Manchmal braucht es Zeit, richtig lange Zeit, bis einer sich hinsetzt und die Albträume seiner Jugendzeit zu Papier bringt. Auch das gehört zur Erinnerung an ein Land, das auch deshalb in die Binsen ging, weil die Macht darin weder den Arbeitern, noch den Bauern gehörte, sondern den Funktionären und Offizieren. Und der „Friedensdienst“ in der Armee des Volkes konnte sehr schnell zum Höllentrip werden, wenn man an Offiziere wie Brüllinski und Staslin geriet.

Die Chancen, auf solche Typen zu treffen, waren groß. Denn Militärapparate sind Sammelbecken für Leute, die andere nur zu gern zur Schnecke machen. Die meisten Bücher über das Leben in der DDR beschäftigen sich immer wieder mit Schuld und dem „falschen Leben im falschen“, selten bis nie aber mit den tatsächlichen Machtstrukturen und wie sie funktionierten. Ein Phänomen, das einen fatal daran erinnert, wie sich die komplette deutsche Gesellschaft nach 1945 weigerte, die Machtmechanismen des Hitlerreiches zu thematisieren.

Nicht mal aus der Perspektive derer, die diese Machtverhältnisse erlebten und schnell lernten, sich zu ducken, einzufügen, mit den Wölfen zu heulen. Denn dieses Mitläufertum erzeugt Scham. Wer will schon zugeben, dass er schwach war, feige und unterwürfig? Oder einfach den Kopf einzog, um nicht in den Knast zu wandern?

Eine Drohung, die drei Jahre lang über dem Helden von John McShultz’ Geschichte liegt, Roy, der sich für drei Jahre als Unteroffizier auf Zeit verpflichtet hat, um danach ein Medizinstudium aufnehmen zu dürfen.

Gehorsam statt Menschenwürde

Doch schon bei der Vorladung ins Wehrkreiskommando Oranienburg erlebt er, dass das einigen Leuten im Apparat nicht genügt. Sie wollen ihn nicht nur für den Dienst bei der Stasi gewinnen, sondern auch brechen. So, wie es später sein Vorgesetzter, Oberstleutnant Brüllinski, versucht, der ihn drei Jahre lang schikaniert, ihm den Urlaub streicht und ihm permanent mit dem Knast droht.

Und Knast im Militärwesen der DDR hieß damals: Schwedt. Hier wurden die verurteilten Soldaten endgültig wie Aussätzige behandelt und bekamen die ganze Verachtung eines Militärwesens zu spüren, das seine Soldaten behandelte, als hätten sie mit dem Diensteid alle Menschenrechte aufgegeben.

Und Roy weiß nicht wirklich, welche Macht Brüllinski tatsächlich hat. Denn Knast würde nicht nur die vollkommene Erniedrigung bedeuten, sondern auch den Verlust des Studienplatzes.

Vielleicht steckt tatsächlich jede Menge von John McShultz’ eigenen Erlebnissen in diesem Buch. Dass er selbst in Bad Düben, Neubrandenburg und Karlshagen diente, verrät er in seiner kurzen Biografie. Er beschreibt das hemmungslose EK-Wesen in der NVA, die Scheinheiligkeit der Offiziere, die vom Friedensschutz schwadronieren und im nächsten Moment wieder ihre Soldaten schikanieren, von den Typen, die sich als Längergediente an den jüngeren Dienstaltern schadlos hielten und ihre kleine Macht dazu nutzen, Schwächere in Angst und Schrecken zu halten.

Und dabei hat auch noch die Stasi diesen Roy auf dem Kieker und in Roys Einheit sowieso ihre Leute, die Berichte schreiben und die Kameraden anschwärzen.

Der Preis der Kasernierung

Die Zeit wäre auch für Roy leichter zu ertragen, wenn er draußen vor der Kaserne wenigstens eine Liebste hätte, die zu ihm halten würde. Und irgendwie scheint er die in der kessen Katrin auch gefunden zu haben. Doch auch sie hat ihr Päckchen zu tragen, seit sie von ihrem eigenen Cousin vergewaltigt wurde und ihr Vater alle Hebel in Bewegung setzte, um die Sache zu vertuschen – und dabei auch seine Beziehungen zur Stasi spielen ließ.

Für Katrin bedeutete das aber das Ende ihrer Zeit an der EOS und damit kein Abitur, obwohl auch sie gern studieren möchte. Und die Beziehung mit Roy geht erst einmal fürchterlich in die Brüche, als ihm monatelang der Urlaub gestrichen wird und er nicht mehr aus der Kaserne kommt.

Da sucht Katrin ausgerechnet bei Roys altem Freund Hagen Trost. Und eigentlich hätte die Geschichte an der Stelle in stillem Erdulden enden können, weil Roy den Rest der Armeezeit nun allein und mit zusammengebissenen Zähnen überstehen muss. Aber so richtig glücklich wird auch Katrin nicht, sucht Trost im Alkohol, baut einen Unfall und sieht – um dem Frauenknast Hoheneck zu entkommen – nur noch die Chance, sich dem smarten Stasi-Mann Wodanski anzudienen. Bereitwilligkeit zu Sex und Mitarbeit gegen Hilfe bei Abwendung der Strafe.

Katrin weiß, was sie anbieten kann. Und geht den Deal ein. Gepfefferte Betterlebnisse mit Wodanski eingeschlossen. Überhaupt geht es im ganzen Buch heftig zur Sache, kriegt man auch bald mit, dass Brüllinskis Problem wohl auch seine eigene Ehe ist, in der er keinen Stich mehr sieht.

Jede Menge Sex-Szenen, denkt man. Aber andererseits: Was denn sonst? Die jungen Männer wurden ja genau in der Zeit eingezogen, in der man normalerweise auf Brautschau ist und die Frau fürs Leben sucht, in Diskotheken abhängt, Mädchen zum Tanz auffordert und hofft, dass eines dabei ist, das wirklich mehr will als einen, der ihr die Drinks bezahlt. Die Kasernierung junger Männer hat ihren Preis. Und wir befinden uns ja auch noch in den letzten Jahren der DDR. Wer – wie Roy – nur ein bisschen aufmerksam um sich sah, wusste, dass der Laden nicht mehr lange funktionieren würde.

So jedenfalls nicht. Und nicht mit dieser Armee, die sich selbst einredete, sie könnte im Ernstfall die halbe BRD besetzen, aber ihren Soldaten und Unteroffizieren jede Würde austrieb. Wer nicht funktionierte und bereit war, nach unten zu treten, bekam – wie Roy – gewaltige Schwierigkeiten. Das widersprach so völlig dem Bild von Männlichkeit, das in der NVA gepflegt wurde.

Der Preis der Goldenen Töpfe

Und im Grunde fiebert man die ganze Zeit mit, ob Roy das durchhält oder am Ende doch noch körperlich zusammenbricht, weil er die Schikanen nicht mehr verkraftet. Die Geschichte mit Katrin, die sich nach zwei Jahren des Schweigens wieder bei ihm meldet, wirkt da wie ein Kontrapunkt. Nicht mal wie ein schönes Hoffnungsbild am Horizont, denn am Ende ist es ja der Deal mit Wodanski, der Katrin wieder Kontakt aufnehmen lässt.

Nur ist sie auch nicht wirklich der Typ, der den miesen Deal verschweigen könnte. Sie erzählt Roy alles, vielleicht ein bisschen geschönt und zurechtgebogen. Aber irgendwie hängt sie doch an diesem Roy, der anders als sein Kumpel Hagen nicht nur von Blume zu Blume flattert. Beide sind Berliner und haben gelernt, eine kesse Schnauze zu führen und dabei kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Mit der neugierigen und auch hilfsbereiten Nachbarin wird auch ein Stück jener Welt sichtbar, die es in der DDR auch gab: Das Zusammenhalten gegen „die da oben“, zusammengeschweißt in einer Mangelgesellschaft, in der man wusste, dass alles seinen Preis hat und dass man an die Goldenen Töpfe nur kam, wenn man sich verkaufte und andiente.

Im Grunde ist „No Record Release“ tatsächlich ein Gesellschaftsroman, wie ihn John McShultz untertitelt hat, auch wenn er nicht in die Sparte der „Buddenbrooks“ gehört. Aber McShultz beschreibt ein sehr typisches DDR-Milieu und damit die Funktionsweise eines Landes, in dem Misstrauen und Unterordnung staatlich organisiert waren und zwielichtigen Typen wie Wodanski unerhörte Handlungsvollmachten verschafften.

Und so viele Jahre später scheint für John McShultz der Zeitpunkt gekommen zu sein, sich den ganzen Frust einmal von der Seele zu schreiben, so detailreich, dass man meint, diese Albträume müssen ihn bis heute plagen. Denn es sind Albträume – jedenfalls für all die, die in ihrem „Ehrendienst“ nicht alle Skrupel und moralischen Prinzipien über Bord geworfen haben und sich menschlichen Anstand zu bewahren versuchten für die Zeit danach. Gerade sie waren ja die liebsten Opfer für Offiziere wie Brüllinski.

Ein erledigtes Kapitel deutscher Geschichte?

Und eigentlich hätte das Buch auch in einen größeren Verlag gehört. Wo es aber wohl nicht gepasst hätte zwischen all die ziselierte Bürgerlichkeit, die so gern für Buchpreise vorgeschlagen wird. Wer will schon wissen, wie sich die jungen Männer fühlten, die einst in der NVA dienten und den Tag herbeisehnten, an dem sie die Kaserne wieder verlassen konnten? Wen interessiert das Ostberliner Milieu dieser ruppigen 1980er Jahre? Ist das nicht aus Sicht westdeutscher Historiker längst abgearbeitet und erledigt?

Ist es nicht. Das merkt man bei John McShultz, der hier in einem teils deftigen Stil ein Stück jener Wirklichkeit beschreibt, die am Ende zwangsläufig zu den Ereignissen des Jahres 1989 führen musste. Auch wenn sein Liebespaar ganz und gar kein kämpferisches oder gar widerständiges ist. Aber das brauchte es auch gar nicht.

Der Frust auf die dogmatischen Funktionäre saß schon lange tief. Und Katrin und Roy erleben mehrmals, wie wenig es braucht, um mit einer ausgesprochenen Wahrheit anzuecken und die drakonische Bestrafung fürchten zu müssen, die die Gummiparagrafen des Landes jederzeit bereithielten.

Lernt man da die Klappe zu halten? Oder was passiert mit einem wirklich? Einem wie Roy, der sich ja freiwillig zu drei Jahren Wehrdienst verpflichtet hatte, um den Wünschen der Leute, die Studienplätze zu verteilen hatten, entgegenzukommen? Eine Verpflichtung, die sichtlich nicht genügte und jede Menge Raum schaffte für weitere kleine Machthaber, die ihrerseits den ihnen Untergeordneten klarmachten, wie die Macht in diesem seltsamen Land verteilt war und wie groß die Räume der Willkür.

Man erlebt im Grunde mit, wie sich die kleinen Machthaber in diesem Land vor aller Augen selbst aller Glaubwürdigkeit beraubten und jenes tief verwurzelte Misstrauen in den Staatsapparat schufen, das letztlich das ganze Land mit ihren sprachlosen Funktionären hinwegfegte.

Nur dass das bei McShultz nicht theoretisch daherkommt, sondern als eine lebendige Geschichte voller Emotionen, voller Wut, die in den Jahrzehnten seither nicht abgekühlt ist. Und einem Abschied, der eigentlich tragisch sein sollte, weil Katrin nach Westberlin geht. Aber das Schlimmste scheint ausgestanden, als Roy lebendig die Kaserne verlassen kann – und damit zumindest den Schikanen Brüllinskis entkommt.

John McShultz „No Record Release“, Screambyrd Record Press, Leipzig 2022, 10 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar