Ist das Christentum eigentlich eine Religion nur für Männer? Was sagt die Bibel dazu? Ist auch das Judentum nur eine Männerreligion, in der die trockenen Träume des alten Wüstenpatriarchats weiterleben? Manchmal hat man das Gefühl, nicht einmal die Priester lesen die Bibel noch. Oder haben je gelesen und verstanden, welche Geschichten da eigentlich erzählt werden. Geschichten, in denen jede Menge kluger Frauen vorkommen. Man staunt.

Obwohl Kenner der Reihe „Biblische Gestalten“ aus der Evangelischen Verlagsanstalt darüber gewiss nicht mehr staunen. Hier wurden schon einige dieser berühmten Frauengestalten aus dem Alten und dem Neuen Testament gewürdigt: Maria, Rut, Lydia und Berenike, Maria Magdalena.

Über 100 namentlich bekannte Frauen gibt es allein im Alten Testament, 39 im Neuen. Worüber sich Chaim Noll so gar nicht wundert. Schon mit seinem Buch „Die Wüste“ hat der studierte Mathematiker, der seit 1997 mit seiner Frau in der Wüste Negev lebt, gezeigt, wie umfassend man sich in so ein Thema einlesen kann, das seit 3.000 Jahren in der Literatur immer wieder thematisiert wird.

Kopflose Männer?

Und dass es in der Bibel eindrucksvolle Frauen gibt, wissen auch die meisten Leute. Sie gehören zum Kunst- und Literaturkanon der Welt – Eva, die Adam den Apfel reicht, Maria aus Magdala, Salomé, die für das Haupt Johannes des Täufers tanzt, Delila, die Samson das Haar abschneidet, Judith, die Holofernes gleich den Kopf abschneidet … Themen, über die sich auch ungläubige Literaten immer wieder gefreut haben, sind das doch herrliche Beispiele dafür, wie Frauen den Männern die Köpfe kosten. Oder etwa nicht?

Die Bibel also ein Findebuch für Lüstlinge, die sich von mörderischen Frauen antörnen lassen?

Hätten das nur die Autoren all dieser Texte geahnt.

Aber so wurden die Bücher der Bibel damals nicht geschrieben. Und auch nicht verstanden. Aber wie dann? Chaim Noll fängt ganz am Anfang an, da, wo aus männlicher Sicht immer alles klar war: Adam war nicht schuld am Sündenfall. Die Vertreibung aus dem Paradies geht auf Evas Kappe. In ihr – so liest man in tausenden Traktaten – ist schon alles gesagt über das sündige Wesen der Frau. Tatsächlich? Nichts davon hält dem genauen Lesen des Textes stand.

Erst recht nicht, wenn man – wie Noll – auf den hebräischen Urtext zurückgeht und das, was dort wirklich steht. Und auf einmal ist man mittendrin in einer Geisteswelt, die geradezu mit Erstaunen feststellt, dass es nicht nur (dominierende) Männer und (unterwürfige) Frauen gibt, sondern zwei Geschlechter, zwischen denen Spannendes passiert. Und die ohne einander nicht sein können.

Die Frau als Subjekt der Geschichte

Was aus Sicht einer von alten Männern dominierten Kirche wie eine für alle Zeit zu verdammende Verführung aussieht, ist die erzählte Urgeschichte einer spannenden Beziehung, in der Frauen meistens die vernünftigeren, klügeren, einfühlsameren Partner sind und gerade durch ihr Handeln Geschichte zum Positiven verändern, Geschlechter begründen, Heimaten finden, Kriege beenden und die Entstehung einer Gesellschaft ermöglichen, die in jenem kleinen Landstrich zwischen den Großreichen der Babylonier und der Ägypter ein Denken über Gesellschaft begründet, das heute geradezu modern anmutet.

Man kann auch sagen: Mit Eva tritt die Frau als handelndes Subjekt in die Geschichte ein – und Adam erweist sich zum ersten Mal als riesengroßer Feigling, der die Schuld auf die Frau abschiebt. So, wie das Männer bis heute nur zu gern machen: Die Frau hat sie verführt. Sie sind nicht schuld.

Wobei die Schuldfrage auch völlig anders zu interpretieren ist, als es Päpste und Bischöfe bis heute tun. Denn schuld sein heißt auch: Verantwortung übernehmen für das eigene Tun. Grundlage jeder freien Gesellschaft, in der Menschen Rechte und Pflichten haben. Wer seine Pflicht nicht kennt gegenüber dem anderen, ist auch nicht frei. Nur verantwortungslos.

Dass die Kirche bis heute von Sünde redet, ist also eine Fehlinterpretation. Eine sehr männliche. Denn je weiter sich Chaim Noll durch die biblischen Geschichten arbeitet, umso deutlicher wird, dass das so modern anmutende Denken auch in der Zeit der alten Stämme und der entstehenden beiden jüdischen Reiche immer wieder Rückschläge erlitt.

Das ist also auch nichts Neues, dass uraltes patriarchalisches Denken, das Frauen entwertet und geradezu zu einem Besitzgegenstand macht, sich immer wieder die Deutungshoheit verschafft. Denn das ist für machtgeile Männer immer das Einfachste. Wer sich – in Machtkämpfen – nur mit anderen polternden Männern herumprügeln muss, macht es sich leicht. Es ist ein Weltbild für Faulpelze, in dem Konfliktlösungen in der Regel in Gewalt und Krieg gefunden werden. Oder eben nicht.

Das Andere, ohne das wir nicht ganz sind

Man merkt schon: Es ist ein sehr aktuelles Buch. Lernen machtgierige Männer nichts dazu? Oder kommen sie an die Macht, weil diese Art Denken so billig, einfach und anstrengungslos ist?

Denn das ist eigentlich das Grundmotiv vieler biblischer Geschichten, wie Chaim Noll feststellt: Wie geht eine aufgeweckte Gesellschaft eigentlich damit um, dass da ein verstörend anderes andere neben einem lebt und sich auch noch zu Wort meldet? Gar von Gott ermuntert wird dazu, während so mancher biblische Held – von Abraham angefangen – zu hören bekommt: „Hör auf ihre Stimme!“ Hör also deiner Frau Sara zu, den sie weiß besser, was aus deine Taten folgt. Sie hat das bessere Gespür.

Wobei man auch nicht vergessen darf, dass „Gott“ in der Schöpfungsgeschichte und später ganz und gar nicht als der männliche alte Zausel attributiert ist, als der er in Gemälden bis heute dargestellt wird. Im Schöpfer aus der Genesis ist beides angelegt, der ganze so verstörende menschliche Dualismus. Und gleichzeitig die ganze Unfasslichkeit.

Sodass Adam genauso „nach seinem Bilde“ geschaffen wurde wie Eva. Und somit das Immer-Andere von Anfang an mitspielt und immer auch die Alternative, Probleme zu lösen.

Jede neue Geschichte, in der Frauen zu Handelnden werden, ist eine neue Geschichte über diese uralte Dualität. Und eine der zunehmenden Emanzipation, die man vielleicht noch nicht so nennen kann.

Aber immerhin geht es um einen Prozess, in dem aus völlig rechtlosen Frauen, die gänzlich der Willkür der Männer unterworfen waren, nach und nach Frauen wurden, die auch Rechte hatten, die erben durften, die Männern widersprechen konnten und das auch taten. Und die mutig einschritten, wenn ihre Männer versagten. Oder – wie in der Moses-Geschichte – jenen Widerstand organisierten, zu dem Männer nicht fähig waren, weil es ein friedlicher, stiller, weiblicher Widerstand war.

Die Alternative zu Blut und Gewalt

„Die Frau als Beschützerin, als Lebensbehüterin im Hintergrund, als Gewähr unseres Überlebens – das ist hier das Thema“, schreibt Noll. Und fragt sich mehrfach in dieser Reise durch die frühe jüdische Geschichte, ob man dieses Wahrnehmen der Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Handeln einfach verwischen darf, gar wegreden, als wäre weibliches Verhalten nur eine Erfindung der Männer und nicht der eigentlich wichtige und faszinierende Teil des Dualismus, der die Menschheit erst weitergebracht hat.

Und nach blutigen Zeitaltern auch immer wieder Phasen des Friedens ermöglichte, weil (regierende) Männer wieder auf Frauen hörten. Also dem anderen zuhörten, ohne das unser Überleben nicht möglich ist.

„Die elementare Verschiedenheit der Geschlechter wird in der Bibel nicht als Ungerechtigkeit verstanden, die durch Angleichung behoben werden müsse (wie von den militanten Feministinnen), auch nicht als Vorwand für eine Hierarchie von Höher- und Minderwertigen (wie von zahllosen Männern aller Zeiten), sondern als kreative Situation, als segensreicher Dualismus unseres Daseins“, schreibt Noll. („Der Segen unserer Verschiedenheit“)

Weshalb viele Geschichten in der Bibel von genau diesem (rettenden) Dualismus erzählen. Immer auch und gerade vor dem Hintergrund der mosaischen Gesetze, die gewaltbereite Männer immer wieder mit Füßen zu treten scheinen. Sodass Männer später in diesen Geschichten zuallererst das Rachsüchtige, Ausgrenzende, Gewalttätige lasen und diese Geschichten nicht als Gleichnisse verstanden, als Interpretationsangebot.

Und als Sinnbild dafür, wie sehr die Sache entgleist, wenn sich selbst die leuchtenden Helden der Geschichte von den Gesetzen abwenden.

Wenn sie quasi zurückfallen in die brutalen Gewohnheiten des alten Patriarchats und die Verachtung der Frauen und Schwachen. „Vieles von dem, was später als Errungenschaft und preiswürdiges Ergebnis langwieriger Bemühungen menschlicher Gesellschaften betrachtet wurde, ist im mosaischen Gesetz als Idee vorweggenommen“, schreibt Noll („Tora: Disziplinierungsmodell für ‚starke Männer‘“).

Alte und neue Patriarchen

Was man freilich nur sieht, wenn man die rechtliche Situation der Schwachen in der Gesellschaft vor Entstehung des Judentums kennt. „Mit einiger Sicherheit lässt sich daran, wie eine Gesellschaft, ein Volk, eine soziale Entität mit diesem Dualismus umzugehen versteht, der Grad ihrer Entwicklung ablesen“, stellt Noll fest.

„Unterdrückung und Entrechtung von Frauen bedeuten das Blockieren von mindestens fünfzig Prozent des kreativen Potentials einer Gesellschaft – also, wie leicht zu sehen ist, einen erheblichen Verlust.“

Weshalb alte Patriarchen dann Gesellschaften, die in diesem Sinn modern sind, nur zu gern als „verweichlicht“ verdammen und glauben, sie könnten sie einfach wieder mal mit Lüge und Gewalt besiegen. Aus demselben Topf patriarchaler Denkweisen entspringt auch die Verachtung für „Multikulti“.

Und natürlich die umfassende Verachtung rechtsradikaler Männer für Frauen in Führungspositionen, die sie dann mit dem ganzen Arsenal der verächtlichen Bezeichnungen aus der Klamottenkiste titulieren.

Auf einmal wirkt das, was Rebekka, Rut und Esther da anstellen, erstaunlich gegenwärtig und bekommt auch die Geschichte von „Jesus, dem Frauenfreund“, einen völlig neuen Dreh. Wobei er ja nicht nur die Frauen als gesellschaftlich Schwächere achten und respektieren lehrte, sondern auch all die anderen Schwachen und Entrechteten, auf die seine Lehre wie ein Magnet wirkte. Da sprach endlich einer mit ihnen und nicht nur über sie.

Auch so ein Blitzlicht in die Gegenwart, wo honorige Herren mit Macher-Gloriole genauso verächtlich über Frauen und Schwächere reden wie die Machos im alten Testament.

Veraltete Rezepte

Und auf einmal werden die mosaischen Gesetze zu etwas, was so ganz und gar nicht in die Interpretation machtbesessener Männer passt. Männer, die im Fall der eigenen Überforderung nur zu gewohnt sind, zur Gewalt zu greifen und Konflikte mit Ausgrenzung, Abschiebung und Kampf zu lösen. Was dann in der Regel zerstörte Städte, verwüstete Felder, versklavte und getötete Menschen zur Folge hat. Damals wie heute.

„Der Gesetzgeber betrachtet offenbar die Männer, die sich gemeinhin als ‚Starke‘ inszenieren, als die in Wahrheit Schwachen, von Versuchungen Angefochtenen, die durch stringente Gesetze diszipliniert werden müssen“, stellt Noll fest.

Und man stutzt und merkt auf einmal: Das sollte eigentlich auch für heutige Gesetze gelten. Sie sollten all jene schützen, die sich nicht mit Geld und Macht und Gewalt nehmen können, was sie wollen. Und nicht die Reichen und Mächtigen. Eine Botschaft, die ja bekanntlich zum Kern der Bergpredigt wurde. Wer die in seiner Bibel nicht findet, findet eine Übersicht dazu auf Wikipedia.

Noll macht deutlich, dass Jesus eben immer ein jüdischer Lehrer war, der nichts anderes einforderte als die Einhaltung der Gesetze. Jene Gesetze, welche die jüdischen und römischen Machthaber seiner Zeit mit Füßen traten. Und das beinhaltete zwangsläufig den Respekt vor den Schwächeren und vor der Frau. Denn was sich Abraham und seine Nachfolger von Gott sagen lassen mussten, gilt als Botschaft bis heute: „Höre auf ihre Stimme!“

Es gibt immer andere Optionen

Eine Stimme, die davon erzählt, dass es immer auch andere – friedlichere – Handlungsoptionen gibt. Und auch davon, dass mann sich auch korrigieren und dumme Schwüre aufheben kann. Etwas, wovon etliche der Geschichten gerade aus dem alten Testament erzählen, in denen sich sogar Gott erweichen lässt, weil „er“merkt: Hier kann „er“ nicht schon wieder dreinschlagen und die ganze Menschheit ersäufen.

Hier muss „er“ auch mal akzeptieren, dass seine Geschöpfe irren, Fehler machen, Dummheiten oder einfach loslatschen, um ihren Lieblingssohn zu opfern, nur weil „Gott“ das so befohlen hat.

Auf einmal wird die ganze verborgene Dialektik in den biblischen Geschichten deutlich, die den Dualismus Mann und Frau nicht einfach in eine Hierarchie presst, sondern als Bereicherung versteht, als unerhörte Möglichkeit, aus starrem Machtdenken herauszukommen und die ganze Gesellschaft anders zu denken, vollständiger und damit gerechter.

Ein sehr anregendes Buch, das Chaim Noll da geschrieben hat für alle, die die Bibel einmal mit mehr Aufmerksamkeit für die Rolle lesen wollen, die Frauen darin tatsächlich spielen.

Und ahnen, dass das Geschichten sind, die an ihrer Brisanz eigentlich nichts verloren haben.

Chaim Noll „Höre auf ihre Stimme. Die Bibel als Buch der Frauen“, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2023, 22 Euro.

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