies, Südverlag, Konstanz 2018, 20 Euro.

Kleiner Filmtipp (derzeit in der arte-Mediathek): „Vor der Morgenröte“ – Stefan Zweigs Leben im Exil

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