Er schreibt über das Leben. Das, was richtigen Menschen im richtigen Leben passiert, über Tragödien, Lebensdramen, all die Geschichten, die manchmal für ein paar Tage die Schlagzeilen der Republik beherrschen. Und die, wenn man sie liest, zutiefst erschüttern, weil sie den Schleier wegziehen, den wir in unserer Schönwetterwelt über all das gebreitet haben, was nicht funktioniert in unserem Land. Dabei könnte sich Bruno Schrep, 74 Jahre, eigentlich zur Ruhe setzen. Aber wie kann man das, wenn man sich immer noch sorgt um diese Menschen?

Also veröffentlicht er seit 1996 unermüdlich seine Reportagen im „Spiegel“. Und immer wieder sammelt er die wichtigsten dann in Büchern, so wie in „Alle meine Rosen sind blau“ (2001), „Jenseits der Norm“ (2004) und „Vor unser aller Augen“ (2013). 17 solcher Geschichten hat er nun in diesem neuen Band gesammelt, Geschichten, die mehr über unsere Gesellschaft erzählen als all die ewigen (und ziellosen) politischen Debatten, nach denen sich in der Regel nichts ändert.

Was auch an uns liegt, an all den vielen Gleichgültigen, die sich zwar mit tiefer Betroffenheit all die Geschichten anschauen im Fernsehen oder in den Zeitungen oder (zunehmend) in den Tratschkanälen des Internets, die so gern als „Schicksalsschläge“ verkauft werden, als gäbe es da über uns eine anonyme Macht, die ganz wahllos und zufällig Menschen aus ihrem normalen Leben reißt.

Was sind wir doch für Abergläubische und leicht Betrügbare, die sich einreden lassen, es gäbe ein blind waltendes Schicksal und es seien nicht in Wirklichkeit Gleichgültigkeit, Rücksichtlosigkeit, Vernachlässigung und Ausgrenzung, die für viele Menschen in unserer Gesellschaft „Schicksalsschläge“ zu einem Normalzustand im Leben machen. Sie können sich meist nicht wehren, weil sie von den Brotsamen, die ihnen von knausernden Politikern gewährt werden, nicht leben können.

Sie landen in Wohnvierteln, in denen sich die Trostlosigkeit, die Hoffnungslosigkeit und die Aggressionen ballen. Denn Menschen halten ein Leben ohne Ausweg und Alternative nicht aus. Viele von Schreps Geschichten handeln in solchen Milieus, wo Menschen, die eigentlich Opfer sind, zu Tätern werden. Sie handeln von Behörden, die auch nach flehentlichsten Bitten von Angehörigen nicht reagieren, weil man sich lieber hinter Paragraphen verschanzt.

Sie handeln von obdachlosen Menschen, die in Deutschland ihre große Chance sahen und dennoch auf der Straße sterben, weil Chancen in Deutschland nur wahlweise verteilt werden. Sie handeln von Eltern, die ihren Kinderwunsch mit künstlicher Befruchtung erfüllen wollen – und erst spät merken, dass ihr Wunschkind doch nicht von ihnen ist. Von Pflegerinnen, die in ihrem Wahlberuf eigentlich Erfüllung finden, aber aufgrund von Personalnot und Überstunden völlig überlastet sind und sich an ihren Pfleglingen vergreifen.

Schrep hat keine Scheu davor, diese Rückseite unserer Gesellschaft zu besuchen, die eigentlich die richtige Gesellschaft ist, die, wo man sich mit erbärmlich bezahlten Jobs durchschlägt, von Polizei und Gerichten selten ernst genommen wird, mit seiner Not und seinen Gefühlen allein bleibt – und mit der Aggression, die dort schon lange gärt, die wir anderen in unseren Wohlstandsmilieus nur zu gern ignorieren, lieber dummes Zeug über „Ausländer“ schwatzen, wohl wissend, dass es eigentlich dieser Abgrund ist, der die Stimmung in unserem Land tatsächlich anheizt.

Denn da unten möchte keiner landen, obwohl wir alle wissen: Ohne die Menschen da unten würde uns der ganze Laden um die Ohren fliegen. Etwa ohne die tausenden von Pflegekräften aus Osteuropa, die in Deutschland ein kaputtgespartes Pflegesystem retten und vielen alten Menschen wenigstens noch ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung ermöglichen.

Ohne die Kindererzieherinnen, die unter fast überall überlastenden Umständen unsere Kinder betreuen, während wir versuchen, in stressigen Jobs das Haushaltsgeld zu verdienen. Legendär die Geschichte von der katholischen Kita, über die ein Riesengebrüll völlig enthemmter Medien brandete, nachdem eine Mutter ihrer Phantasie über mögliche sexuelle Misshandlungen in der Kita freien Lauf ließ.

Eine Geschichte, die auch deshalb völlig aus dem Ruder lief, weil der Arbeitgeber Kirche schon seit Jahren unter Dauerfeuer stand, weil etliche Priester sich sexuell an Schutzbefohlenen vergangen hatten. Aber statt die Ursachen dafür zu klären, ging das Wegducken munter weiter.

Wir begegnen freilich auch noch einmal jener irren Geschichte mit den Heilpraktikern, deren Experiment mit chemischen Drogen so völlig aus dem Ruder lief. Wir begegnen auch wirklich tragischen Geschichten, in denen psychisch kranke Männer das Unheil über ihre eigene Familie brachten. Und landen damit natürlich in jenem Grenzbereich, in dem Behörden eigentlich frühzeitig helfen müssten – und trotzdem alle Alarmsignale übersehen.

Und die Betroffenen sind schutzlos, erfahren selbst nach den tragischen Vorfällen keine Unterstützung. Man lernt unseren Staat von der anderen Seite kennen, von jener Seite, wo man dem geballten Misstrauen der Amtsträger begegnet. Oft zumindest. Denn auch die Beispiele für Polizisten und Staatsanwälte, die sich bemühen, wenigstens die schlimmsten Konflikte zu lösen, finden sich im Buch. Aber sie kämpfen meist allein und gegen eine Wand des behördlichen Nicht-wissen-Wollens. Oder gegen solche Scheinargumente: Man könne sich diese Hilfesysteme nicht leisten.

Und man begegnet jenen Trieben, die sich aus einer von Süchten und fehlender Anerkennung gebauten Gesellschaft gar nicht mehr wegdenken lassen, hier zum Beispiel mit einem Ausflug in die Hamburger Graffiti-Szene und in die Motive der zumeist jungen Menschen, die bei nächtlichen Spray-Touren den Nervenkitzel suchen und jenen kurzen Moment der Bestätigung, der entsteht, wenn ihr Riesen-Graffiti am nächsten Tag auf der S-Bahn durch die Riesenstadt fährt.

Für die einen ist es eine Sucht. Aber was sind eigentlich Süchte? Sind sie nicht der Hunger, der entsteht, wenn man als Mensch nicht mehr zählt? Wenn man sich ständig in einer Leistungsgesellschaft profilieren muss, in der Leistung eigentlich nur Stromlinienförmigkeit meint? Ellenbogenmentalität und Rücksichtslosigkeit?

Das ist ja nicht nur in Hamburg so, dass Jugendliche die waghalsigsten Klettertouren machen, um ihren Künstlernamen riesengroß an Hauswände zu sprühen. Man denkt nach dieser Geschichte („Es ist eine Sucht“) auch über die Graffiti-Szene anders nach. Denn sie steht für etwas, was die westliche Gesellschaft nun seit über 30 Jahren zerfrisst, genauso, wie die mit Drogen vollgepumpten jungen Leute aus „Nachts ist jeder ein Feind“ dafür stehen.

Wo bekommen junge Menschen in unserer Gesellschaft eigentlich noch das Gefühl, als das anerkannt und gebraucht zu werden, was sie sind? Wie viele fühlen sich schon frühzeitig aussortiert und suchen in der Clique, in Drogen und Aggressivität die Reibung mit einer Gesellschaft, die mit ihnen nichts zu tun haben will? Welche sich all dessen, was sie als nutzlos und „überflüssig“ bewertet, auf die gefühlloseste Art entledigt, egal, ob das Kinder aus Problemvierteln sind, alte Menschen, Asylsuchende usw..

Natürlich schließt das nicht aus, dass manche Menschen auch einfach irrational handeln, ohne dass man je erfährt, warum sie es tun (wie in „Drei Schwestern“). Denn gerade da, wo es im Leben wirklich existenziell wird, handeln Menschen oft auch aus Verzweiflung, Überforderung oder purer Panik. Die Polizeiberichte sind voll davon. Nur dass diese Polizeigeschichten in den üblichen Boulevard-Medien meist einen bösen, hämischen Dreh bekommen, eine zusätzliche Ladung Verachtung für die, die sich nicht anders zu helfen wussten.

Schrep versucht, mit den Betroffenen selbst zu reden, mit „Opfern“ genauso wie mit „Tätern“, um die menschlichen Gründe hinter den Taten zu verstehen, die Zwänge, unter denen Menschen handeln können. Da stehen dann oft Sichtweisen gegen Sichtweisen, hängt das Verständnis der Richter und Vorgesetzten oft davon ab, ob sie auch im Herzen verstehen wollen, was da geschah, und den Willen haben, den aus der Bahn Geratenen wirklich zu helfen. Oder ob sie nur wieder möglichst schnell zum Alltagstrott zurückwollen, den Vorfall als Ausnahme verkaufen und die Ursachen für Übertreibungen.

So nimmt Schrep seine Leser mit in eine Welt, in der vieles nicht sicher und schon gar nicht normal ist. Und wo sich Dinge erst zur Tragödie aufschaukeln, weil Behörden sich vor Verantwortung scheuen oder schlicht jener Rückhalt fehlt, der auch Helfern den Rücken stärkt. Ergebnis einer gesellschaftlichen Gehirnwäsche, die menschliches Leben immer mehr nur unter dem reinen Nutzenaspekt betrachtet und Menschen, die nicht sowieso schon reich und unabhängig sind, wie Bittsteller behandelt, wie Störenfriede.

Vielleicht sogar das richtige Buch zu Weihnachten. Weil es unsere scheinheilige Gesellschaft von der anderen Seite zeigt, der ehrlichen. Wo ein Lebenslauf tatsächlich zum „Schicksal“ wird. Nur dass es immer menschliches Agieren (oder Nicht-Reagieren) ist, das die Katastrophe auslöst. Und dass im entscheidenden Moment niemand da ist, der das Schlimmste verhindern kann.

Bruno Schrep Nachts ist jeder ein Feind, Hirzel Verlag, Stuttgart 2019, 19,80 Euro.

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