Sachsen ist ja primatoll. Ganz spitze. Auch im "Chancenspiegel", den die Bertelsmann Stiftung am 11. März veröffentlichte, war Sachsen ganz vorneweg. Dumm nur, dass wieder mal der PISA-Vergleich von 2009 die meisten Punkte bringt und die Sache mit der Durchlässigkeit eher ein Armutszeugnis ist.

“Es wird zwar viel über Chancengerechtigkeit debattiert, aber als Diskussionsgrundlage fehlt bislang ein Ländervergleich, der auf Fakten beruht”, sagte Jörg Dräger, Mitglied des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung. Und meint, mit dem von der Bertelsmann Stiftung und dem Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der TU Dortmund gefundenen Instrumentarium könne das nun abgebildet werden.

Der bildungspolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Thomas Colditz, sah mal wieder die grandiose sächsische Schulpolitik bestätigt: “Das hervorragende Abschneiden von Sachsen, insbesondere in den Bereichen Durchlässigkeit und Kompetenzförderung zeigt erneut, dass wir ein faires und zugleich leistungsstarkes Bildungssystem haben. Neben der kontinuierlichen Schulpolitik ist das vor allem ein Verdienst der Lehrerinnen und Lehrer im Freistaat. Wenn Sachsen auch weiterhin in Deutschland und Europa zur Spitzengruppe der Bildungsländer gehören will, müssen wir die aktuellen und absehbaren Herausforderungen schnell lösen. Dazu gehören vor allem die Absicherung des Lehrerbedarfs und der weitere Ausbau der Inklusion an unseren Schulen.”

O. Da stutzte er nicht einmal. Die Bautzener Bildungsagentur hat für die Schulen in Ostsachsen gerade eine Notfallplanung veröffentlicht, weil mit den vorhandenen Lehrern nicht einmal der grundlegende Regelunterricht abgesichert werden kann. Und trotz lautem Tamtams um das im Dezember verkündete “Bildungspaket” hat die Staatsregierung bis heute kein Konzept vorgelegt, wie sie den schon bestehenden Lehrermangel beheben will – geschweige denn die kommende Verluste an Lehrpersonal kompensieren will.

“Die Studie zeigt außerdem, dass Bildungsentwicklung ein dynamischer Prozess ist. Wir müssen ständig am Ball bleiben, um gut zu bleiben. Die positive Bewertung unseres Schulsystems ist deshalb für mich nicht nur sehr erfreulich, sondern zugleich Ansporn und Motivation”, trötet Colditz. Solche Töne hört man in der Regel aus Fußballvereinen, die gerade auf den Abstiegsrängen spielen.

Und woanders würde man Sachsen auch nicht finden, wenn man – anders als Bertelsmann Stiftung und IFS – tatsächlich die realen Fakten vergleichen würde. Der PISA-Test von 2009, den sie zum Vergleich der “Kompetenzförderung” nutzen, ist jetzt drei Jahre her. Was der nächste bringt, weiß noch niemand. Und welche materiellen Ressourcen dahinter stehen – von der Ausstattung mit Lehrern bis hin zur besonderen Kompetenzvermittlung durch fakultative Angebote – steht nichts in diesem neuen Ländervergleich.

“Der aktuelle Bericht der Bertelsmann Stiftung zur Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem ist für Sachsen kein Grund zum Jubeln: Sachsen entlässt viel zu viele Schülerinnen und Schüler in die Perspektivlosigkeit”, stellt denn auch Dr. Eva-Maria Stange, bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, zu diesem Thema fest. “Während im deutschlandweiten Vergleich etwa sieben Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss verlassen, sind es in Sachsen mehr als zehn Prozent. Die besten Länder weisen nur einen Anteil von gut 6 Prozent von Abgängern ohne Hauptschulabschluss auf. Bei uns sind es fast doppelt so viele. Ein Grund dafür ist nicht zuletzt der Umstand, dass in Sachsen fast doppelt so viele Schüler an eine Förderschule abgeschoben werden wie im Westen. Und fast die Hälfte aller Schulabgänger ohne Abschluss stammt aus einer Förderschule.”

Mit Bildungsgerechtigkeit habe das nichts zu tun. “Staatsminister Wöller hat also keinen Grund, sich auf scheinbaren Lorbeeren auszuruhen. Ganz im Gegenteil: Sachsen hat noch viel zu tun, um gerechte Chancen für unsere Kinder und Jugendlichen zu schaffen”, so Stange. “Anstatt Kinder schon früh auszusortieren und ihnen damit Zukunftschancen zu verbauen, müssen sie früher und intensiver gefördert werden – u.a. in kleineren Kita- und Grundschulgruppen und mit Hilfe von Schulsozialarbeitern. Somit werden wir mehr Kinder und Jugendliche in Sachsen zu einem Abschluss führen und ihnen größere Bildungschancen ermöglichen.”Der PISA-Vergleich zeigt immer nur, was in den davor liegenden neun Jahren erreicht wurde. Da profitierte Sachsen tatsächlich noch von einer guten Ausstattung mit Lehrern. Viele waren in Teilzeitverträgen gebunden und die Zahl der Lehrer wurde auf diese Weise deutlich langsamer gesenkt als die Zahl der Schulen. Doch mittlerweile ist auch bei der Zahl der Schulabgänger die Talsohle überschritten. Seit zwei Jahren steigen die Schülerzahlen wieder. Doch jetzt gehen verstärkt jene Lehrerjahrgänge in Ruhestand, die nach 1990 das Kompetenzniveau in Sachsen garantiert haben – und die Lehramtsausbildung in Sachsen ist dem seit 2009 steigenden Bedarf an jungen Lehrern noch immer nicht angepasst.

Ganz zu schweigen davon, dass Sachsen bei Inklusion und Chancengerechtigkeit tatsächlich seit Jahren hinterherhinkt. Und die Verschärfung der “Bildungsempfehlung” hat das Ganze noch verschlimmert. Die Bertelsmann-Studie geht noch davon aus, dass die Chance eines Kindes aus oberen Sozialschichten, das Gymnasium zu besuchen, in Sachsen 2,8 mal höher als die eines Kindes aus unteren Sozialschichten (Bundesdurchschnitt: Faktor 4,5) ist. Für ein Land, in dem die sozialen Unterschiede nicht so stark sind wie etwa in Baden-Württemberg oder Hamburg, ist das ein miserabler Wert. Aber auch die von der Stadt Leipzig vorgelegte Studie “Jugend in Leipzig” hat ja deutlich gezeigt, wie sehr der Bildungserfolg der Kinder vom Geldbeutel der Eltern abhängt.

Mit der verschärften “Bildungsempfehlung” ist der Anteil der Kinder, die eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen, von 44 auf 40 Prozent gesunken. Und danach sind die Chancen, von der Mittelschule doch noch den Sprung aufs Gymnasium zu schaffen, auch noch wesentlich schlechter als in anderen Bundesländern. “Einem Aufwärts- stehen 11,2 Abwärtswechsel gegenüber”, stellt die Bertelsmann-Studie fest. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 1:4,3. Damit landet Sachsen im Vergleich hier in der unteren Gruppe.

In aller Stille hat die sächsische Regierung mehrere Mechanismen ins sächsische Schulsystem eingebaut, die den Elite-Gedanken verstärken, Bildungschancen aber nachhaltig minimieren. Dass Sachsen in Sachen “Durchlässigkeit” trotzdem in die Spitzengruppe gesetzt wurde, hängt auch mit einem anderen wunden Punkt zusammen: “52,4 Prozent aller Schüler, die maximal einen Hauptschulabschluss hatten, erhalten einen Ausbildungsplatz im Dualen System (Bundesdurchschnitt: 41,5 Prozent).” “Spitzengruppe”, meint Bertelsmann. Und blendet völlig aus, dass diese Zahl in Sachsen so hoch ist, weil – zumindest bis vor Kurzem – das Angebot an Lehrstellen hinten und vorn nichts ausreichte. Das hat sich seit 2010 schon deutlich geändert. Und zwar für die jungen Leute zum Positiven, weil immer mehr Unternehmen jetzt gezwungen sind, auch Hauptschüler auszubilden.

Viel erstaunlicher ist, dass Sachsen bei “Integrationskraft” von den Dortmunder Spezialisten in die “Mittlere Gruppe” sortiert wurde. Der Punkt ist ein Mix – aus einer erbärmlich hohen Aussortierquote von 6,8 Prozent der Schüler, die auf Förderschulen geschickt werden (Bundesdurchschnitt 5 %) und aus 72,7 Prozent Ganztagsschul-Betreuung. Ein Punkt, den sich Sachsens Kultusminister eigentlich nicht auf die Fahnen schreiben kann, denn hier kommt das traditionell gut ausgebaute Hortsystem der Kommunen zum Tragen.

Und bei der “Zertifikatsvergabe”, da, wo es tatsächlich um die Ergebnisse der Chancen oder Nicht-Chancen geht, schmiert Sachsen gänzlich ab. Nur 43,2 Prozent der jungen Erwachsenen erreichen die Hochschulreife. Im Bundesdurchschnitt sind es längst 46,4 Prozent. Und: Der Anteil der Schulabgänger ohne Schulabschluss liegt bei sagenhaft miesen 11,2 Prozent (Bundesdurchschnitt: 7,0 Prozent).

Es ist wie so oft: Hinter dem ganzen schönen Zahlenwerk steckt eine traurige Bilanz. An den Ergebnissen muss sich ein Schulsystem messen lassen. Da wird sichtbar, wieviel Chancengleichheit tatsächlich drin steckt.

Und von Chancengleichheit entfernt sich das sächsische Bildungssystem immer mehr.

www.chancen-spiegel.de

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