Es gibt Bücher, in denen lauert das Entsetzen. Auch wenn man sie – wie dieses – eigentlich bestellt hat, um mehr zu erfahren über den Mann, der letztlich die Hauptschuld daran trägt, dass der Holländer Marinus van der Lubbe 1934 vom Reichsgericht in Leipzig als Alleintäter für den Reichstagsbrand verantwortlich gemacht und zum Tod verurteilt wurde. Bis heute hält sich die Alleintäter-These. Doch die basiert vor allem auf den Aussagen des Kriminalbeamten Walter Zirpins, der später im niedersächsischen Polizeidienst in Führungspositionen kommen sollte.

Und eigentlich hat das Landeskriminalamt Niedersachsen ja auch nur den 75. Jahrestag seiner Gründung feiern wollen. Aber diese Gründung und die frühen Jahre sind ohne Walter Zirpins nicht denkbar, der 1951 wieder eingestellt worden war und bald zum Leiter der Landeskriminalpolizei aufstieg.Eine Karriere, die damals schon von der Presse kritisch begleitet wurde, denn dass er eine Polizeikarriere im NS-Reich hinter sich hatte, beim Reichstagsbrandprozess eine zwielichtige Rolle spielte, hochrangiges Mitglied der SS war, zeitweilig zuständig für das Ghetto in Lodz, später Lehrausbilder des SD und Autor mehrerer entlarvender Bücher und Fachartikel, war eigentlich bekannt, auch wenn ein Großteil seiner Karriere im Machtapparat Himmlers nur lückenhaft belegt war und auch heute nicht restlos aufgeschrieben werden kann.

Und die Autor/-innen des Buches beschäftigt besonders intensiv die Frage, wie so ein Mann sich nicht nur 1951 wieder in den Polizeidienst zurücklavieren konnte und binnen kürzester Zeit sogar die Leitungsfunktionen erreichen – und halten konnte. Dass das ohne alte Verbindungen und viele alte Kameraden im Polizeidienst nicht gehen konnte, war klar.

Aber Niedersachsen hatte damals noch ein weiteres Problem. Oder besser: der niedersächsische Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) hatte eins, denn er war genauso wie Zirpins im besetzten Osten Polens eingesetzt gewesen, ein Kapitel seiner Biografie, mit dem er jederzeit erpressbar war.

Und dort war er natürlich auch Zirpins begegnet, der das Erpressungspotenzial augenscheinlich auch nutzte. Ein Buchkapitel, in dem man geradezu zuschauen kann, wie das damals vor allem im Westen Deutschlands fast überall geschah. Denn all die großen und kleinen Funktionäre des NS-Regimes waren ja noch da. Wirklich bestraft wurde nur eine Handvoll Haupttäter. Die meisten anderen waren emsig damit beschäftigt, ihre Biografien zu bereinigen, sich Legenden zuzulegen über die Zeit im Hitlerreich und sich gegenseitig „Persilscheine“ auszustellen.

Viele gelangten schon früh wieder auf gut dotierte Posten in den Strukturen der neu entstehenden Demokratie, halfen alten Kumpanen dabei, es ebenso wieder zu schaffen. Und sie prägten bald wieder das Denken im Land, forcierten die sogenannte „Schlussstrichdebatte“, denn nichts mussten sie mehr fürchten als eine wirklich wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Zeit, ihrer Strukturen und der persönlichen Verantwortlichkeiten.

Die Alleintäter-These im „Spiegel“

Aber das alles hatte auch Folgen, die das Klima und die Berichterstattung in der jungen Bundesrepublik bestimmten. So, wie es 2003 ein Dokumentarfilm des SWR zeigte, in dem auch der Autor Fritz Tobias gezeigt wird, zu Zirpins’ Zeiten Ministerialrat im Niedersächsischen Innenministerium. Man kannte sich also bestens. Und so überrascht es auch nicht, dass Tobias, als er 1959/1960 im „Spiegel“ die elfteilige Serie „Stehen Sie auf, van der Lubbe!“ veröffentlichte, vor allem auf einen Kronzeugen zurückgriff: Walter Zirpins.

Mit Tobias’ Artikel-Serie wurde die Alleintäter-These regelrecht untermauert und sogar von namhaften westdeutschen Historikern übernommen, die einfach glaubten, dass die Täterschaft eindeutig rekonstruiert worden war.

SWR-Dokumentarfilm: Reichstagsbrand 1933 – die umstrittene Legende von der Alleintäterschaft des Marinus van der Lubbe

Aber nichts deutet darauf hin, dass dem so war. Karola Hagemann und Sven Kohrs haben sich auch noch einmal die verfügbaren Aktenbestände angeschaut. Und die erzählen eine andere Geschichte, erst recht eine andere, als sie Zirpins dann vorm Reichsgericht von sich gegeben hatte. Ganz abgesehen davon, dass seine Vernehmung Marinus van der Lubbes noch in der Brandnacht keinerlei polizeilichen Standards genügte, auch den damaligen nicht.

Denn stundenlang will er den Holländer, der sich nur schwer auf Deutsch artikulieren konnte, allein verhört haben, ohne Übersetzer und irgendwelche Verständigungsprobleme – dabei aber mit dem fast blinden Mann geradezu detailreich dessen vermeintlichen Weg durch den Reichstag rekonstruiert haben, einen Weg, den van der Lubbe dann bei einer späteren Tatortbegehung nicht mehr nachvollziehen konnte. Brandexperten zweifeln sowieso daran, dass ein einzelner Mann den Reichstag in derart kurzer Zeit hätte anzünden können. Erst recht einer, der so sichtlich keine wirkliche Ortskenntnis hatte.

Und dabei hatte es, bevor Zirpins sich den Tatverdächtigen schnappte, vorher eine ebenso stundenlange Vernehmung van der Lubbes durch andere Polizeibeamte gegeben – mit bis zu 50 Anwesenden und einem Protokoll, das eher davon berichtete, wie verstört der Verdächtige war, wie desorientiert, und wie schwer es ihm fiel, sich auf Deutsch zu artikulieren.

Eine durchgeplante Inszenierung?

Doch nicht diese Vernehmung wurde zur Grundlage der Anklage, sondern das Protokoll, das Zirpins geschrieben hatte und in dem das eigentlich zu erwartende Schema von Frage und Antwort völlig fehlt. Als hätte van der Lubbe nun auf einmal einfach von der Leber weg erzählt und dem Kriminalpolizisten detailreich erklärt, wie systematisch er den Reichstag in Brand gesetzt hatte.

Alles deutet darauf hin, dass auch der Einsatz von Zirpins zum Drehbuch der Nationalsozialisten gehörte, die hier den Fall konstruierten, der ihnen die Handhabe geben sollte für das Ermächtigungsgesetz. Und damit den Beginn des Terrors, mit dem sie fortan regieren würden.

Und zumindest deuten – so Hagemann und Kohrs – Spuren darauf hin, dass das nicht die einzige Aktion war, bei der Zirpins auf diese Weise zum Einsatz kam. Denn Spuren deuten auch seine Beteiligung an der Vorbereitung des „Überfalls auf den Sender Gleiwitz“ an, eine geheimdienstlich vorbereitete Aktion, die Hitler den Vorwand geben sollte, den Zweiten Weltkrieg zu entfesseln.

Und etliches an den Vorgängen im Reichstagsbrandprozess weist auch erstaunliche Parallelen zum Münchner Attentat des Georg Elser auf, zu dem bis heute ja ebenfalls die Alleintäterschaft vermutet wird, obwohl manches darauf hindeutet, dass auch hier der SD eine Rolle gespielt haben könnte.

Zumindest bei den Ermittlungen, so Hagemann und Kohrs, könnte Zirpins eine Rolle gespielt haben, von dem auf jeden Fall ohne Zweifel ist, dass er bis zuletzt eine hohe Funktion im Reichssicherheitshauptamt innehatte und ganz und gar kein unbelasteter Zeitgenosse war, als ihn die Briten in Gefangenschaft nahmen, als weniger belastet freilich bald wieder freiließen, sodass er seine neue Karriere im Westen aufbauen konnte. Was ihm ja auch gelang und dem LKA Niedersachsen nun eine Aufarbeitung der eigenen frühen Geschichte beschert, die nicht nur im Fall Zirpins höchst heikel ist.

Noch immer Parteigänger eines Polizeistaats

Seine Beteiligung an den Morden im Ghetto Lodz führte 1960 noch zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. 1961 wurde er in den Ruhestand versetzt. Aber Hagemann und Kohrs belassen es nicht einfach dabei, seinen ziemlich kurvenreichen Karriereweg im niedersächsischen Polizeidienst nachzuzeichnen. Sie gehen auch auf seine damaligen Vorstöße, Vorträge und Meinungsäußerungen ein.

Und auf seine unablässigen Versuche, die Befugnisse der Kripo wieder zu erweitern. Und das ist der Punkt, an dem man erschrecken darf, denn hier wird deutlich, wie leicht es einem überzeugten Nationalsozialisten nicht nur fiel, wieder in Spitzenpositionen zu kommen, sondern auch sein altes faschistische Denken ohne Hemmungen wieder zu verbreiten.

Bis hin zu den Vorstellungen, die er auch in seinen Polizeischriften in der NS-Zeit schon niedergelegt hatte, die all die Trennungen der Macht, die einen Staat daran hindern, zum Polizeistaat zu werden, wieder auflösen wollte – von den ordnungsamtlichen Befugnissen der Kommunen (etwa zum Melderecht) bis hin zur Abschaffung der Staatsanwaltschaften und der sogenannten vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, die ja die Nationalsozialisten schon zu einer Verbrecherbekämpfung gemacht hatten.

Genau diese ungezügelte Machtfülle wollte Zirpins wieder in der niedersächsischen Kripo versammeln. Und scheiterte zum Glück. Aber das Denkmuster, das dahintersteckt, ist nie wirklich verschwunden. Es taucht immer wieder auf – etwa wenn deutsche Innenmister wieder davon reden, Verbrechen vorbeugend bekämpfen zu müssen und dafür Karteien und Datenbanken anlegen, in denen die Persönlichkeitsschutzrechte der darin Gespeicherten einfach ignoriert werden.

Oder ganze Quartiere für „gefährlich“ erklären und Überwachungsmaßnahmen hemmungslos ausweiten. Und es begegnet uns immer dann, wenn Politiker, aber auch Polizeimeldungen, ganze Bevölkerungsgruppen von vornherein für verdächtig und kriminell erklären. Das Denken ist nicht verschwunden. Und immer wieder gibt es Leute, die so etwas Ähnliches für die Polizei fordern wie eine „Gewohnheitsverbrecherkartei“.

Begriffe wie „Mehrfachintensivtäter“ und „kriminelle Ausländer“ erinnern nur zu sehr an den Wortgebrauch der Nationalsozialisten, die das Verbrechen nicht als gesellschaftliches Problem sahen, sondern als immanente Eigenschaft des Täters, quasi angeboren und untrennbar mit dem Subjekt verbunden, sodass die „kriminellen Elemente“ schon vorsorglich aus der Gesellschaft entfernt werden müssten.

Das Ãœberleben des alten Denkens

Genau hier steckt das ganze faschistische Denken und der Keim des Polizeistaates, der Menschen aus eigener Definitionsmacht kriminalisiert und entrechtet. Wenn ganze Gruppen von Menschen per se zu Verbrechern gemacht werden, ist der Schritt zur völligen Entrechtung und Vernichtung nicht mehr so weit. Und es verblüfft auch Karola Hagemann und Sven Kohrs, dass Zirpins dieses Denken auch nach 1951 ohne größeren Widerspruch oder gar Kritik öffentlich verbreiten konnte.

Und dass es vor allem jene Polizeibeamten auch noch aushielten, die eigentlich unbelastet waren und 1933 von den Nazis teilweise aus dem Dienst gedrängt worden waren, weil sie das Denken der Nationalsozialisten nicht teilten und ihnen als Demokraten suspekt waren. Aber Zirpins konnte augenscheinlich immer auch darauf rechnen, dass andere Polizeikollegen goutierten, was er sagte, und kaum jemand die offene Auseinandersetzung suchte.

Sodass genau dieser Zirpins dann in der „Spiegel“-Serie von Fritz Tobias wie eine vertrauenswürdige Quelle auftreten konnte, die ein reguläres Verhör des vermeintlichen Einzeltäters van der Lubbe bezeugen konnte. Hat er doch das Verhör selbst durchgeführt.

Aber tatsächlich wird mit dieser Ausarbeitung erst deutlich, wie sehr die Nationalsozialisten auch all die Ereignisse manipulierten, mit denen sie die Grundlagen für ihre Gewalttaten und die Anlässe für ihre Übergriffe schufen. Und das nicht nur bei der Organisation des Reichstagsbrandes, bei dem vieles darauf hindeutet, dass hier ein paar Leute sehr organisiert vorgegangen waren, um das verhasste Symbol der Demokratie in Brand zu stecken, sondern auch bei der Inszenierung der sichtlich falschen Täterschaft.

Marinus van der Lubbe war ganz bestimmt eher Opfer als Täter bei der Aktion. Doch während van der Lubbe hingerichtet wurde, geschah Zirpins letztlich nichts. Er wurde nur mit 54 Jahren verfrüht in den Ruhestand geschickt, weil seine Arbeitsmethoden immer wieder für Skandale gesorgt hatten. Er wurde auch immer wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert, stritt aber stets jede Täterschaft ab.

So wird auch hier sichtbar, wie sehr die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland immer wieder steckenblieb, Täter nicht zur Verantwortung gezogen wurden und die Forschung im Grunde in vielen Bereichen noch immer ganz am Anfang steht. Und jetzt vielleicht erst richtig beginnt, da die Täter tot sind und auch das Interesse der Institutionen aufgehört hat, den Beginn nach 1945 irgendwie schönzumalen. So gesehen, ein durchaus mutiger Schritt des LKA Niedersachsen, mit der Aufarbeitung der Rolle des Walter Zirpins die Schattenseite dieses Neubeginns aufzuarbeiten.

Karola Hagemann, Sven Kohrs „Walter Zirpins – ohne Reue. Der schwarze Fleck des LKA“, Landeskriminalamt Niedersachsen, Hannover 2021

Bestellen kann man das Buch direkt beim LKA Niedersachsen.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

 

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Es gibt 3 Kommentare

“Und etliches an den Vorgängen im Reichstagsbrandprozess weist auch erstaunliche Parallelen zum Münchner Attentat des Georg Elser auf, zu dem bis heute ja ebenfalls die Alleintäterschaft vermutet wird, obwohl manches darauf hindeutet, dass auch hier der SD eine Rolle gespielt haben könnte.”
@R.F. Was ist mit “manches” gemeint? Von welchen “erstaunliche[n] Parallelen” ist die Rede?
Verstehe den ganzen Absatz nicht, der auch nicht zum restlichen Text passt. Danke für die Klärung.
(Und nein, ich habe nicht vor die die Auftragsarbeit zur Alleintäter-These Zirpinsens zu lesen.)

Kleine Ergänzung:
Das Buch gibt es für lau! Kostet nix.
Danke für den Tip!

Schreiben Sie einen Kommentar