Maler sind keine Politiker, meist auch keine Philosophen und noch seltener Parteianhänger. Sie malen nicht, was erwartet wird. Oder ins Schema passt. Und meist provozieren sie auch nicht um des Provozierens willen. Deswegen stehen wir Zeitgenossen oft grübelnd und ein bisschen ratlos vor ihren Werken. Wer den Leipziger Maler Neo Rauch ein wenig verstehen möchte, für den wird dieses Buch wie ein Schlüssel sein. Ralph Keuning hat Rauch extra in seinem Atelier besucht.

Er ist Direktor des Museum de Fundatie im niederländischen Zwolle, weiß also um die „Sprachlosigkeit“ der Künstler, die eigentlich keine Sprachlosigkeit ist. So, wie auch Dichter nicht sprachlos sind. Aber wo die einen mit Worten in die seltsamen Zustände unserer Weltwahrnehmung (hinab-)steigen, tun es die anderen mit Farben. Ich könnte auch Flaubert oder Bulgakow anführen mit ihrer schon fast zerstörerischen Arbeit an Romanen, die tief hinabtauchen in die kaum formulierbare Welt, die eigentlich unsere ist. Wir rastern sie nur, packen Schablonen drüber, versuchen sie zu reduzieren auf schwarz und weiß und wahr und falsch.

Aber wenn jemand schon lange vor dem Physiker Werner Heisenberg spürte oder gar wusste, dass es bei genauerer Betrachtung aller Dinge immer mehr Unschärfen und Uneindeutigkeiten in der Beobachtung gibt, dann waren es die Künstler. Denn wenn sie sich selbst ernst nahmen auf der Suche nach dem richtigen Bild von ihrer Welt, dann merkten sie nicht nur, dass das nicht unbedingt auch die Welt der Betrachter war. Und sie merkten, wie komplex, mehrdeutig und fraktal die Dinge genau dort werden, wo es ernst wird mit uns, mit unseren Bildern von der Welt.

Und das beginnt nicht erst mit Neo Rauch, zu dessen Lehrern an der HGB ja zwei der herausragenden Vertreter der Leipziger Schule gehörten – Arno Rink und Bernhard Heisig, beide genauso begabt, dem eigenen Bild so lange zuzusetzen, bis es genau das zeigte und erzählte, was sie sich vor der leeren Leinwand vorgenommen haben. Das Wort „entstehen“ sollte man hier meiden, betont Rauch im Gespräch mit Keuning.

Bilder „entstehen“ nicht, sondern sind harte Arbeit. Eine Arbeit, über die er im Ateliergespräch mit Keuning so einiges verrät. Mehr als in jenen Interviews, die er 2018 einigen Zeitungen gab. Interviews, die wesentlich weniger skandalös waren, als sie dann im empörten öffentlichen Diskurs erschienen. Wir leben tatsächlich in einer Medienwelt, die mittlerweile automatisch ihre Empörungsmaschinerie anwirft, wenn nur ein Redakteur meint, etwas gehört zu haben, was er tadelnswert findet, inakzeptabel.

Die Diskussion hat Neo Rauch zugesetzt. So sehr, dass er 2019 auch eine Antwort gab, die man so von diesem eigentlich stillen Künstler nicht erwartet hätte – das schon fast satirisch zu verstehende Bild „Der Anbräuner“. (Das man in diesem Band freilich nicht findet.)

Sind Neo Rauchs Bilder also keine Kommentare zum Zeitgeschehen?

Sind sie nicht. Es sei denn, wir ändern die Perspektive, setzen die politischen Brillen ab und gehen wieder mit jener Offenheit in Ausstellungen, die es zulässt, dass die Bilder selbst mit uns interagieren. Fast hätte ich geschrieben „zu uns sprechen“. Aber Bilder sprechen nicht. Kunst hat nur eine Chance, wenn wir uns auf sie einlassen. So, wie sich der Künstler selbst einlässt, wenn er das Bild werden lässt.

Zu dem werden lässt, zu dem es werden muss, damit wenigstens der Maler selbst das Gefühl hat: Ja, jetzt stimmt es, jetzt leuchtet es, jetzt ist es bewältigt, wie Neo Rauch sagt. Darauf arbeitet sich ein Maler hin in seinem Atelier. Und niemand kann ihm dabei helfen. Stück für Stück, Farbfläche um Farbfläche, Motiv um Motiv arbeitet er sein Bild aus sich heraus. Was entsteht, ist Magie. So nennt es Keuning.

Und Rauch versucht es in Worte zu fassen an seinem 2011 gemalten Bild „Fundgrube“, das heute in Los Angeles hängt: „Das ist eines dieser Bilder, die mir im Nacken sitzen und die mir zuraunen aus der Vergangenheit, von 2011 her: Willst du es noch mal probieren?“ Und etwas weiter: „Ja, es hat den ganzen Raum bestrahlt und zum Vibrieren gebracht. Und ich habe mich ständig gefragt, warum latschen diese Typen alle daran achtlos vorbei?“

Wir sind sehr achtlos geworden, eher an „immer mehr“ gewöhnt, regelrechte Vielfraße, die noch mehr sehen wollen und sich die Zeit nicht mehr lassen, sich auf das Einzelne einzulassen. Ralph Keuning macht es ganz ähnlich, wie es auch der Leipziger Journalist Michael Hametner gemacht hat, als er die Leipziger Maler in ihren Ateliers besuchte. „Einkreisen“ nannte es Hametner. Man kann sich Bildern und ihren Malern nur nähern, wenn man sich selbst erst einmal aufs Wahrnehmen einlässt, das benennt, was einem auffällt, was einen anrührt und ins Bild zieht. Das, was sonst ungesagt bleibt, weil wir uns im alltäglichen Leben abgewöhnt haben, die Signale, die uns irritieren, überhaupt noch zu benennen. Obwohl sie uns beeinflussen.

Neo Rauchs Bilder arbeiten genau mit diesen Irritationen. Und Neo Rauch hat auch nie hinter dem Berg gehalten mit den Dingen, die ihn irritieren. Die Disharmonien unserer Zeit gehören mit dazu, unsere Oberflächlichkeit, unsere falsche Selbstgewissheit. Die Bilder in diesem Band entstanden zwischen 2011 und 2020. Im ersten Teil findet man die Arbeiten, die für die Ausstellung „Handlauf“ in der Galerie Eigen + Art in diesem Jahr entstanden, im zweiten Teil widmen sich Rauch und Keuning Arbeiten der vergangenen Jahre, die aber noch in keinem Katalog veröffentlicht wurden.

So wird dieser Band zu einer Art Bilanz der letzten zehn Jahre, einem einfühlsamen Begleittext auch für die Unruhe, die in Neo Rauchs Arbeit hineingelärmt hat. Eine Unruhe, die er etwa in dem 2020 entstandenen Bild „Der Hörer“ thematisiert, in dem das schlicht in den Himmel gemalte „R.u.h“ direkt korrespondiert mit der von Uniformierten überwachten Verbrennung von Megafonen. Ein „Megafonist“ taucht auch in „Die Wurzel“ auf. Übertönt er da alles, was gerade geschieht? Was maßt er sich eigentlich an? Welche Rolle spielt er in dem mehr als labilen Gleichgewicht der Maler, die hier so bemüht sind, das Noch-Unfassbare zu erfassen?

Deutlicher hat Neo Rauch noch nie gesagt und gezeigt, wie störend der Lärm und die Besserwisserei sind, wenn man im Atelier versucht, dem kaum Sagbaren eine Kontur zu geben, das, was die meisten Menschen in ihren Träumen spüren, in eine Szene zu verwandeln, in der das Traumhafte genau die Schärfe/Unschärfe annimmt, die eigentlich der Boden unseres Daseins ist.

Neo Rauch: „Also, wer zum Megafon greift, ist automatisch mein Feind, das gebe ich hier unumwunden zu Protokoll. Und es ist immer eine negative Figur. Ein Daseinsentsüßer und Vergifter der Atmosphäre. Und es sind ja immer Ideologen, die zum Megafon greifen, und das sind meine Feinde.“

Manchmal muss man es so drastisch sagen. Denn unsere Zeit (befeuert durch die „social media“) verschafft denen mit den größten Megafonen, dem meisten Lärm und der gnadenlosesten Haltung die größte Aufmerksamkeit. Das suggeriert Eindeutigkeit – spaltet aber die ganze Gesellschaft. Und sorgt vor allem dafür, dass leisere, unschärfere Töne nicht mehr wahrgenommen werden. Und damit eigentlich die komplette Kunst. Wer als Künstler nicht in eine veritable Meinungsschlacht in meinungsstarken Medien gerät, existiert für die Öffentlichkeit quasi nicht.

Und gleichzeitig werden die Teilnehmer dieser zumeist nur verbalen Schlachten abgestumpft, bekommen völlig falsche Erwartungshaltungen. Welche Finternisse muss ich sehen, wenn ich jetzt in eine Neo-Rauch-Ausstellung gehe? Wer ist frei von solchen Suggestionen und geht dann wirklich in die Ausstellung und lässt die Bilder einfach auf sich wirken?

So unentschlüsselbar sind Neo Rauchs gemalte Motive ja nicht, und dass er sich in der Zeit Caspar David Friedrichs und Schwinds und Runges viel mehr heimisch fühlt als in der zerrissenen Gegenwart, hat Neo Rauch auch oft genug betont. Wer seine Bilder „lesen“ möchte, ist nicht schlecht beraten, wenn er auch um das Zeit-und Malverständnis von Friedrich, Runge, Schwind und Zeitgenossen weiß. Es war übrigens auch ein bewusst gewähltes, eine künstlerische Positionierung, die erstmals auch den Maler als Zeit-Zeugen definierte.

Auf exemplarische Weise. Und Neo Rauch betont auch, wie sehr er sich mit den Hauptfiguren in seinen Bildern identifiziert. Jedes Bild ist eine erarbeitete Aneignung eines neuen, selten völlig eindeutigen Blicks auf das eigene Sein. Und gerade der Kontrast mit den Kostümierungen des frühen 19. Jahrhunderts impliziert Rückbesinnung (Ver-Wurzelung) genauso wie Anspruch ans gelebte Heute mit all seinen Brüchen, die wir alle empfinden. Nur: Wo lassen wir sie, wenn wir sie nicht benennen und so tun, als wären wir ein-deutig? Was wir alle nicht sind.

Und das ist ganz bestimmt eins der zentralsten Wirkelemente bei Rauch: die Begegnung mit der eigenen Un-Eindeutigkeit, dem Unfertigen, von den irritierenden Begegnungen mit anderen Menschen in „heiklen Situationen“ ganz zu schweigen. Deswegen dominieren gerade im Zyklus „Handlauf“ viele Bilder, in denen es um Balanceakte, die Suche nach einem gefährdeten Gleichgewicht geht. Was wieder mit unseren Träumen zu tun hat, die uns in der Regel ja – wenn wir uns ihrer im Wachwerden noch erinnern – zutiefst verunsichern. Weil sie nun einmal auch davon erzählen, wie unscharf wir unsere täglichen Erlebnisse in Wirklichkeit wahrnehmen – selbst die intensivsten mit Menschen, die uns vertraut sind.

Rauchs Bilder arbeiten mit solchen Traumbrüchen. Ebenen schieben sich ineinander, seltsame Pflanzen wuchern, Wurzeln schieben sich ins Bild, Fabelwesen nehmen so selbstverständlich Teil am Geschehen, dass man geradezu geneigt ist, in den scheinbar sich ganz normal Verhaltenden das Ungewöhnliche zu suchen – das meist in einer frappierenden Ruhe und Intensität liegt – so wie bei den drei arbeitenden Malern in „Traumfabrik“.

Aber bevor wir zu viel verraten: Die Ausstellung „Handlauf“ mit diesen neuen Bildern von Neo Rauch wird in der Galerie EIGEN + ART Leipzig in der Spinnerei am 26. und 27. September eröffnet. Zur Eröffnung muss man sich anmelden. Ab dem 29. September 2020 kann die Ausstellung dann ohne Anmeldung zu den regulären Öffnungszeiten Dienstag bis Samstag von 11 bis 18 Uhr besucht werden, lädt die Galerie ein.

Und wer in der Ausstellung den Zugang zu Rauchs Bildern nicht findet, für den ist dieser Band mit den Ateliergesprächen ganz bestimmt ein Schlüssel. Einer, der so manchem, der aus Schule und Medien die völlig falschen Vorstellungen von „Was ist Kunst?“ mitgebracht hat, wieder nahebringt, wie gute Kunst genau jene Räume des Erfahrbaren öffnet, die uns in Wirklichkeit erst das Gefühl geben, wirklich hier zu sein, in zuweilen unüberschaubar seltsamen Situationen, die uns staunen oder erschrecken lassen.

Gerade Neo Rauch erinnert uns daran, dass nichts in unserem Leben auf diesem wundersamen Planeten „normal“ oder gar mathematisch eineindeutig ist. Dass auch im Zwischenmenschlichen immer viel mehr mitschwingt, was wir zwar spüren, aber nicht auf den Punkt bringen können. Ganz zu schweigen von der Uneindeutigkeit unserer Geschichte, die in Wirklichkeit keine Sieger, keine Ziele und keine geraden Wege kennt.

Und wenn sich Neo Rauch so deutlich im frühen 19. Jahrhundert verortet, bedeutet das nun einmal auch, dass wir anderen dem so fern gar nicht sind. Und dass etliche der Gestalten, die Rauch so intensiv aus dem Bild herausarbeitet, damals wie heute in die Zeit passen. Bis hin zur Sehnsucht nach der Magie, die uns noch berühren könnte, wenn wir dazu noch Zeit und Nerven hätten.

Wir sind ja selbst diejenigen, die jeden Tag mühsam versuchen, irgendwie das Gleichgewicht zu finden. Da unterscheiden wir uns in nichts vom Maler, der auch in seinen Bildern nicht leugnet, dass wir jeden Tag vor lauter Rätseln stehen und auch vieles von dem, was andere, Lautere als selbstverständlich empfinden, als höchst verwirrend erfahren. Von Eindeutigkeit keine Spur. Dafür jede Menge verunsichernde Unschärfen. Ganz zu schweigen von all den „extrem unvernünftigen Personen“ (Neo Rauch), die wir allerorten zündeln und in stoischer Ernsthaftigkeit dubiose Dinge verrichten sehen.

Dieser Maler verunsichert. Moderner geht es gar nicht.

Neo Rauch; Ralph Keuning Handlauf, E. A. Seemann Verlag, Leipzig 2020, 36 Euro.

Kopfkino: Michael Hametner in 15 durchaus streitbaren Gesprächen mit dem Maler Hans Aichinger

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