Bislang hat sich Henner Kotte vor allem mit Kriminalromanen und Sammlungen authentischer Kriminalfälle einen Namen gemacht. Mit „Die dreizehn Leben des Richard Rohde“ legt er jetzt einen großen sächsischen Familienroman vor, in dem sich 300 Jahre bündeln, verschlingen, spiegeln. Und das alles um den Rohdehof nahe einem Dorf namens Lenkwitz, das am Ende Opfer des Kohlebergbaus in der Lausitz wird.

Und natürlich ist Richard Rohde kein Wiedergänger, auch wenn man oft das Gefühl hat, dass sich hier ein Typus verkörpert in diesen dreizehn Generationen der Rohdes, deren Erstgeborener immer den Namen Richard bekam – in Erinnerung an den ersten Richard Rohde, der scheinbar sagenhaft aus dem Nichts auftauchte und aus dem wohl einst von Mönchen gegründeten Vorwerk einen florierenden Bauernhof auf gutem Boden machte.Die verschiedensten Geschichten ranken sich um diesen ersten Richard, selbst in der Familie erzählen Frauen und Männer eine jeweils andere Geschichte. Geschichte hat immer etwas Sagenhaftes. Ganz zu schweigen davon, dass die offizielle Staatsgeschichte selbst in der Regel ein Mythos ist, eine schöne Fabel, mit der die jeweils Mächtigen ihrem Volke die Variante der Ereignisse vorpredigen lassen, die ihre Macht legitimiert und ihre Herkunft glorifiziert.

Das hat sich tatsächlich nicht wirklich geändert bis heute. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es immer auch genug Menschen gibt, die diese Erzählung für bare Münze nehmen und nur zu diensteifrig zu Helfern und Helfershelfern werden.

Nur kommt in Sachsen noch eines dazu – und deshalb geht Henner Kotte ja auf diese fabelhafte Reise in die Geschichte: Nicht nur die offiziellen Staatsgeschichten sind hier in den letzten hundert Jahren quasi im Generationentakt abgebrochen und als falsch entlarvt worden. Damit können Menschen leben, auch die sogenannten kleinen Leute, die ihr Leben lang ackern müssen, damit die Familie über die Runden kommt.

Aber das nahende Ende des Kohlebergbaus in der Region steht auch für einen Verlust, der sich so leicht nicht mehr kitten lässt, indem man einfach die Geschichtsbücher umschreibt. Und er geht einher mit einem anderen Bruch, der eigentlich sämtliche Familienbande im Osten zerrissen hat.

Denn dem kurzen Glück, den Familienhof nach der „Wende“ wieder selbst übernehmen und als Bio-Hof bewirtschaften zu können, steht schon bald das drohende Ende von Dorf und Hof gegenüber. Wie es Jurij Koch in seinen „Grubenrandnotizen“ erzählt, waren viele Dörfer in der Lausitz und im Mitteldeutschen Revier noch einmal gerettet, als die Friedliche Revolution auch den gnadenlosen Raubbau an der Umwelt im Osten beendete. Tagebaue wurden früher beendet, ganze Landschaften verschont.

Aber die Dörfer, die dann trotzdem noch in der Planschneise der jetzt operierenden Konzerne lagen, kämpften einen langen, am Ende aber frustrierenden Kampf. Lenkwitz steht für viele dieser Dörfer, die den Kampf gegen Konzerne, Gerichte und staatliche Ignoranz verloren. Und Kotte hätte sein Dorf auch Heuersdorf nennen können. Denn die Verfrachtung einer ganzen Kirche aus dem devastierten Heuersdorf in die Kreisstadt Borna ist ja 2007 genau so vonstattengegangen, wie es Kotte für Lenkwitz schildert.

In seinem Buch steht dieser von medialem Rummel begleitete Umzug auch für den Abschied der Rohdes von ihrem Bauernhof. Und für den Riss, der ab jetzt auch durch die Familie geht. Denn die Kinder sind längst weggezogen. Es ist die Enkelin Hannah, die praktisch in der Gegenwart zu Besuch kommt zur Oma, die in ihrer Neubauwohnung nichts mehr sehen will von der neuen Seenlandschaft, die da entstanden ist, wo einst der Hof der Rhodes stand.

In Hannah bündelt sich die Sicht der Jungen auf diese alte Geschichte: Sie fühlen sich im Westen längst zu Hause und verstehen die Sprachlosigkeit der Alten nicht, die zurückgeblieben sind. Und auch die Begeisterung des Uropas für die Geschichte von Lenkwitz versteht sie erst, als sie in der regelrecht zum Gedächtnisort umgestalteten Kneipe am neuen See die Bilder sieht, die vom Leben in einem Dorf erzählen, das es nicht mehr gibt. Sie hat den Rohdehof nie kennengelernt und auch die Begegnung mit ihrem Urgroßvater wird zu einer seltsamen Nicht-Begegnung.

Aber gerade deshalb hat sie auch keine Angst vor dieser Geschichte. Sie kann sich ihr ohne Scheu nähern. Und so recht weiß man am Ende nicht, wer das hier alles erzählt hat, da es ja Richard Rohde nicht selbst aufgeschrieben hat. War es der Wirt Maik in der Kneipe am See, war es die Mappe mit Fotos und alten Zeitungsartikeln, die Oma Gabriele Hannah in die Hand gedrückt hat.

War es gar der dort mehrfach vertretene Erdmann Ferwass, den Henner Kotte geradezu zum Kronzeugen der Geschichten macht, die den Rohdehof umgeben als dichtes Gespinst – Geschichten, die teilweise an alte Räuberlegenden, an Kriegserinnerungen und alte Sagen erinnern, in denen die Nachkommenden versuchten, das Unerklärliche in der Familiengeschichte zu erklären. Das Verschwinden einer Tochter im Himmel etwa, die Skelette im Brunnen im Hof, die Räuberpistole in der Vitrine oder die Rettung eines geflüchteten Sträfling aus dem Moor gleich hinterm Hof.

Auch etliche Motive aus der opulenten LPG-Literatur der DDR blitzen auf – gerade im Konflikt Richard Rohde mit dem „kleinen Bigalke“, der nie aufgehört hat, sich der Macht anzudienen und Denunziation als die kleine Version der Macht zu nutzen, die auch der Untertan benutzen darf.

Und damit die Leser nicht denken, auch das habe sich der Autor alles ausgedacht, erwähnt er fast beiläufig lauter Bücher, die man vielleicht doch mal gelesen haben sollte, wenn man die DDR-Zeit im Osten ein bisschen verstehen will, und dazu etliche der großen Filme, die auch in der DDR echte Straßenfeger waren – mitsamt ihren zum Teil längst selbst legendären Helden.

Da muss man nicht lange überlegen, ob nun „Das siebte Kreuz“ oder „Hauptmann Florian von der Mühle“ ausgerechnet in Lenkwitz gespielt haben. Sie hätten dort spielen können. Das genügt völlig. Denn gute Bücher und Filme funktionieren nicht, weil sie das Einmalige zeigen, sondern das, worin sich das aufgeregte Publikum im Saal wiedererkennt.

Oder der neugierige Junge, der den Bücherschrank der Tante für sich entdeckt hat. Natürlich bietet so ein alter Hof lauter Geheimnisse, in denen die Schicksale der früheren Richards, ihrer Geschwister, Frauen, Söhne und Töchter greifbar werden. Geschichten, die natürlich beginnen zu verblassen in dem Moment, in dem eine derartige Entvölkerung übers Land fegt, wie sie nicht nur die Lausitz ab 1990 erlebt hat.

Denn es waren ja nicht nur die Braunkohledörfer, die binnen weniger Jahre ihre Jugend verloren und all die Strukturen, die das Dorf über Jahrhunderte ausgemacht und zusammengehalten haben. Es betrifft fast den ganzen Osten. Nicht einmal die großen Kriege haben es vermocht, derart großflächig die Bindung der Menschen an die Region zu zerreißen, wie es die Transformation nach 1990 getan hat. Was jetzt so klingt, als wäre das ein logischer Geschichtsmoment gewesen.

War es aber nicht, egal, was uns die neueren Mythenerzähler dazu erzählen wollen. Geschichte wird von Menschen gemacht, manchmal bewusst und mit regelrechtem Programm (auch wenn das meistens scheitert), in den meisten Fällen aber eher chaotisch, getrieben von Gier, Neid, Rücksichtslosigkeit, Herrschsucht und was der geschichtstreibenden Kräfte mehr sind.

Der Hof der Rohdes, auf dem sie 300 Jahre lang wirtschaften einzig mit dem Wunsch, das Beste draus zu machen, steht dafür geradezu exemplarisch. Als hätte Kotte ein Symbol finden wollen für das, was Sachsen letztlich doch bodenständig, fleißig und selbstbewusst macht. Denn das wird man, wenn man auf das Selbstgeschaffene schauen kann, das man auch in widrigen Zeiten bewahrt hat.

An der Stelle ahnt man zumindest, warum die Enttäuschung nach 1990 so groß war und sich in Frustration verwandelt hat. Denn auch das wird nur zu gern vergessen: Dass die Friedliche Revolution zuallererst ein Akt der Selbstermächtigung war, ein Abschütteln der Entmündigung. Sätze wie „Das ist überhaupt nichts Neues für uns“ findet man gerade in den jüngeren Teilen von Kottes Erzählung immer wieder.

Richard Rohde sieht überhaupt keinen Grund, sich jetzt von einem neuen „Aufbauhelfer“ aus dem Westen erklären zu lassen, wie Bauernwirtschaft geht. Doch am Ende zerfrisst ihn der Krebs. Vielleicht, weil genau das alle Würde und alle Zuversicht zernagt, wenn ein gnadenloser Kohlekonzern sich über Jahre beharrlich auf Hof und Dorf zufrisst und alle Versuche, diesen Zugriff gerichtlich zu stoppen, fehlschlagen. In diesem Bild steckt ein gut Teil der Gefühle des Übermächtigtwerdens, die eben nicht nur in den Braunkohleregionen lebendig sind.

Die stehen eher sehr symbolkräftig dafür, wie die Macht 1990 einfach weitergewandert ist und auch diesmal nicht bei denen landete, die „damals auf die Straße gingen“. Mit dem Ende des Hofes endet auch die Reihe der Richards, auch wenn der Urgroßvater noch das kleine Museum am See leitet und Schulklassen die alten Geschichten erzählt. Denn die Kinder und Enkel sind alle weggezogen, manche regelrecht trotzig, weil sie nicht verstehen können, wie man so am Alten festhängen kann.

Aber gerade weil Henner Kotte hier eine ganze Familiengeschichte erzählt, merkt man, dass das nicht wirklich die Lösung ist. Denn eine erzählbare Geschichte ist auch Identität, sie gibt Halt und ist Basis für Gemeinsames. Und zwar gerade dann, wenn es nicht die Variante der jeweils Mächtigen ist. Jedes Dorf ist voller solcher gemeinsamer Geschichten. Meistens passen sie so gar nicht zu den offiziösen Erzählungen. Oder nehmen sogar sagenhafte Züge an, manchmal auch mythische.

Kinder, die nur selten zu Besuch kommen, wundern sich nur, weil sie schnell vom großen Figurenensemble überfordert sind. Was durchaus auch den Lesern des Buches zuweilen so gehen wird, weil Henner Kotte geradezu mit Lust auch die vielen kleinen Legenden rund um den Rohdehof erzählt. Und das nicht immer in der chronologischen Reihenfolge, sehr wohl wissend, dass mythisches Erzählen sich nie an die Logik der offiziellen Kalender hält.

Und augenzwinkernd verweist er dabei immer wieder mal auf Erdmann Ferwaß, der als Pseudonym erstmals im frühen 19. Jahrhundert auftauchte und den Kotte immer wieder mal miterzählen lässt, wenn die Handlung etwas turbulenter wird. Denn warum soll man Geschichten immer weitererzählen, wenn es darin nicht mal richtig zur Sache geht? Wenn es darin keine Wunder und keine Helden gibt? Und zwar solche, die gleich hier gelebt haben, hier in Lenkwitz, gleich um die Ecke.

Auch hier ist Geschichte passiert. Und erst später, beim Erzählen, merkt man, dass man – wie auch einer der dreizehn Richards feststellt – mehrmals mittendrin oder dicht dabei war, als Geschichte passiert ist. Oder so ein Ereignis, das auch in der offiziellen Geschichte notiert wurde. Die sich scheinbar nur selten mit der Geschichte berührt, die die ganz normalen kleinen Überlebenskünstler jeden Tag erleben. Aber wer sich hinsetzt und aufschreibt, merkt, dass erstaunlich viel passiert ist, was niemals in der großen Zeitung stand.

Aber wenn die Kinder weggehen, ist keiner mehr da, der zuhört und die Landschaft dazu kennt. Was eigentlich das Berührende an Kottes Roman ist: Diese stille Trauer darum, wie ganze Landschaften im Osten ihre Geschichte verlieren und damit ihre Erinnerung. Menschen ohne Erinnerung leiden unter Amnesie. Aber wie ist das bei Ländern und Landschaften?

Da hat nicht nur der alte Richard Rohde einen unlösbaren Widerspruch, wenn er auf die blitzsaubere Seenlandschaft hinausschaut, die nicht mal Spuren des Alterns und des Gebrauchs zeigt. Alles ist wie neu. Und gäbe es das kleine Museum nicht, würde sich niemand mehr erinnern können an das Dorf Lenkwitz und die Generationen von Menschen, die dort jahrhundertelang gelebt haben.

Henner Kotte Die dreizehn Leben des Richard Rohde, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2021, 16 Euro.

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