Aleksandra Majzlic lebt in München. Die DDR lernte sie als junges Mädchen praktisch nur bei Familienbesuchen in Sachsen kennen. Aber vor zehn Jahren ließ sie das Thema nicht mehr los. Sie wollte jenen Menschen im Osten ein Buch widmen, die unter dem SED-Regime gelitten haben. Meist sind es ja ostdeutsche Autorinnen und Autoren, die sich des Themas annehmen. Da ahnte Aleksandra Majzlic wohl noch nicht, dass das kein schnell gemachtes Buch wird.

Denn wenn es fundiert werden sollte, musste sie sich nicht nur in all die sonderbaren Bedingungen in der DDR einarbeiten, die den älteren Ostdeutschen zwar alle noch präsent sind. Aber schon die heute 30-Jährigen können mit all dem fast nichts mehr anfangen. Bücher zur DDR kommen ohne ein erklärendes Glossar gar nicht mehr aus. Auch dieses hat ein sehr ausführliches – von „Blockparteien“ bis „Zuführungen“.

In den 14 Porträts wird an den entsprechenden Stellen immer wieder auf das Glossar verwiesen. Entstanden sind die meisten Porträts nach persönlichen Begegnungen und Interviews der freien Journalistin mit den von ihr Porträtierten. Darunter sind ganz zentrale Figuren des Widerstands gegen das SED-Regime wie Wolf Biermann, die viel zu früh verstorbene Bärbel Bohley oder die letzte und einzige Ausländerbeauftragte der DDR-Regierung, Almuth Berger.

Aber Majzlic wollte nicht nur die bekannten Protagonisten von Widerstand und friedlicher Revolution ins Bild rücken, sondern auch einige der vielen kaum Bekannten, die nie im Rampenlicht standen, von den Handlangern des Regimes aber genauso brutal behandelt wurden. Und das waren nicht nur die MfS-Offiziere, die im Buch auch thematisiert werden, sondern auch Schuldirektoren, Gefängniswärter, Leiter von Erziehungsheimen und Jugendwerkhöfen …

Das Erschütternde an dem Buch ist eigentlich, dass es im Gespräch mit lebendigen Menschen eintaucht in eine Welt, die selbst für die meisten DDR-Bewohner kaum sichtbar war, auch wenn sie wussten, wie leicht man zum Beobachtungsobjekt der Stasi werden konnte und wie wenig aufrührerischer Geist genügte, um von den Herren in Grau abgeholt und in den Mühlen der gesteuerten Justiz zermahlen zu werden.

Gerade das Thema Geschlossener Jugendwerkhof macht das ganze ruinöse Weltbild der Allmächtigen im Osten sichtbar, die selbst die Einweisung von Minderjährigen in solche brutalen Anstalten noch mit einem Erziehungsauftrag bemäntelten. Hier sollten sie zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ (um-)erzogen werden, erlebten aber nichts als Schikane und Gewalt. Und die meisten dieser Menschen leiden bis heute unter den Folgen dieses systematischen Versuchs, ihre Persönlichkeit zu brechen.

Im Buch thematisiert das Corinna Thalheim, während Monika Lembke erzählt, wie sich Ausreisewillige Anfang der 1980er Jahre als „Weißer Kreis“ organisierten. Katrin Behr erzählt von den Zwangsadoptionen in der DDR, mit denen der Staat Eltern aus den fadenscheinigsten Gründen ihre Kinder entzog, und Gilbert Furian davon, wie ihn ein Text über DDR-Punks zum Opfer der Stasi machte. Aber Furian erzählt auch davon, wie er seine einstigen Stasi-Vernehmer nach dem Mauerfall selbst zum Interview bat.

Die meisten der hier Porträtierten haben sich den Traumata ihrer Geschichte gestellt, einige arbeiten heute in diversen Gedenkstätten, in denen das DDR-Unrecht thematisiert wird, erzählen den Besuchern dort von ihren eigenen Erfahrungen. Immer wieder begegnen sie dabei auch den einstigen Tätern, von denen aber die wenigstens bereit waren, sich dem Gespräch oder gar dem eigenen Schuldiggewordensein zu stellen.

Was Aleksandra Majzlic aber besonders interessierte war die Frage, was Menschen den Mut gab zu widerstehen, sich den Zumutungen eines vormundschaftlichen Systems zu entziehen. Denn zum Helden geboren waren sie alle nicht. Auch nicht Georg Wrazidlo, der sich der Ideologisierung der Berliner Universität durch die SED widersetzte und dafür mehrere Jahre ins Zuchthaus kam. Oder Günther Wetzel, dem mit seiner Familie die Flucht im Ballon über die Grenze gelang. Denn es war immer noch ein Unterschied, ob man die Verhältnisse im überwachten Staat nicht mehr aushielt und versuchte, irgendwie daraus zu entfliehen, oder ob man sich – wie Kai Feller (im berühmten Fall Carl-von-Ossietzky-Schule), Bärbel Bohley oder Hans-Joachim Döring (einem der Initiatoren der Leipziger Montagsgebete) – bewusst dafür entschied, Sand im Getriebe sein zu wollen und alles zu tun, damit sich das Land veränderte, menschlicher wurde, die Versprechen der Schlussakte von Helsinki tatsächlich umsetzte.

Gerade Bärbel Bohley sprach das noch einmal deutlich an, dass die Bürgerrechtsbewegung ganz und gar nicht zum Ziel hatte, schnellstmöglich die Deutsche Einheit herzustellen, sondern erst einmal die DDR gründlich zu reformieren.

Und je länger man darüber nachdenkt, umso deutlicher wird es, was für ein Bruch der 9. November war, der der Friedlichen Revolution in der DDR eine völlig andere Richtung gab. Die schnelle Einheit ist auch einer der Gründe dafür, warum sich die Politik auch nach 1990 so unendlich schwer damit tat, die Abgründe der SED-Diktatur aufzuarbeiten. Das Volksbildungssystem von Margot Honecker wird angesprochen, das 1990 ziemlich stillschweigend abserviert wurde, aber auch die in der DDR nie aufgearbeitete NS-Vergangenheit mitsamt dem Ausländerhass, der schon kurz nach der Einheit in vielen Orten der DDR gewalttätig aufbrach.

Und dennoch ermutigen diese Porträts, weil sie zeigen, dass man gar kein Held sein musste, um sich zu wehren. Aber deshalb ist auch das einfühlsame Vorwort von Katrin Sass wichtig, die als junge Schauspielerin in Leipzig erlebte, wie schnell man den Unmut der Funktionäre auf sich zog, auch wenn Katrin Sass für sich selbst beklagt, nicht selbst auch so mutig gewesen zu sein wie die Porträtierten. Aber dafür kann sie noch anschaulicher erzählen, was für eine Befreiung der erste Akt der Selbstermutigung war, als auch die Schauspieler in Leipzig auf den Gehorsam pfiffen und zur Demonstration auf die Straße gingen.

Und so steht auch der Buchtitel nicht umsonst auf dem Umschlag. Denn mit diesem „Mut zum Protest“ spricht Aleksandra Majzlic eine zentrale Erfahrung an, die in der Erinnerung an die DDR oft viel zu kurz kommt. Und die auch in der Demokratie dringend gebraucht wird. Denn wenn es keine Menschen gibt, die mit ihrer eigenen Person einstehen für Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung, geraten auch Demokratien in Gefahr, in Bevormundung, Überwachung und selbstgerechte Machtpolitik abzugleiten.

Ohne mutige Menschen keine Demokratie. Und ohne mutige Menschen auch keine Friedliche Revolution. Und dabei sind auch diese 14 Porträts nur eine kleine Auswahl. Vielleicht sogar zu klein, wenn man bedenkt, dass viele der vor 1989 so Engagierten längst hochbetagt sind, einige – und nicht wirklich wenige – auch schon verstorben. Die 14 Porträts lassen zumindest ahnen, in welcher Themenbreite sich mutige Menschen engagierten, Wege suchten, dem beklemmenden System wenigstens etwas Menschlichkeit entgegenzusetzen.

Einige dann auch im Mai 1989 bei den legendären Kommunalwahlen, deren Fälschung wenig später von mutigen Wahlbeobachtern öffentlich gemacht wurde, was wohl der Beginn all dessen war, was sich im Lauf des Jahres 1989 immer mehr zusammenbraute, weil gerade diese Wahlfälschung gezeigt hatte, wie wenig Vertrauen die SED-Führung noch genoss bei ihren Bürgern.

Solche Umwälzungen beginnen immer nur mit einer kleinen Gruppe Mutiger, die sich zusammenfinden und sich bestärken. Doch genau diese Beispiele sorgen für die Ermutigung anderer, die sich vorher nicht getraut haben. Im Grunde erzählt Majzlics Buch, wie wichtig diese scheinbar so wenigen Mutigen sind. Ohne sie gibt es keine Veränderungen. So betrachtet – ein sehr gegenwärtiges Buch, auch wenn Aleksandra Majzlic am Ende fast zehn Jahre brauchte, um ihr Wunsch-Buch endlich fertigzukriegen. Aber manchmal braucht man eben diese Geduld und vor allem Gesprächspartner, die sich dem Thema stellen. Und sich vor allem auch durch das eigene erfahrene Leid nicht haben entmutigen lassen.

Aleksandra Majzlic Mut zum Protest, zu Klampen Verlag, Springe 2019, 16 Euro.

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